Am 17. Juli 1990 rief der US-Präsident George H. W. Bush sen. die Dekade des Gehirns aus. Dies rückte die bis dahin von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Neurowissenschaften schlagartig weltweit in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses. Dass damit auch ein radikaler Paradigmenwechsel von dem bis dahin von Seele und Geist bestimmten Menschenbild hin zu einem von der Biologie dominierten propagiert worden ist, wurde von der Öffentlichkeit bis heute kaum realisiert. Eine nicht verebbende Flut von wissenschaftlichen bis hin zu populärwissenschaftlichen Publikationen, die nicht selten die Ergebnisse der seriösen Neuroforschung marktschreierisch übertreiben und auch verfälscht darstellen, dokumentiert das andauernde große Interesse an den Ergebnissen der Neuroforschung. Nicht zu Unrecht bezeichnete der damalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Wolfgang Frühwald im Jahr 1997 die Neurowissenschaften als »Leitwissenschaft«.
Ausgangspunkt der modernen Hirnforschung ist die durch Scan-Messtechnik (Hirnscan) erfasste Hirnaktivität (neuraler Prozess). Dies geschieht entweder elektrophysiologisch mittels EEG oder EKP oder mittels bildgebender Verfahren (Neuro-Imaging)1, die die pulsierende Dynamik der dreidimensional und mehrfarbig sichtbar gemachten Hirnaktivität abbilden. Je nach Verhalten der getesteten Person verändert sich diese in gesetzmäßiger Weise. Unser gesamtes Verhalten ist demnach mit der Hirnaktivität korreliert, die jenes steuert. An welchen Stellen im Gehirn welches Verhalten gesteuert wird, ist genauestens erforscht. Hiernach sind u. a. körperlicher Schmerz, aber auch körperliche Lust Hirnereignisse2. Besonderes Interesse erregen jedoch die Hirnbilder, die beim gezielten Gebrauch unserer kognitiven Fähigkeiten (sinnliches Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Urteilen, Lernen, Denken, Erinnern, Sprechen), aber auch bei unserem vom Willen getragenen durch Gefühl und / oder Kalkül bestimmten Bewerten und Entscheiden entstehen. Alle diese kognitiven Prozesse, mit deren Hilfe wir unser tägliches Leben und Überleben bewältigen, nennen wir im Gegensatz zu den mit Hirnscan-Technologie festgestellten biologischen Prozessen geistig bzw. mental. Aber auch unserem Selbst (Ich), das nach unserer täglichen (phänomenalen) Lebenserfahrung Herr über diese geistigen Prozesse ist, ohne dass wir hierbei die Einwirkung eines neuralen Prozesses verspüren, spricht die Neuroforschung einen neuronalen Status zu. Unser Bewusstsein ist gemäß den Ergebnissen der Hirnscans von unserem Gehirn erzeugt.
Ungeachtet des immer noch – trotz der Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften – andauernden Theoriestreits über das Leib-Seele-Problem gibt es nach naturwissenschaftlicher, von den Neurowissenschaften gestützter Betrachtungsweise heute keinen vernünftigen Zweifel mehr daran, dass alle mentalen Erscheinungen, seien sie bewusst oder unbewusst, Derivate von Nerven- oder Gehirnvorgängen und nicht etwa einer immateriellen Seele sind. Dementsprechend hat sich auch die Terminologie geändert. Es ist heute allgemein üblich, nicht mehr vom Leib-Seele- sondern vom Körper-Geist-Problem zu sprechen. Da bis heute im Hirn weder ein allgemeiner Monitor noch eine allgemeine Kommandozentrale für die Koordination aller Teilfunktionen (Module) der Hirnaktivität gefunden worden ist – der Neuroforscher Wolf Singer spricht deshalb metaphorisch vom »Gehirn als Orchester ohne Dirigent« –, besteht Streit, wie die Einheit unseres Selbst letztendlich zustande kommt (sog. Bindungsproblem).
Biotechnische Naturalisten, für die das Mentale lediglich eine von unserem Signale verarbeitenden Gehirn erzeugte Illusion ist, führen die Einheit auf das synchrone Feuern der Neuronen zurück, während Selbstkonstruktivisten das Selbst als emergente Eigenschaft des Gesamtnetzwerkes Gehirn einschließlich des Körpers postulieren, die jedem Verhalten des Organismus mit sich und der Außenwelt im Lebensprozess immer vorausgehen soll. Ein Vorzug der letzten Theorie ist es, dass sie mit der transzendentalen Erklärung des Selbstbewusstseins durch Kant vereinbar ist. Sie ist damit anschlussfähig an den philosophischen Diskurs3.
Der Wechsel des Blickwinkels, bei der Erklärung des Wesens des Menschen nicht mehr den Geist, sondern das Gehirn und dessen mittels Hirnscan-Technologie vorübergehende oder bleibende messbare Veränderung im und durch den Lebensprozess zum Ausgangspunkt einer Persönlichkeitsanalyse und Zukunftsprognose zu machen, fand im Zuge der schleichenden Biologisierung unserer Gesellschaft und der damit Hand in Hand gehenden Rezeption der Ergebnisse der vergleichenden evolutionären Verhaltensforschung eine wachsende Anhängerschar außerhalb der professionellen Neuroforschung. Sie vereint der Glaube, dass in der bald entstehenden Neuro-Gesellschaft unter Umgehung mentaler Verhaltensweisen die neuralen Prozesse direkt beeinflussbar und hierüber das gesamte Verhalten optimierbar seien. Unstreitig ist, dass mittels Biofeedback eine unmittelbare signaltechnische Kommunikation mit dem Hirn und dessen Beeinflussung möglich ist (sog. Neurofeedback). Hierzu wird die Hirnscan-Technologie eingesetzt. In einer experimentellen Studie konnte unlängst damit sogar das kognitive Befinden von Schizophrenie-Patienten verbessert werden4.
Neben den Biofeedback-Methoden schwören Neuro-Gläubige aber auch auf das sog. Neuro-Enhancement, d. h. die Einnahme von chemischen, die Hirnaktivität beeinflussenden Substanzen zum Zwecke der Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit und des psychischen Befindens. Gegner dieser Praxis bezeichnen dieses als Hirndoping und kritisieren, dass man sich hierdurch in der Gesellschaft, insbesondere im Berufsleben einen unredlichen Wettbewerbsvorsprung verschaffe. Zu Recht werden hier Parallelen zum Doping beim Leistungssport gezogen. Eine unlängst veröffentlichte Studie zeigt, dass das Neuro-Enhancement unter deutschen Studenten viel weniger weit als befürchtet verbreitet ist. Nur jeder 20. Student nehme Pillen zur Leistungssteigerung. Besonders weit verbreitet sei das Hirndoping bei Tiermedizinern (18 Prozent), gefolgt von Sportwissenschaftlern (14 Prozent) und Humanmedizinern (7 Prozent)5. Ganz offensichtlich ist fundiertes biologisches Wissen ein wesentlicher Faktor für Neuro-Enhancement. Mit der stark umstrittenen, verschreibungspflichtigen Verwendung der amphetaminähnlichen Substanz Methylphenidat (Ritalin) bei Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörungen (ADS/ADHS) von Jugendlichen befinden wir uns übrigens bereits mitten in der schönen Neuro-Gesellschaft.
