I.
Seit 4. Juli 2002 verbreitet die US-Armee über das Internet zum Zweck der Werbung und Rekrutierung von Nachwuchs das Computerspiel "America's Army: Operations 'Recon "' (www.americasarmy.com).
Die Verbreitung des Spieles, das kurz nach seiner Veröffentlichung 750.000 Anfragen pro Sekunde verzeichnete (FAZ vom 30.8.2002), stieß in Deutschland auf ein erhebliches Medieninteresse. Alsbald erhoben sich jedoch kritische Stimmen, die das Spiel als sogenanntes Ego-Shooter-Spiel einstuften und es als jugendgefährdend im Sinne des GjSM bewerteten. Zum Sach- und Streitstand wird auf den Artikel "Kinderhilfswerk warnt vor Computerspiel der US-Army. Kriegsbegeisterung aus dem Internet" im Sonntagsblatt, Evangelische Wochenzeitung für Bayern vom 18.8.2002 Bezug genommen.
"Das Deutsche Kinderhilfswerk (Berlin) hat vor dem Computerspiel "America's Army: Operations 'Recon '11 gewarnt. Das Spiel, das kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden kann, sei eine Propagandasoftware der US-Armee und tauche hier zu Lande immer häufiger auch als Beilage in Computer- und Jugendmagazinen auf, heißt es in einer Mitteilung des Hilfswerks.
In den einschlägigen Spiele-Foren wird "America's Army", das seit dem 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag erhältlich ist, bereits als "das geilste Spiel im Ego-Shooter-Bereich" gefeiert. "Ego-Shooter" bedeutet, daß ein Spieler aus eigener Perspektive schießt und das Spielgeschehen ganz realistisch wie mit eigenen Augen sieht. Mancher findet "Grafik und Explosionen viel besser als in Counter Strike". "Ego-Shooter" und Spiele wie "Counter Strike" sind in jüngster Zeit durch den Amok laufenden Schüler in Erfurt ins Gerede gekommen.
Den Erfolg des Spiels belegt unter anderem, daß schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung mehr als 30.000 Benutzer im Forum auf der Internetseite des Spiels, www.americasarmy.com, registriert sind. Ziel von "America's Army" ist es, Kinder und Jugendliche in den USA für einen späteren Job in der amerikanischen Berufsarmee zu begeistern oder in anderen Ländern zu einer positiveren Haltung gegenüber US-Kriegseinsätzen zu bewegen. So findet sich auf der Internetseite des Spiels unter den "häufig gestellten Fragen" auch die Antwort darauf, ob man auch als Nicht-Amerikaner das Spiel spielen dürfe: "Ja! Wir wollen, daß die ganze Welt weiß, wie großartig die US-Armee ist."
Nach Ansicht des Kinderhilfswerks verharmlost das Spiel den Krieg und seine Folgen "auf geradezu zynische Art und Weise". Anders als bei herkömmlichen Spielen müsse der Spieler vor Beginn eine Einführung in Form einer militärischen Grundausbildung durchlaufen. Erst danach dürfe er als US-Soldat an Antiterror- und Kriegseinsätzen teilnehmen, die in ihren dreidimensionalen Umgebungen an Afghanistan, Jugoslawien oder von Terroranschlägen betroffene westliche Städte erinnerten.
Kriegsspiele gehörten nicht ins Kinderzimmer, unterstrich das Hilfswerk. Die Bundesregierung solle darauf drängen, daß die Server für Spieler anderer Länder nur über eine Altersprüfung offen sind. Das sei technisch kein Problem."
II.
Seit dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt, der sich bekanntlich mit Hilfe von Ego-Shooter-Spielen für seine Tat trainiert hat, werden die Auswirkungen dieser Spiele auf das Verhalten und die Persönlichkeit von Spielern kontrovers diskutiert.
Unter Medienwissenschaftlern und Spieletheoretikern besteht jedoch über die Grundlagen der Wirkungsweise derartiger Spiele weitgehend Einigkeit. Diese Spiele gehören zu den sogenannten strategischen oder agonistischen Spielen, bei denen der Geschicktere, d. h. der bessere Taktiker und Stratege gewinnt. Wie von allen Strategiespielen geht von den Ego-Shooter-Spielen eine besondere intellektuelle Faszination aus, die darin begründet liegt,
1. im Spiel seine Geschicklichkeit erproben zu können (Selbsterprobungseffekt),
2. durch die wiederholte Erprobung des Spiels seine Geschicklichkeit zu optimieren (Selbstoptimierungseffekt),
3. der stärkste Spieler zu werden, der alle anderen schlägt (Winner- Effekt).
