Tierfriedhof

Auf dem Tierfriedhof

Gedanken zum Verhältnis von Mensch und Tier mit Bezug auf die Lehre des Buddha und Arthur Schopenhauers Philosophie

von Herbert Becker , Berlin

Herbert Becker : Tierfriedhof

Tierfriedhof am Kernberg in Buseck

Zunächst eine Vorbemerkung: Nachstehender Beitrag ist die veränderte Fassung eines Artikels, den ich, damals Vorstandsmitglied der Buddhistischen Gesellschaft Berlin, in YANA - Zeitschrift für Buddhismus und religiöse Kultur auf buddhistischer Grundlage - Jg. 1982 / Heft 6 veröffentlichte. Der dort genannte Tierfriedhof in Berlin-Lankwitz wurde inzwischen nach Berlin-Falkenberg verlegt, wohin der Berliner Tierschutzverein mit seinem Tierheim und dem ihm angeschlossenen Tierfriedhof umgezogen war. Die nachstehenden Gedanken zum Verhältnis von Mensch und Tier haben jedoch seitdem nichts von ihrer Aktualität verloren:

Im Süden von Berlin befindet sich eines der größten, wahrscheinlich sogar das größte Tierheim in Europa. Es ist das Tierheim Lankwitz und gehört dem hiesigen Tierschutzverein.

Bevor der Besucher die Gebäude betritt, führt ihn der Weg durch eine parkartige Anlage, die schon Teil des Tierheimes ist - der Tierfriedhof. Links und rechts des Weges erstrecken sich in Reihen geordnet die Tiergräber. Viele von ihnen sind sorgfältig geschmückt. Manche werden schon seit mehr als einem Jahrzehnt liebevoll gepflegt. Es sind nicht nur ältere, sondern auch viele Menschen jüngeren und mittleren Alters zu sehen, die an den Gräbern arbeiten.

Liebe und Freude bis zur letzten Stunde,

Mein ganzes Glück,

Deine Treue bleibt unvergessen,

Hab´ Dank für 20 Jahre Sonnenschein und Liebe

- so oder ähnlich lauten die Aufschriften auf vielen Steinen, Tafeln und anderen teilweise recht aufwendigen Monumenten.

Zu unserer Freude warst du stets bereit, doch später kam das große Leid

- eine Erfahrung, die fast jeder früher oder später machen muss, der längere Zeit mit Haustieren zusammenlebt.

Einige Aufschriften sind überaus gefühlsbetont, denn hier konnte das Empfinden, der tiefe Schmerz durch den Verlust des geliebten Freundes, des oft letzten Lebensgefährten, unbeschränkt zum Ausdruck gebracht werden. Hier musste nicht Rücksicht genommen werden auf die Meinung anderer Menschen, auf das, was die gesellschaftliche Konvention für angebracht hält.

Aber nicht nur große Trauer, auch tiefe Verbitterung und Enttäuschung spricht aus manchen Nachrufen;

Du warst uns im Sturme immer treu geblieben, der Mensch nicht mal im Winde" oder "Der Mensch versagte, Du bliebst Kamerad.

Bei einigen Aufschriften wurde vor dem Todesdatum ein Kreuz gesetzt. Sonst ist jedoch an keiner Stelle ein Kreuz zu bemerken. Das ist nicht zufällig. Wird doch hieran symbolhaft deutlich, wie absolut und unüberwindbar die Grenze ist, die nach christlichem Glaubensverständnis Mensch und Tier noch im Tod voneinander trennen. Welch' ein Unterschied zum Buddhismus, der im Tier den Leidensgefährten, den Bruder des Menschen sieht und für den Mensch und Tier durch Karma und Wiederverkörperung zu einer untrennbaren Schicksalsgemeinschaft verbunden sind.

Alles auf diesem Friedhof erinnert an die Vergänglichkeit und mahnt zur Besinnung. So waren Friedhöfe schon zur Zeit des Buddha besonders geeignete Stätten der Meditation.

Auf dem Hauptweg, der durch den Friedhof verläuft, ist lebhaftes Kommen und Gehen. Der Strom von Besuchern des Tierheimes scheint kein Ende zu nehmen. Die meisten von ihnen bringen Tiere in das Heim oder holen sie von dort. Manche Tiere werden in einem unbeschreiblichen Zustand aufgefunden und von mitleidigen Menschen in das Heim gebracht, wo sie nur noch durch Einschläferung von ihrem entsetzlichen Leiden erlöst werden können.