Die Gemeinde der Neurogläubigen erhält kräftigste Unterstützung von professionellen Neurowissenschaftlern. Unter diesen sind einige zu ausgesprochenen Medienstars aufgestiegen. Sie verkünden rhetorisch geschliffen das revolutionäre Potential ihrer Wissenschaft; diese verändere unser Menschen- und Gesellschaftsbild von Grund auf. Sie erheben auch kriminalpolitische Forderungen. Da sie experimentell nachweisen könnten, dass der Mensch keinen freien Willen besitze, dürfe am bisherigen Schuldstrafrecht nicht mehr festgehalten werden. Mittels Hirnscan-Technologie könne man das Risiko einer Fehlentwicklung und damit eines zukünftigen Fehlverhaltens eines Menschen prognostizieren. Dass es bei derartigen in Vorträgen und Interviews geäußerten Meinungen nicht mehr nur um wissenschaftliche Berichterstattung, sondern gleichzeitig auch um die Verkündung einer neuen Weltanschauung geht, liegt auf der Hand, bleibt dem Publikum in aller Regel jedoch verborgen, da die Neuroforscher meist in der Rolle des Wissenschaftlers auftreten6. Neurowissenschaftler greifen nach der Feststellung des Zeitgeschichtlers Peter Becker von der Universität Linz, die sich auf die Auswertung von 6.000 deutschsprachigen Printmedien stützt, heute vermehrt und ganz selbstverständlich in die politische Auseinandersetzung um sozial- und bildungspolitische Fragen ein.
Auf allen Ebenen unserer Gesellschaft haben sich diverse Bindestrich- Disziplinen mit dem verheißungsvollen Namensbestandteil »Neuro« etabliert, um am Neuro-Boom, der sich inzwischen zu einem mit den modernsten Marketingmethoden – darunter auch Neuro-Marketing – beworbenen Markt entwickelt hat, zu partizipieren. Es lassen sich vier Bereiche unterscheiden:
1. ein konzeptioneller, in dem mit allgemein anerkannten wissenschaftlichen Methoden Hypothesen über die Funktionsweise des Gehirns und das Verhältnis von Gehirn und Geist aufgestellt, experimentell überprüft sowie Forschungsziele bestimmt und verfolgt werden. Nach dem heute weltweit anerkannten Forschungsparadigma ist das Gehirn ein informationsverarbeitendes neuronales Netzwerk, das massiv parallel arbeitet, fehlertolerant und adaptiv (lernend) ist und über das Nervensystem die Körperfunktionen kontrolliert7. Die Funktionsweise des Gehirns kann bis hin zum selbsttätigen Lernen auf dem Computer simuliert werden (künstliches neuronales Netz). Ungeachtet der Tatsache, dass die Neurowissenschaften ein multidisziplinäres Projekt aus Anatomie, Neurologie, Psychiatrie, Genetik, Molekularbiologie, Biochemie, Physik, Statistik, Netzwerktheorie (konnektionistisches Modell), Mathematik (zur Modellierung von Netzwerken mittels der Graphen und Algorithmentheorie), Systemtheorie, Regelungstheorie (Kybernetik), Nachrichtentheorie, Informationstheorie, Linguistik, Psychologie, Pädagogik usw. sind, bildet das auf dem Computer modellierbare Netz-Paradigma heute die allgemein anerkannte Rahmentheorie. Man spricht daher auch von den computionalen Neurowissenschaften. Angesichts der großen Wandlungsfähigkeit des Gehirns wird dessen Arbeitsweise heute nicht mehr mit der eines Computers gleich gesetzt, wie dies zu Beginn der kybernetischen Ära allgemein üblich gewesen ist. Denn aufgrund seiner enormen Plastizität übertrifft es jeden in seiner Architektur starren Computer bei weitem. Um die Fähigkeit des Gehirns zu erreichen, müsste sich auch dessen Hardware beim Gebrauch ändern können. Nichtsdestoweniger hält man an der computionalen Sprechweise fest, dass das Signalgeschehen im Gehirn durch einen neuronalen Code geordnet und beschreibbar sei. Neuroforscher, die dem Projekt der Künstlichen Intelligenz nahestehen, gehen sogar davon aus, dass das neurale Prozessgeschehen einem hochkomplexen, noch nicht entschlüsselten Algorithmus gehorche. Dies wird von biologisch orientierten Neuroforschern, die an die überaus komplexe biologisch-elektrische Signalverarbeitung in den unzähligen, für die unterschiedlichsten Zwecke differenzierten Modulen realer Gehirne anknüpfen, mit Recht vehement bestritten.
Die Paradigmenänderung zum Netzwerk hat übrigens auch erhebliche Auswirkung auf das Projekt der Künstlichen Intelligenz. So findet beim sog. Neuro-Computing derzeit ein Wechsel vom starr auf eine Aufgabe hin programmierten zum lernfähigen mustererkennenden Neuro-Computer statt (Neuro-Informatik), der weltweit beim sog. Data-Mining zum Einsatz gelangt. Beim Gebrauch der Bezeichnung »Neuro« ist daher, um Verwechslungen zu vermeiden, immer zu unterscheiden, ob Bezugsobjekt tatsächlich die Funktionsweise eines realen Gehirns oder die eines vom Gehirn mehr oder minder verschiedenen ähnlich arbeitenden Organisationsnetzwerkes – etwa die des World Wide Web oder eines weltweit agierenden Wirtschaftskonzerns – ist. In der allgemeinen Netzwerkforschung ist die Arbeitsweise des Gehirns nur ein Beispiel für die Funktionsweise eines selbstaktiven, sich selbst erhaltenden Netzwerkes8. Dabei nimmt das Gehirn eine absolute Sonderstellung ein. Denn es ist das höchst entwickelte autopoietische Netzwerk, das wir kennen. Durch die Möglichkeit der Modellierung künstlicher Netzwerke und künstlicher Gehirne gibt es eine starke Annäherung zwischen Systemen künstlicher Intelligenz und der Gehirnforschung.
2. ein technischer neuro-kybernetischer Bereich (Neuro-Engineering),
der die hochkomplexen Gerätschaften entwickelt und liefert, mit denen die Hirnaktivität gemessen, mit denen aber mittels minimalinvasiver Operationen Störungen der Bewegungssteuerung (Morbus Parkinson, schwerer Tremor etc.) und der Informationsverarbeitung verbessert werden können (Neuroprothetik: Gehirnschrittmacher, Cochleaimplantate). Schließlich sind noch die Neuro-Headsets, mit deren Hilfe die elektrischen Signale vom Motorcortex zur Steuerung eines Computers abgeleitet werden, zu erwähnen.
Es ist damit möglich, einen Querschnittgelähmten zu befähigen, mit sog. Gedankenkraft – in Wirklichkeit handelt es sich um ein abgeleitetes elektrisches Hirnsignal – zu schreiben oder einen Rollstuhl zu steuern; bei einem Patienten mit Locked-in-Syndrom, bei dem der Körper vollständig gelähmt ist, sodass weder ein Sprechen noch eine andere Signalgebung möglich ist, erweist sich ein derartiger Gehirnschrittmacher als ausgesprochen segensreich.