Gegenüber einem Strategie-Spiel wie Schach kann ein Ego-Shooter-Spiel über die normale Nervenanspannung (Thrill) hinaus auch die emotionale Seite des Spielers in besonderer Weise ansprechen, wenn die Ausschaltung des Spielgegners durch einen gelungenen Schuß ein Befriedigungsgefühl weckt, das im Rahmen einer humanistischen Moral negativ bewertet wird: Ego-Shooter-Spieler können im Spiel ihre "Schadenfreude", ihren "Killerinstinkt", ihre "Zerstörungslust", kurz ihre gesamte Aggressivität ausleben. Streit besteht darüber, ob dies die Aggressivität eines Spielers abbaut (kathartischer Effekt) oder die Aggressivität durch systematischen Abbau der Tötungshemmung steigert (Erziehung zum gefühllosen Schläger oder "Töter"). Da bei häufigem Spielen sich bei manchen Personen eine Spielsucht (more and more-Effekt) entwickeln kann, tendiert heute die überwiegende Meinung dahin, daß durch häufiges Ego-Shooter-Spielen sowohl Kampftechnik wie Kampfbereitschaft sich in ähnlicher Weise habitualisieren, wie dies in früheren Kriegerkasten der Fall war, die ihre Aggressivität und Kampfeskraft permanent in Kampfspielen trainiert haben. Die wachsende Brutalisierung der Kämpfe männlicher Jugendlicher, die heute von Kriminologen mit Besorgnis festgestellt wird, dürfte auf den Gebrauch destruktiver Computerspiele, aber auch gewaltverherrlichender Medien zurückzuführen sein. Die dort gezeigten "erfolgreichen" Verhaltensweisen zum Ausschalten von Gegnern werden imitiert.
Besonders problematisch sind Ego-Shooter-Spiele dann, wenn sie dazu dienen, den Ernstfall zu simulieren, wie dies im Ego-Shooter-Spiel "America's Army" geschieht. Interaktive Virtualität und Realität vermischen sich hier untrennbar; der Spieler wird im wahrsten Sinne des Wortes auf militärische Kampftechniken, d. h. auf das effizienteste Ausschalten des Feindes (= Töten) durch programmiertes Lernen gedrillt, d. h. programmiert.
Da Ego-Shooter-Spiele in der Regel Notwehrsituationen simulieren, bei denen der Spieler, um selbst zu "überleben", als erster angreifen muß, wird die Gewissensfrage: Ist es mir erlaubt, einen Menschen zu töten bzw. mich auf das Töten von Menschen zu drillen? systematisch ausgeblendet. Ego-ShooterSpiele kennen daher keine die Spieler und Gegenspieler verbindende Moral und Fairness. In ihnen gilt allein das sozialdarwinistische Prinzip des Fressens oder Gefressenwerdens (= Survival of the fittest). Selbst überzeugte Pazifisten sollen beim Ausprobieren von Ego-Shooter-Spielen dem Sog, d. h. der manipulativen Zug-Drucktechnik des interaktiven Spielgeschehens, das zum Mitmachen anreizt, rasch erlegen sein.
Besonders problematisch ist es, daß das sozialdarwinistische Prinzip des Überlebens des Stärkeren neuerdings auf der Grundlage der mathematischen Spieltheorie und -technologie mit Hilfe des Computers perfekt modelliert werden kann (Cyberdarwinismus). Die mathematische Spieltheorie untersucht mit mathematischen Methoden das Verhalten miteinander konkurrierender Systeme, analysiert die Voraussetzungen für Sieg und Niederlage dieser Systeme mit Hilfe mathematischer Regeln (= Algorithmen) und entwickelt Computerprogramme, die sich strategisch verhalten. Es ist heute möglich, taktisches und strategisches Handeln von Menschen auf dem Computer so zu simulieren, daß das Computerprogramm zu einem Gegenspieler wird, der von einem menschlichen Strategen (Kämpfer) nicht mehr unterschieden werden kann, diesen sogar übertrifft (Combat modelling, Cyberwar). Die Ego-Shooter-Spiele sind Beispiele für diese höchst bedenkliche Entwicklung der Computertechnologie.