Verständlich, dass man im Tierheim und auf dem anliegenden Tierfriedhof oft Menschen begegnet, die weinen oder nur mühsam ihre Tränen verbergen. Leid und Mitleid - Schlüssel zum Verständnis der Buddha-Lehre - hier sind sie keine theoretischen Begriffe, sondern lebendige Wirklichkeit!

Viele Tiere werden von ihren früheren Besitzern nicht wieder abgeholt, und es finden sich zu wenig Tierfreunde, die bereit und in der Lage sind, ihnen ein angemessenes neues Zuhause zu bieten. Würde das Heim allen Tieren zeitlich unbegrenzt Obdach gewähren, es müsste sehr bald wegen Überfüllung schließen. In dieser furchtbaren Zwangslage, die zu einem unausweichlichlichen Gewissenskonflikt führt, gibt es wohl, wie mache meinen, nur eine Lösung, um weitaus Schlimmeres zu verhindern: die schmerzlose Tötung.

Wer das als Verstoß gegen die buddhistische Ethik verurteilt, möge zunächst prüfen, ob er seinerseits alles ihm mögliche getan hat, um dem Tierheim über schöne Worte hinaus auch durch Taten zu helfen. Jeder, der sich vor allem während der Urlaubszeit dort umsieht, kann sich davon überzeugen, wie notwendig seine Hilfe ist.

Auch die Zeit nach dem Weihnachtsfest wird im Tierheim besonders gefürchtet. Es ist erschütternd, wie viele Tiere nach dem "Fest der Liebe" oft unter grauenhaften Umständen verstoßen, als lästige "Sache" nicht selten sogar in den Müll geworfen werden.

Auf einer Bank vor dem Tierfriedhof sitzt eine Frau. In ihren Armen hält sie einen Zwerghasen, den sie wohl in das Tierheim bringen will. Die großen Augen des Tieres blicken scheinbar ausdruckslos auf die Umgebung. Wer jedoch das Tier genauer, gleichsam meditativ Auge in Auge betrachtet, wird darin mehr sehen und erkennen. Ist es die ewige Flamme, von der Arthur Schopenhauer schrieb, dass sie aus den Augen aller Tiere hervorleuchtet ?

Vielleicht war es auch eine solche Anschauung, die Schopenhauer zu der Erkenntnis führte:

Der Mensch ist etwas anderes als ein belebtes Nichts: - und das TIER AUCH. Wer da meint, sein Dasein sei auf sein jetziges Leben beschränkt, hält sich für ein belebtes Nichts: denn vor dreißig Jahren war er nichts und über dreißig Jahre ist er wieder nichts.

Wenn aber nach Auffassung Schopenhauers der Mensch und auch das Tier etwas anderes ist als ein belebtes Nichts, was ist dann jenes andere ?

Es ist nicht so und nicht so (neti, neti), war die Antwort der Weisen im alten Indien auf die Frage nach dem Unbeschreibbaren, das jenseits aller Worte und Begriffe liegt.

Der Buddha antwortete auf "letzte Fragen" stets mit Schweigen. Er wies jedoch den Weg, den Edlen Achtfachen Pfad, auf dem jeder von uns die Antwort aus eigener Erkenntnis finden kann.

Auch die, deren vergängliche Reste auf diesem Friedhof liegen, müssen ihren Weg durch das Dasein fortsetzen. Aber wie weit und beschwerlich der Weg noch sein mag, für alle Wesen ist das Tor zur Befreiung geöffnet, sie alle können das letzte Ziel - Nirwana - erreichen, denn das ist die Botschaft des Buddha!

Nun noch ein persönliches Wort: Alle diese Gedanken kamen mir in den Sinn, als ich an den Gräbern verstorbener Tiere stand. Hierbei empfand ich gerade den Tierfriedhof als einen Ort tiefer Verbundenheit von Mensch und Tier, wie sie auch in der Lehre des Buddha und der Philosophie Schopenhauers oftmals hervorgehoben wird. Vor allem denke ich - wie immer wenn ich mich verstorbener Menschen oder Tiere erinnere - an Arthur Schopenhauers trostvolle Worte:

Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu sein aufhört; ebenso scheinbar vergeht Mensch und Tier durch den Tod, und ebenso ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Infolge dessen ist, trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemut ausrufen:

´Trotz Zeit, Tod und Verwesung sind wir noch alle beisammen.

( Arthur Schopenhauer , Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 41: Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich.)

H.B.

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zu Schopenhauers Philosophie
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