3. ein anwendungsorientierter Bereich, der die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung zur Optimierung vorher schon geübter Lebenspraxis allgemein einsetzen möchte und dies mehr oder weniger erfolgreich tut: Neben der oben bereits erwähnten äußerst erfolgreichen Neuro-Chirurgie und der Brain-Computer-Interface-Technologie gibt es:
Neuro-Psychologie (Erforschung der Auswirkung zerebraler Defekte auf das Verhalten bis hin zur Hirnaktivitätsveränderung infolge von Stresszuständen9)
Neuro-Therapie (Versuch, auf die Hirnaktivität mittels die Neuronen zielgenau erreichender Medikamente und Neurofeedback einzuwirken, um Störungen des Befindens zu beheben und Verhaltensänderungen herbeizuführen)
Neuro-Linguistik (Erforschung der Auswirkung zerebraler Defekte auf den Sprachgebrauch sowie Aufklärung der neuralen Muster beim normalen Sprechen)
Neuro-Pädagogik (Feststellung eines Lernerfolges – etwa beim Einprägen eines Stadtplans – durch Neuro-Imaging: Hirnbild nach Lernphase weist ein deutlich anderes Muster als Hirnbild vorher auf. Physiologisches Korrelat – Engramm – für Lernerfolg beruht nach Hebb und Kandel auf der sichtbaren Verstärkung des Neuronennetzwerks, d.h. der Synapsen zwischen den am Lernvorgang beteiligten Neuronen. Dieser Lernvorgang ist künstlich modellierbar (Lernmatrix nach Steinbuch). Stark umstritten ist, ob und wie die heutige Unterrichtsmethodik mit Hilfe des neuen Wissens optimiert werden kann. Da die Forschungsergebnisse von Hebb und Kandel die behavioralen Lerngesetze der Konditionierung (Dressur) letztlich bestätigen, führte eine vollständige Umsetzung dieser Erkenntnisse notwendig zur Wiederkehr der schwarzen Drillpädagogik, wie wir sie aus dem gescheiterten mit Lehralgorithmen arbeitenden kybernetischen Unterrichtsmodell kennen.)
Neuro-Ökonomie (Analyse der Wirksamkeit von Werbung auf die Kunden durch Neuro-Imaging und durch Auswertung anderer einschlägiger biometrischer Daten. Es handelt sich hierbei um einen Teil des Projektes, mit dem Anhänger der Entscheidungs- und Spieltheorie die Hirnaktivität bei schwierigen Entscheidungsprozessen mit Neuro-Imaging untersuchen.)
Neuro-Ethik (Untersuchung der Hirnaktivität in moralischen und rechtlichen Konfliktsituationen mit höchst umstrittenen Ergebnissen10)
Neuro-War (Versuch der Waffen- und Maschinensteuerung durch Brain-Computer-Interfaces; auch die Spieleindustrie benutzt seit neuestem BCI).
Ein biometrisches Projekt: Eine Gemeinsamkeit dürfte in allen genannten Anwendungsfällen deutlich geworden sein: Nur wenn Daten aus einer unmittelbaren Ableitung von Hirnaktivität (Neuro-Screening, Brain-Controlling oder Neuro-Test mittels Hirn-scan-Technologie) oder aus der Veränderung von anderen Körperfunktionen, die mit Hirnfunktionen korreliert sind, etwa bei einem Stresstest (z. B. die psychogalvanische Hautreaktion, die Frequenz von Puls- oder Stimme etc.) biometrisch ausgewertet und zur Verifizierung oder Falsifizierung einer Hypothese über die Beziehung von Hirnaktivität und Verhalten oder innerhalb eines Mensch-Maschine-Systems (Brain-Computer-Interface) benutzt werden, befinden wir uns im naturwissenschaftlichen, für die Neurowissenschaften relevanten Bereich, andernfalls in der mentalen Alltagswelt.
Zur Bewertung der Ergebnisse des Neuro-Imaging: Den Hirnbildern darf nie blind vertraut werden. Geschieht die Auswertung durch den mentalen Akt eines bloßen Augenscheins, ist zu berücksichtigen, dass die Hirnaktivität bei den einzelnen Menschen mehr oder minder stark variiert, es deshalb zu unterschiedlichen Hirnmustern kommt, weshalb die Feststellung von Gemeinsamkeiten letztlich immer eine Ermessensentscheidung im Rahmen eines Beurteilungsspielraumes ist. Es liegt auf der Hand, dass es deshalb auch zu Fehlbeurteilungen kommen kann. Zu berücksichtigen ist auch, worüber in Publikationen nicht selten schlicht hinweggegangen wird, dass die abgebildeten bunten Hirnbilder, von denen eine große suggestive Überzeugungskraft auf den neurowissenschaftlichen Laien ausgeht, immer ein aus einer Vielzahl von Daten durch den Computer algorithmisch errechnetes Ergebnis darstellen. Ohne Kenntnis der Algorithmen, deren Erstellung von immer problematisierbaren wertenden Vorannahmen – etwa der Festlegung des Ausgangszustandes des Gehirns beim sog. Subtraktionsverfahren – abhängig ist, lässt sich nicht bestimmen, ob nicht für die Beurteilung notwendige Elemente der Hirnaktivität gar nicht angezeigt werden. Hirnbilder sind daher nie Spiegelbilder, sondern immer mehr oder minder zutreffende algorithmisch erzeugte Konstrukte der Hirnrealität. Dies darf nie übersehen werden.
Zur Bedeutung invasiver Eingriffe: Um zu letztgültigen Erfahrungssätzen über das Signalgeschehen in den einzelnen Hirnmodulen und ihre Verhaltenskorrelate zu gelangen, reichen daher die Hirnscan-Bilder in aller Regel nicht aus. Hierzu sind invasive Eingriffe, also Operationen, erforderlich. Da solche ohne eine therapeutische Indikation nicht erlaubt sind, stößt die Hirnforschung hier an ihre Grenzen. Bekanntlich sind nicht nur bei Unfall- und Kriegsopfern, sondern auch bei Gelegenheit solcher Operationen viele wichtige Entdeckungen zufällig gemacht worden. Nach wirksamer Einwilligung sind bei notwendigen Operationen auch Experimente zulässig. Trotz enormer Verbesserung der Operationstechnik durch stereotaktische Verfahren bleiben invasive Eingriffe immer riskant, da es hierbei auch zu irreversiblen Hirnstörungen mit mehr oder minder schweren kognitiven Auswirkungen kommen kann. Unverzichtbar sind daher nach wie vor Tierexperimente.
Jenseits des Hirnscans: Wird in der Lebenspraxis behauptet, man arbeite »gehirngerecht«, benutze beim Marketing »Neuro-Selling«, aktiviere beim Kunden durch Schaffung eines Kaufanreizes das »limbische System« oder das »Belohnungszentrum«, handelt es sich nicht um neurowissenschaftliche Aussagen und Bewertungen, sondern um alltagspsychologische Behauptungen und Einschätzungen, die das neurowissenschaftliche Menschenbild und dessen Terminologie aus Marketinggründen benutzen. Dies gilt auch für das letztlich als parawissenschaftlich einzuordnende Neurolinguistische Programmieren, das eine schlichte Konditionierungstechnologie ist. Daneben finden sich auch phantastische parapsychologische Modelle. Neurowissenschaftliche von neuroideologischen Aussagen abzugrenzen, fällt daher nicht immer leicht, zumal das gesamte neurowissenschaftliche Projekt, soweit es ein völlig neues Menschenbild für möglich hält oder ein solches bereits verkündet, unter Ideologieverdacht steht.