Auf einem Kongress von Mathematikern, Militärhistorikern und Informatikern im schwedischen Karlskrona warnte der dänischdeutsche Mathematiker Bernhelm Booß-Bavnbek vor dem Mißbrauch strategischer Computerprogramme unlängst wie folgt: "Das in dominierenden Teilen der Öffentlichkeit von Journalisten, Populärwissenschaft, wohlmeinenden Mathematiklehrern und Computerfreaks kultivierte Anhimmeln mathematischer Planung etwa (= Survival of the fittest). Selbst überzeugte Pazifisten sollen beim Ausprobieren von Ego-Shooter-Spielen dem Sog, d. h. der manipulativen Zug-Drucktechnik des interaktiven Spielgeschehens, das zum Mitmachen anreizt, rasch erlegen sein.
Für den Mathematiker Philip Davis ist der Bereich Computersimulation noch problematischer. Wenn zwischen den immer besser werdenden Kriegssimulationen des Militärs und den Kriegsspielen der Unterhaltungsindustrie nicht mehr unterschieden werden könne, so Davis, fliege Mickymaus bald den Tarnkappenbomber. Unterhaltung und Krieg wüchsen zusammen, und die Mathematik mit ihren Algorithmen zur Perfektionierung von Simulationen und Computerspielen liefere das nötige Rüstzeug. Die Verschmelzung beider Bereiche könne so gut gelingen, daß ein Kampf zwischen Robotern oder eine Computersimulation den bisherigen Krieg ablösen könne. Diese Mixtur aus Unterhaltung und Krieg, so Davis, sei so explosiv, daß sie das soziale Feld zerstören könne: Menschen, die nur noch in den Korridoren von Counterstrike denken können, hätten damit die Kultur selbst abgeschafft - mit Hilfe der Mathematik.
III.
Datenträger mit dem Spiel "America's Army“ sollten deshalb, wie es das Deutsche Kinderhilfswerk (Berlin) vorgeschlagen hat, daraufhin untersucht werden, ob sie geeignet sind, Kinder oder Jugendliche wegen etwaiger den Krieg verherrlichender Ausrichtung sittlich zu gefährden.
Im Hinblick darauf, daß in dem Spiel amerikanische Soldaten im Kampf gegen Terroristen bzw. "Schurkenstaaten" gezeigt werden, wird voraussichtlich die Bewertung negativ ausfallen, obwohl durch das Spiel Kinder, Jugendliche, aber auch labile Erwachsene destruktive Fähigkeiten erwerben können.
Die Verbreitung des Spieles sollte Anlaß für den Gesetzgeber sein, die Herstellung und Verbreitung interaktionsfähiger Datenträger, mit deren Hilfe destruktive Fähigkeiten (z. B. Töten, Foltern, Vergewaltigen ect.) im Wege des programmierten Lernens erworben werden können, unter Strafe zu stellen. Die kybernetische Lehr- und Lernforschung kann heute präzise erklären, wie mittels sogenannter Lehralgorithmen computerunterstützt nahezu jede Verhaltensweise im Wege des programmierten Lehrens und Lernens dem "Lerner" angedrillt werden kann. Die Ergebnisse dieser Forschung werden heute in Lernlabors bei der militärischen Ausbildung, bei der Pilotenschulung, beim Sprachunterricht, im computerbasierten Fernunterricht u.s.f. mit großem Erfolg angewendet. Es wird hierbei jedoch noch allgemein übersehen, daß diese neuartige Lerntechnologie auch zu destruktiven Zwecken mißbraucht werden kann. Den Gefahren, die der Gesellschaft, vor allem der Jugend durch destruktive Computerprogramme drohen, hat der Staat derzeit nichts entgegenzusetzen, da die Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsweise des computerbasierten programmierten Lernens entweder nicht bekannt sind oder, soweit sie bekannt sind, unterschätzt werden.
Die heute geübte staatliche Praxis, Schriften und Datenträger hauptsächlich mittels hermeneutischer Methoden, d. h. durch eine Sinnermittlung der Zeichen und Bilder auf gewaltverherrlichende oder jugendgefährdende Inhalte zu überprüfen (§ 131 StGB, § 1 GjSM), kann den Gefahren des computerunterstützten interaktiven Lernens von Gewaltbereitschaft und anderer destruktiver Fähigkeiten derzeit nicht begegnen.
Da Computerprogramme von ihren Besitzern beliebig oft benutzt und bei ihrer Anwendung früher gemachte Fehler systematisch ausgemerzt werden können, ist bei computerbasiertem Lernen der Selbstoptimierungseffekt besonders groß. Bei der Verwendung destruktiver Programme können daher auch moralische Grundsätze schrittweise abgebaut und durch die im Computerlernspiel erlernten destruktiven Verhaltensweisen ersetzt werden.