4. ein berichtender und bewertender Bereich, der unter der Bezeichnung Neuro-Philosophie die unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich des Verhältnisses von Hirnaktivität und Geist darstellt und bewertet, die praktischen Auswirkungen auf das soziale Leben, die sich aus der zerebralen Wende (sog. Zerebralisierung des Selbst und der Gesellschaft11) ergeben, beschreibt, Gefahren für den Einzelnen hieraus aufzeigt (Projekt Kritische Neurowissenschaft) und die der Gesamtgesellschaft drohenden Risiken durch die in vollem Gang befindliche Installierung computional gesteuerter Neuro-Macht mit Mitteln der Neuro-Politologie analysiert und schließlich zur Gefahrenabwehr ethische sowie rechtliche Handlungsempfehlungen ausspricht (Neuro-Ethik, Neuro-Recht). Ziel der Kritik ist es, die Möglichkeit und die Mechanismen einer Transformation der Gesellschaft in eine neuro-therapeutische Marketing-Gesellschaft vor Augen zu führen. Dieser könnte aufgrund des kognitiven Wettrüstens unter den Marktteilnehmern mutmaßlich die Tendenz innewohnen, das Brain-Controlling Schritt für Schritt zur schikanösen Disziplinarmacht auszuweiten (Neuro-Gesellschaft). Eine solche Entwicklung gilt es zu verhindern. Hierbei dürfen die zahlreichen Produkte der Neuroforschung, die zur erfolgreichen Linderung von Leiden entwickelt wurden und segensreich eingesetzt werden, nicht unter den Generalverdacht einer Hirnmanipulation gestellt werden.
Am Beispiel der von Neuro-Gläubigen vorgeschlagenen präventiven und teilweise schon umgesetzten repressiven neuro-polizeilichen Planspielen zur Kontrolle »gefährlicher Gehirne« lässt sich zeigen, wie die Gesellschaft in eine Neuro-Gesellschaft transformiert werden könnte.
Ausgangspunkt ist dabei die Annahme von nicht wenigen Neuro-Gläubigen, die Person sei lediglich ein Epiphänomen bzw. ein virtuelles Konstrukt des Gehirns. Durch die Kontrolle der Gehirnaktivität sei es möglich, rechtzeitig Gefahren, die von bereits dysfunktionalen oder sich dysfunktional entwickelnden Gehirnen von Jugendlichen etwa für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgingen, zu unterbinden12. Dieses Projekt leidet an einem von den Neuro-Gläubigen in aller Regel nicht thematisierten erheblichen Schönheitsfehler. So ist auch bei einer schweren Dysfunktion eines Gehirns generell allein hieraus keine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ableitbar. Denn aus einer schweren Hirnbeeinträchtigung folgt nicht automatisch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung nach DSM III-R (1987) oder DSM IV-TR (2000)13. Der häufige Hinweis, dass bei Strafgefangenen durch Hirnscans überproportional viele Hirnanomalien gefunden wurden, steht dem nicht entgegen. Denn die Zahl derjenigen, die ähnliche Anomalien aufweisen und nicht straffällig geworden sind, ist unbekannt. Um im Einzelfall zu einer zuverlässigen Prognose zu kommen, ob etwa eine antisoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt, bedarf es in jedem Fall auch einer Verhaltensanalyse. Hinzu kommt, dass jedes Verhalten immer auch umweltabhängig ist. Das präventive Erstellen eines konkreten oder abstrakten Gefährdungsscores allein anhand eines Hirnscans wäre daher wissenschaftlicher Humbug. Es handelte sich um eine Neuauflage der Lehre vom geborenen Verbrecher (Lombroso). Zudem wäre der Wechsel von der Rechtsperson zum »Rechtsgehirn« mit dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar. Durch die Anknüpfung an den Begriff »gefährliches Gehirn«, der den meisten Neuroforschern viel zu flüssig von den Lippen geht, würde der Mensch seines Personseins gänzlich beraubt; er würde hierdurch zum potentiellen Objekt einer Messtechnologie degradiert. Der Begriff ist deshalb Aspirant für das Wörterbuch des Neuro-Unmenschen.
Die repressive teilweise bereits umgesetzte Planspielvariante der Gehirnkontrolle ist die Neuro-Lügendetektion. Hierbei wird entweder Neuro-Imaging oder ein auf das Erkennen von Lügen trainierter Computeralgorithmus benutzt14. Abgesehen davon, dass in Deutschland eine derartige Beweiserhebungsmethode zur Überführung eines Beschuldigten verboten ist, wäre der Gebrauch der Hirnscan-Technologie – selbst wenn ein Betroffener, weil er eine Entlastung erwartet und deshalb in eine solche Prozedur einwilligt – wegen der Unzuverlässigkeit der Methoden kein geeignetes Beweismittel15. Dennoch drängen in den USA Firmen auf den Markt, die mit blumigsten Verspechungen Neuro-Lügendetektion verkaufen (No Lie MRI, Cephos16, Brain Fingerprinting Laboratories17). Dass mit Hochdruck daran gearbeitet wird, Terroristen mit Hilfe von Neuro-Lügendetektion bei den Zugangskontrollen auf Flughäfen aufzuspüren, liegt auf der Hand. Da der deutschen Rechtspolitik bis jetzt das Problembewusstsein fehlt, gibt es auch keine Lösungsvorschläge dafür, ob und unter welchen Bedingungen in Deutschland sich derartige Firmen niederlassen und ihre Dienstleistungen verkaufen dürfen.
Bis heute ist noch nicht ins Bewusstsein der Allgemeinheit – bedauerlicherweise auch kaum in das der Juristen18, schon gar nicht in das von Verfassungsrechtlern – gedrungen, dass das Projekt der Neuroforschung weder ein psychologisches noch ein psychiatrisches, sondern ein anthropologisches ist, das die Wurzeln unserer Existenz und damit unseres Menschseins nicht nur neu definieren, sondern durch Messung der Hirnaktivität technologisch vollständig analysieren möchte. Ziel der sich als sog. Frontwissenschaft begreifenden Neuroforschung ist es, auf Basis der Biologie und computional gesteuerten Biotechnologie ein für alle Mal die Frage zu beantworten, wer wir eigentlich sind. Auf dem Programm steht daher auch, nicht nur einzelne Fähigkeiten, sondern das Entstehen unseres Bewusstseins als solchen endgültig biologisch zu erklären19. Als Werkzeug der Werkzeuge – für die einen der Stein der Weisen, für Anhänger der Spieltheorie eine Wunderwaffe – wird die Technologie des Hirnscans, wie oben gezeigt, in vielfältigster Weise zum Entschlüsseln der unseren kognitiven Prozessen zugrundeliegenden Hirnaktivität eingesetzt (Brain-Control).
Mit der immer präziser werdenden Decodierungsmöglichkeit der Hirnprozesse steht uns heute bereits ein Handlungs- und Selektionswissen zur Verfügung, das alle früheren Projekte der Bewusstseinskontrolle (Mind-Control), angefangen bei der Beichte über die Psychoanalyse, die unzähligen Angeboten auf dem heutigen Markt der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zu den mit Hilfe des Behaviorismus entwickelten menschenverachtenden Gehirnwäschepraktiken von MKULTRA, strategisch in den Schatten stellt20. Letztes Ziel des Brain-Control-Projekts ist bei einigen autoritär ausgerichteten Gesellschafts-Konstrukteuren durch Brain-Changing ein bis ins letzte optimierte Mind-Controlling. In der Sprache des Neuro-Marketing heißt dies: Gehirnwäsche war gestern, Gehirntransformation durch pillenunterstützte, im permanenten Höchstleistungswettbewerb sich selbst optimierende Trainingsprogramme mit biometrischer Leistungskontrolle ist heute! Manche Wettbewerbsenthusiasten und bellizistisch geprägten Gemüter sprechen sogar von »Brain-Changing-Battle«.
Ein Kategorienfehler wäre es, das Brain-Controlling als »Psycho«-technik und die Neuroforschung als eine besondere »psycho«-logische Disziplin des sog. »Psycho«-marktes zu qualifizieren. Damit würde das neurowissenschaftliche Projekt total verkannt. Zu dem Irrtum, es handle sich um etwas Psychologisches, tragen die Neurowissenschaftler nicht selten selbst mit bei, wenn sie in populärwissenschaftlichen Aufsätzen das Funktionieren des Signalgeschehens im Hirn mit der Terminologie aus einem mentalen Sprachspiel verdeutlichen. So ist das Auswerten von Hirnbildern kein »Gedankenlesen«, ein Computer wird über ein Neuro-Headset auch nicht mit »Gedankenkraft, sondern selbstverständlich mit elektrischer Hirnkraft gesteuert, Gehirnzellen »reden« auch nicht miteinander, sondern entladen sich oder feuern bzw. senden hemmende Impulse aus. Was das Signalgeschehen im Hirn anlangt, haben Nachrichteningenieure und Neurowissenschaftler, worauf bereits der Mathematiker und Kybernetiker Norbert Wiener zutreffend hingewiesen hat, ganz ähnliche Vorstellungen. Deshalb hat Wiener, der zu den theoretischen Vätern der Neurowissenschaften zählt, bekanntlich alle geistigen Störungen auf Schaltfehler im Gehirn zurückgeführt21.
Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn für Neurowissenschaftler das funktionierende Gehirn und die es erforschenden Disziplinen die letztgültige »Wahrheitsmatrix« (Schaper-Rinkel) sind, um nahezu jedes soziale Phänomen abschließend zu erklären, und nicht mehr ein im philosophischen und / oder theologischen Diskurs entwickelter Begriff des Geistes, der Seele oder der Psyche. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, wenn die Neurowissenschaftler ihre Lehre und Technologien ganz selbstverständlich als Leitwissenschaft verstehen. Denn die Summa Neuro-Technologiae vermag unter Anknüpfung an das Gehirn angeblich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Wesen des Geistes richtig zu erklären, ersetzt dadurch ganz nebenbei auch die Philosophia perennis und weist der Theologie endgültig ihren Platz beim Mythos zu. Punktum die »gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner biologischen Natur«. So der bekannte deutsche Hirnforscher Gerhard Roth in seinem 2003 erschienenen Buch »Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert« (S. 555).
Neuro-Gläubige, die Anhänger der Künstlichen Intelligenz sind, gehen noch einen kleinen Schritt weiter. Bei ihnen handelt es sich nicht mehr um ein biologisches, sondern um ein die Biologie ersetzendes technologisches Projekt: Denn in ihrem Heiligtum steht als Gehirn der Gehirne die von Alan Turing der Öffentlichkeit 1937 vorgestellte Turing-Rechenmaschine. Warren McCulloch und Walter Pitts zeigten wenig später, dass die Schaltlogik in diesem abstrakten, für alle Computer gültigen Modell eines Rechenautomaten und die im Neuronennetz unseres Gehirns auf denselben Prinzipien beruht22. Manche KI-Gläubige halten es daher heute noch für möglich, dass in Zukunft einmal menschengleiche Automaten gebaut werden können, die nach Bestehen des Turingtestes von uns als gleichberechtigte Mitbürger zu betrachten seien. Da nicht wenige Neuroforscher Anhänger der künstlichen Intelligenz sind, kommt es nicht von ungefähr, dass sie auch eine mehr oder minder starke Affinität zur Robotik haben. Manche spekulieren auch mit einem Überleben ihres Geistes in einem Silizium-Gehirn.
Die neue – die Hirnaktivität sichtbar machende – Technologie ermöglicht eine systematische Erfassung von neural beschreibbaren Persönlichkeitseigenschaften. Sie wird in Bälde ein zu Selektionszwecken einsetzbares Persönlichkeitsprofiling durch Neuro-Inquisition zur Verfügung stellen, das andere Persönlichkeitstests in Assessment-Centern bezüglich Manipulationssicherheit, Tiefe und Beweiskraft bei weitem überbietet. Auf die in dem alten deutschen Volkslied »Die Gedanken sind frei« trotzig gestellte Frage: »Wer kann sie erraten?« werden die Neuroforscher kühl antworten: »Wir!« Wenn auch die Black Box, die das Innere einer jeden Person verbirgt, letztlich nicht ganz geöffnet werden kann – denn die Hirnbilder liefern letztlich auch immer nur ein Außen – stellt die Hirnscan-Technologie letztlich derart viele Daten, d. h. Beurteilungsindizien, die dem bloßen Auge sonst verborgenen sind, zur Verfügung, dass man dennoch mit Fug und Recht nach entsprechenden Tests von einem »gläsernen Menschen« sprechen kann. Deshalb würde uns das Lied über die Freiheit der Gedanken, das früher bekanntlich auch zur Verspottung von Tyrannenmacht gesungen worden ist, in einer strikten Neuro-Gesellschaft keinen Trost mehr spenden können.
Wenn ein an den Ergebnissen der Neuroforschung zweifelnder Proband bei einem Test im Neuro-Labor gezeigt bekommt, dass der Neuro-Tester den Entschluss des Getesteten zu einer Handlung anhand des durch Hirnscan festgestellten Bereitschaftspotenzials früher feststellen kann, als er ihn selbst gewahrt (Libet-Experiment23), wird er wahrscheinlich konsterniert der Erklärung des Neurowissenschaftlers folgen, dass er und wir alle keinen freien Willen besäßen. Den ihm auf den Lippen liegenden philosophischen Widerspruch wird er resigniert hinunterschlucken und sich nolens volens dem neurotechnologischen Beweisergebnis zähneknirschend beugen. Denn ein erfolgreiches Experiment liefert doch immer den Wahrheitsbeweis oder etwa nicht?
Die oben aufgeführten drei ersten Bereiche der schönen neuen Neuro-Welt zeigen, dass es sich bei der Neuroforschung um eine durch und durch anthropotechnische und nur teilweise um eine philosophische Unternehmung handelt. Dieser Aspekt wird in nur philosophisch geführten Auseinandersetzungen, in denen man sich über das Verhältnis von Geist und Gehirn unter gänzlicher Ausklammerung des technologischen Aspekts der Neuroforschung den Kopf zerbricht, oft übersehen. Dabei wäre in jedem Diskurs über die Neuroforschung immer zuerst auf ihren Artefakt-Charakter zu verweisen. Denn unser gesamtes Wissen auf diesem Gebiet haben wir aus Tier- und Menschenexperimenten, bei denen Hochtechnologie eingesetzt wurde, gewonnen. Das neue Wissen verdanken wir daher nicht dem philosophischen Urteil einer Person über einen Mitmenschen, sondern der Bewertung von Messergebnissen aus einem Mensch-Maschine-System, die mit anderen ähnlichen Messdaten verglichen werden.
Folgt man der bedauerlicherweise im Vordringen begriffenen, den Unterschied von Mensch und Maschine einebnenden Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), hätte in einer solchen Beziehung auch die Maschine in Anlehnung an das kybernetische Projekt zwar nicht den nur Personen vorbehaltenen Status eines Akteurs, aber immerhin den eines Aktanten24. Und nicht nur das ermöglicht die ANT. Wir sind im Rahmen dieser Theorie ohne weiteres in der Lage, auch dem im Libet-Experiment durch ein abgeleitetes biologisches Signal ins Spiel gebrachten Gehirn, dessen Funktionsweise von uns nicht unmittelbar, sondern nur im Wege eines Schlusses erkannt werden kann, den Status eines Aktanten einzuräumen.
Und gerade dies tut die Neuroforschung. Für diesen Schritt hat sie ein überaus folgenreiches Logo entwickelt: Der Mensch denkt, das Gehirn lenkt. Dieses Logo ist aber von nicht wenigen Neuroforschern zum Schibboleth und Dogma erhoben worden. Wer dieses heilige Erkennungszeichen unter Verweis auf eine möglicherweise selbstständige Existenz des Geistes oder einer Seele anzweifelt, wird gnadenlos aus der Gemeinschaft der Neurogläubigen exkommuniziert. Er ist der Begehung einer Todsünde verdächtig. Denn nur mein Gehirn kann der Steuermann / die Steuerfrau meines Lebens sein und nicht etwa mein armseliges vom Gehirn bloß als »virtueller Akteur« produziertes Ich.25 Dass mit diesem zum Dogma erhobenen Slogan der Mensch zur Marionette seines Gehirns degradiert wird, nimmt der Neurogläubige mit Zustimmung zur Kenntnis und beginnt danach sein Leben einzurichten.
Hält ein solcher, etwa wie der berühmt-berüchtigte L. Ron Hubbard, der übrigens nicht zu den Religiösen, sondern zu den ersten radikal Neurogläubigen zu zählen ist, in seinem Dianetik-Programm, dessen tatsächliches Brain-Control-Ziel26 aus Unkenntnis der Wirkungsweise des hierbei virtuos eingesetzten Psychogalvanometers heute nur die wenigsten wirklich begriffen haben, das Gehirn im Anschluss an die alte kybernetische Lehre bloß für eine starre Maschine, nimmt es nicht wunder, dass er sich selbst für einen Roboter und die Abrichtung seiner Mitmenschen zu Robotern für eine Tugend gehalten hat. Die äußerst rätselhafte Dianetik, über die viele Psychologen, soweit sie diese nicht als bloßen Humbug abtun, ergebnislos gegrübelt haben, zu verstehen, ist für Neuro-Gläubige im Gegensatz zu Normalbürgern ein Kinderspiel. Denn jene haben, soweit sie sich am Paradigma der künstlichen Intelligenz ausrichten, ebenfalls – wie oben bereits dargelegt – eine starke Affinität zur Robotik und damit zur rationalistischen L’homme-machine-Lehre. Sie sind daher ganz wie der Scientology-Gründer Hubbard im Dianetik-Programm geneigt, die Grenze zwischen Mensch und Maschine völlig zu nivellieren, was heute zu höchst bizarren Ergebnissen führen kann. So hat der bedeutende deutsche Neuro-Philosoph und Neuro-Gläubige Thomas Metzinger allen Ernstes und nicht, um eine Satire oder ein Drehbuch zu einem Science-Fiction-Film zu schreiben, aus »humanitären« Gründen unlängst davor gewarnt, menschenähnliche Automaten mit Leidensfähigkeit zu konstruieren. Die Absurdität gipfelte schließlich darin, dass die an sich seriöse deutsche Neuro-Zeitschrift Gehirn & Geist dieses SciFi-Produkt neben dem Wiederabdruck des 2004 erstmals erschienen Manifests von elf führenden Neurowissenschaftlern über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung veröffentlichte27. Da dieses Manifest, wie weiter unten noch gezeigt werden wird, ebenfalls deutliche Züge von Science-Fiction aufweist, ist die Veröffentlichung von Metzingers zu Herzen gehendem Robotermärchen – in einer von Gehirn & Geist veranstalteten Umfrage schlossen sich immerhin 28,7 % der Befragten dem Autor an – vielleicht gar kein Zufall.
Auf welche Seite im Meinungsstreit soll sich unser unschlüssiger Proband aus dem Libet-Experiment nun schlagen? Mit folgenden beiden Fragen könnte er vielleicht aus dem von der Neuroforschung fabrizierten Albtraum eines verdoppelten Selbst befreit werden: »Hast du schon einmal außerhalb des Libet-Experiments bei deinem Denken und Entscheiden jemals dein Gehirn bei der Arbeit erlebt? Zweifelst du daran, dass du es bist, der die gerade gestellte Frage beantworten wird? Unser Proband könnte hierdurch seinen Glauben an die praktische Willensfreiheit im Alltagsleben und sein tagtäglich erlebtes mehr oder minder willensstarkes unverdoppeltes Ich zurückgewinnen. Sein virtuelles Ich könnte sich wie Nebelschwaden im Sonnenlicht auflösen. Dass ihre Lehre vom virtuellen Ich in höchstem Maße kontraintuitiv ist, räumen die Neuro-Gläubigen immerhin ein. Welche psychohygienischen Schädigungen bei einem Missverständnis dieser Lehre auftreten können, ist leider bis heute noch nicht untersucht. Ob es, wie Spötter behaupten, hierdurch auch zu einer Neuro-Mania kommen kann, lassen wir offen. Wir folgen jedenfalls dem Neuro-Kulturwissenschaftler Michael Hagner, der zutreffend festgestellt hat, dass das Gehirn für Neuro-Gläubige inzwischen zu einem echten Fetisch, also zu einer Ersatzreligion, geworden ist28 Die Annahme der Neuro-Gläubigen, der Mensch sei im praktischen Leben nicht willensfrei, stützt sich auf die Messergebnisse des Libet-Experiments und ähnlicher Experimente. Diese legen zwar nahe, dass das Neurale die maßgebliche Bedingung des Mentalen ist und diesem in aller Regel zeitlich auch vorausgeht. Von keinem Neuro-Gläubigen wurde aber bisher in Frage gestellt, ob diese technische Perspektive, die ohne jedes Zögern die Naturtatsache, nämlich das Funktionieren unseres Gehirns, mit der Kulturtatsache Wille verknüpft, die einzig mögliche ist und ob sie überhaupt geeignet ist, das Problem der Willensfreiheit abschließend zu entscheiden. Werden – wie hier – Naturtatsachen mit Kulturtatsachen verknüpft, liegt unbestreitbar ein sog. naturalistischer Fehlschluss vor. Denn die Willensbetätigung ist immer eine normative Kulturtatsache, über die mittels technischer Messung niemals allein eine gültige Aussage getroffen werden kann und darf. Hinzu kommt, dass mein erlebter Leib etwas ganz anderes ist als mein physikalischer Körper (Scheler, Sartre, Merleau-Ponty), an dem im Libet-Experiment Messungen vorgenommen werden29. Als meiner Personalität beraubtes Messobjekt befinde ich mich bei einem Hirnscan daher immer in der physikalischen Welt des »nackten Lebens« (Agamben) bzw. des von einer Biomacht technisch behandelten Körpers (Foucault). Wenn dieser ein »gefährliches Gehirn« haben sollte, kann man effizient, d. h., wie es einer Sache gebührt, hierauf mit Neurofeedback technisch reagieren. Die Leugnung des freien Willens durch die Neuro-Gläubigen zeigt daher, dass sie das Kulturlager längst verlassen und sich der technischen Zwangsordnung der imperialen Biomächte unterstellt haben.
Es gibt aber noch einen weiteren gravierenden Einwand gegen die Lehre der Neuro-Gläubigen: Eine genaue Analyse zeigt, dass ihr gesamtes Neuroprojekt auf einer paralogischen Basis ruht. Man postuliert zwar, dass das Gehirn vor dem Mentalen nicht nur logisch, sondern auch kausal das erste sei, gebraucht hierbei aber ganz unbefangen, ohne dies jemals kenntlich zu machen, das Mentale. Denn die für das gesamte Gehirnprojekt benutzten Ideen, die Sprache, die verwendete Logik und auch die Techniklehre sind ohne Zweifel Kinder des Mentalen und damit Kulturtatsachen. Entgegen der Meinung der Neuroforscher ist somit das Mentale, das unser Alltagsleben, unsere tägliche Kommunikation, selbstverständlich auch die der Neuro-Experimente, beherrscht, zweifellos das Erste und das in seiner scheinbar alles dominierenden Bedeutung erst relativ spät entdeckte und im Neuroprojekt erst unlängst technisch ergründete und manipulierbar gemachte Gehirn als Konstrukt und Artefakt immer das Zweite! Zudem kommen beim Hirnscan die Messergebnisse nicht allein vom Gehirn, sondern von einem Gehirn-Maschine-System. Diese Tatsache wird von den Neuro-Gläubigen geflissentlich übersehen. Im Übrigen gäbe es ohne Auskunft vom Probanden, was er beim experimentellen Ausmessen seines Gehirns erlebt hat, das gesamte Neuroprojekt nicht! Es sei deshalb die für Neuro-Gläubige ketzerische Frage erlaubt, ob denn das von ihnen betriebene Neuroprojekt zur Begründung einer ganz neuen Anthropologie und Gesellschaftslehre überhaupt geeignet ist. Reicht es nicht aus, dass wir Neuroforschung, wie früher, nur zur Linderung von Krankheiten des zentralen Nervensystems treiben und von einem anthropologischen Neuroprojekt, das uns bei Missbrauch in die Versklavung treibt, einfach die Finger lassen? Das Neuroprojekt, wie es derzeit von einigen betrieben wird, steht daher ganz zu Recht unter starkem Ideologieverdacht. Aber, wie sich schon lange aufdrängt, müssen wir auch einen scharfen Technokratievorwurf erheben.
Möchte man sich nämlich über die neuesten Resultate der Neuroforschung informieren, reichen die allgemeine Lebenserfahrung und auch gründlichstes philosophisches Wissen in der Regel nicht aus. Man braucht überdurchschnittlich gute naturwissenschaftliche sowie technische Kenntnisse, insbesondere solche der Systemtheorie, um die publizierten Ergebnisse nachvollziehen zu können. Im Mittelpunkt der Artikel stehen entweder die Berichte über den Fortschritt an künstlichen Gehirnen30 oder über die Versuchsergebnisse, wie Computer immer erfolgreicher trainiert werden können, Hirnsignale auszulesen und aus diesen die vom Probanden in der realen Welt gemachten Wahrnehmungen bildlich zu rekonstruieren31. In den Vordergrund gerückt wird hierbei regelmäßig die Leistungsfähigkeit der Computeralgorithmen. Der Mensch ist hierbei offenbar nichts anderes als ein Versuchsobjekt. Will man daher den häufig benutzten Slogan »Die Zukunft des Gehirns« richtig interpretieren, drängt sich einem der Verdacht auf, dass es in Wirklichkeit gar nicht um mich und mein Gehirn, sondern um die Steigerung der Leistungsfähigkeit der digitalen Gehirne zur maximalen Kontrolle meines Gehirnes geht.
Ein letzter Einwand: Wer sich als Philosoph oder Logiker ernsthaft mit dem Logo »Der Mensch denkt, das Gehirn lenkt« auseinanderzusetzen beabsichtigt, sei gewarnt! Es handelt sich um ein paradoxes Vexierbild, das keine eindeutige Lösung besitzt. Denn man wird auf Grund der Verdoppelung der rückgekoppelten Aktanten – der früher in Anatomielehrbüchern abgebildete Hirnhomunculus der Neuroforscher wurde durch die Hirnscan-Technologie plötzlich zur agierenden erlebbaren Realität – notwendig in einen nicht endenden Zirkel getrieben. In diesem haben sich offensichtlich auch elf führende Neurowissenschaftler – unter ihnen auch die Stars der deutschen Neuroforschung Gerhard Roth und Wolf Singer – verfangen. In einem 2004 veröffentlichten Manifest gehen sie allen Ernstes davon aus, sie könnten mittels Neuroforschung eines Tages »die schweren Fragen der Erkenntnistheorie angehen: nach Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erkennendem und zu erkennenden Objekt«. »Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen«. Diese für Neuro-Gläubige typische Formel vom erkennenden Gehirn erweckt beim Nicht-Neuro-Gläubigen den Eindruck, als stamme sie aus dem Drehbuch für einen Science-Fiction-Film. Höchst aufschlussreich ist es, dass nicht von einem erkennenden Subjekt, sondern einem erkennenden Objekt gesprochen wird. Man fragt sich: Welche Mensch-Maschinen-Kombination wird das Wesen des Menschen dann endgültig erkannt haben? Das künstliche Superhirn Blue Brain Henry Markrams etwa? Was ist mit Philosophen und Theologen, die das Wesen des Menschen weiterhin ohne Neuroforschung zu ergründen versuchen? Werden die Neuroforscher mit ihnen überhaupt noch kommunizieren, wenn sie bereits heute den Diskurs abbrechen und den Diskurspartner, der nicht bereit ist, ihrer Lehre zu folgen, in ihr Forschungslabor bitten, um ihm im Versuch klar zu machen, dass er Unsinn rede.32 Es dürfte zwischenzeitlich klar geworden sein, dass ein Teil der bisweilen überaus dominant und rechthaberisch auftretenden Neuroforscher sich längst auf die Seite der biotechnologischen Herrschaftsmächte geschlagen haben, deren Ziel nach Foucault die sorgfältige Verwaltung unserer Körper und die technische Planung unseres Lebens ist.
Bei unserer Sorge vor dem Entstehen einer Neuro-Gesellschaft sind wir nicht allein. Welche fatalen Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen es hätte, wenn wir, wie es einigen Neuro-Gläubigen vorschwebt, an die Stelle unserer Person unser Gehirn setzten, zeigt die von der Darmstädter Philosophin Petra Gehring in ihrer 2006 erschienen Streitschrift »Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens« aus dem Neuroprojekt – auch unter ausdrücklichem Hinweis auf die technischen Bezüge – gezogene Quintessenz:
»Sobald wir in Rechnung stellen, dass nach dem Modell von Roth und Singer letztlich nicht Individuen, sondern – neuronal aufeinander eingestellte – Gehirne mit Gehirnen kommunizieren, erscheint vielmehr das Netz des neuronalen Soseins als eine Art Kontinuum von Lebensstoff, von lebendigen kommunizierenden Neuronen: Kommunikationsnetze im Hirn und Kommunikationsnetze zwischen Hirnen bildeten quasi einen gigantischen Weltzusammenhang, einen monistischen Kosmos von Bio-Energie-Signalen, von Neuro-Signalen. Auch hier verblasst der Einzelne und wird gleichsam zum Gewebestück des Kollektivs. Er ist eine individuelle Ausprägung zirkulationsfähiger, lebendig kommunizierender Global-Materie.«33
Man kann diese Bewertung unter Verweis auf die durchaus sachlichen Ausführungen in den wissenschaftlichen Schriften der beiden Angegriffenen, in denen von einem anthropologischen Umsturzversuch nichts, aber auch gar nichts zu erkennen ist, als maßlos übertriebenes Science-Fiction-Pamphlet kopfschüttelnd zur Seite legen. Man würde aber dann die Aufbruchsstimmung, die im Lager der Neuro- Gläubigen heute herrscht – man braucht nur einige Nummern von Gehirn & Geist zu lesen – und die sogar bereits deutsche Juristen34 erfasst hat, völlig verkennen. Hinzu kommt, dass der an den Netzwerkbegriff anknüpfende Text mit unseren Ausführungen zum konzeptionellen Bereich der verschiedenen Disziplinen des Neuro-Marktes nahtlos übereinstimmt.
Als sich nicht ständig in der schönen neuen Neuro-Welt bewegender Jurist und als Nicht-Abonnent der Zeitschrift Gehirn & Geist ist man geneigt, die Gehirnforschung und ihre Anwendung für ein Sonderproblem einiger Spezialisten und Neuro-Fiction-Fans, aber nicht für eines der Allgemeinheit, geschweige denn für einen selbst anzusehen.
Sollte der eigene Sprössling jedoch zu viel Zeit am Computer verbringen und der um Rat gefragte Klassenleiter einem den Tipp geben, man möge doch einmal mit dem Kind einen Brain-Control-Test beim Neuro-Psychologen machen, ob es nicht etwa spielsüchtig sei35, wird man erstaunt feststellen, wie schnell die angeblich so exotische Materie einen unmittelbar selbst betreffen kann. Man sollte dann auch in der Lage sein, mit dem Psychologen das Ergebnis des Tests diskutieren zu können. Auch wenn ein Kind sich demnächst ein Spielzeug wünscht, das mit einem Brain-Computer-Interface zu bedienen ist, sollte man vom Neuroprojekt nicht nur eine oberflächliche Ahnung haben.
Was ist aber, wenn man von seinem Chef auf eine Weiterbildungsveranstaltung geschickt wird, wo mit Biofeedback- oder Neurofeedbackmethoden gearbeitet wird. Darf man da mitmachen? Ist heute eine der Verbraucherschutzstellen in Deutschland in der Lage, hierzu qualifiziert Auskunft zu geben? Kann man bei einem Bewerbungsgespräch, zu dem eine Assessmentcenter-Sitzung mit Neurofeedback gehört, die Teilnahme verweigern? Falls man an der Sitzung teilgenommen hat, was passiert mit den Daten? Kann man diese herausverlangen? Fragen über Fragen, auf die wir sofort eine Antwort wissen sollten.
Dass man mit den Kriterien, die die Enquete-Kommission sog. Sekten und Psychogruppen für einen fairen Umgang auf dem Psychomarkt oder Bayern bei seinem Gesetzesvorschlag für die Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe gemacht hat, hier nicht recht weiterkommen wird, liegt auf der Hand. Denn der Psychomarkt und die gewerbliche Lebensbewältigungshilfe sind, da ihre Angebote unsere Seele betreffen, etwas ganz anderes als der Neuro-Markt, mit dessen Dienstleistungen unsere Hirnaktivität untersucht und beeinflusst wird.
Trotz unserer Kritik wird sich am Siegeszug der Neurowissenschaften und der Neuromächte, die unter Umgehung des Mentalen, d. h. einer sprachlichen Äußerung unmittelbaren Zugriff auf unsere in den Netzwerken unseres Gehirns gespeicherten und ständig produzierten Daten mittels computerbasierter biometrischer Verfahren nehmen wollen und auch solche erhalten, nichts ändern. Die Verfahren werden verfeinert werden. Auf ausgeklügelte Fragen werden sich in den Hirnbildern für den Fachmann immer beweiskräftigere Reaktionen zeigen. Werden verschiedene Hirnscan-Verfahren miteinander kombiniert und werden zusätzlich wie bei der Polygraphie noch andere Körperreaktionen gemessen, wird sich für den Experten die Symptomlage, aus der er zutreffende Rückschlüsse auf unser Befinden und Verhalten ziehen kann, immer mehr verbessern lassen. Der Bürger in der zukünftigen Neuro-Gesellschaft wird, ohne Fachmann zu sein, ganz selbstverständlich wissen, was Bio- und Neurofeedback ist, wie ein Psychogalvanometer oder ein Stimmfreqenzanalysator wirklich funktioniert. Schon heute gibt es ein sehr großes Interesse, sich hier kundig zu machen. Bei Aufruf von »biofeedback« bei Google finden wir bereits weit über sieben Millionen Einträge. In der Neuro-Gesellschaft könnte es vielleicht auch einmal schick werden, aus Spaß oder Ernst fortwährend neurometrische Testspiele etwa mit Hilfe eines Psychogalvanometers zu machen. Scientology würde übrigens dann gar nicht mehr auffallen. Was ist zu tun, wenn man kein Interesse daran hat, für den anderen gläsern zu werden?
Da mit einem Hirnscan, aber auch anderen biometrischen Verfahren Konfliktsituationen, die wir verbergen wollen, durch nicht beherrschbare Körperreaktionen ans Tageslicht befördert werden, sind wir bei einer derartigen Prozedur immer im Kern unserer Persönlichkeit betroffen. Sind wir mit solchen Verfahren nicht einverstanden, dürfen wir sie verweigern. Denn aus dem Grundgesetz ergibt sich ein Recht auf neuroinformationelle Selbstbestimmung.
Wir sollten in Zukunft von diesem Grundrecht auch regen Gebrauch machen. Denn die Neuromächte werden mit Schmeichelei und den verlockendsten Anreizen nichts unversucht lassen, an diese für ihre Geschäfte überaus wichtigen Hirndaten zum Zwecke des Profilings zu gelangen, um uns, falls wir ihre Bonitätserwartungen nicht erfüllen, als Kunden schlicht selektieren zu können. Wenn wir von den Anreizen der Anbieter abhängig geworden sind, kann es aber auch sein, dass wir zu Sklaven der Neuromächte werden und wir uns immer mehr entblößen. Aufgabe des Staates ist es daher, möglichst bald einen effizienten Verbraucherschutz für den Neuro-Markt zu entwickeln.
1 vgl. Wikipedia: Neuroimaging bzw. Brain mapping; Münte, T. F., Heinze, H.-J., Beitrag moderner neurowissenschaftlicher Verfahren zur Bewusstseinsforschung; in: Pauen, M., Roth, G. (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie, Fink, München 2001
2 Pöppel, E.: Lust und Schmerz: Vom Ursprung der Welt im Gehirn, Siedler, Berlin 1993
3 Pauen, M.: Grundprobleme der Philosophie des Geistes; in: Pauen, M., Roth, G., (Hrsg.): S. a. a. O. Lenk, H.: Kleine Philosophie des Gehirns WBG, Darmstadt 2001, S. 104
4 Schneider, F.: Blick ins Gehirn von seelisch Kranken, Spektrum der Wissenschaften, 9, 2011 (Interview)
5 bild der wissenschaft, 4, 2012, S. 12
6 Markowitsch, H. J.: Bei Straftätern ist das Gehirn verändert; in: bild der wissenschaft, 9, 2011 (Interview)
7 Raúl Rojas: Künstliche neuronale Netze als neues Paradigma der Informationsverarbeitung; in: Pauen, M., Roth, G. ,(Hrsg) a. a. O.: Deutscher Bundestag, Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vom 22.01.2008 zur Hirnforschung Dr S. 16/7821 vgl. dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/078/1607821.pdf
8 Windhager, F., Zenk, L., Risku, H.: Netzwerkforschung in der Kognitionswissenschaft. Kognitionswissenschaft als Netzwerkforschung; in: Stegbauer, Ch, Häußling, R., (Hrsg.): Handbuch Netzwerkforschung, VS Verlag / Springer, Wiesbaden 2010
9 Markowitsch, H. J., Daum, I.: Neuropsychologische Erklärungsansätze für kognitive Phänomene; in: Pauen, M., Roth, G., (Hrsg.), a. a. O.
10 Schleim, St.: Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, Heise, Hannover 2011
11 Hagner, M.,: Der Geist bei der Arbeit, Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Wallstein, Göttingen 2007
12 Markowitsch, H. J., Anm. 7
13 Schleim, St., a. a. O, S. 77 ff.
14 Haynes, J.-D.: Der Traum vom Gedankenlesen; in: Spektrum der Wissenschaft, 9, 2011
15 Schneider, K.: Im juristischen Dilemma; in: Gehirn&Geist, 2, 2010
16 Schleim, St., a. a. O., No Lie MRI: 49/50,52,102; Cephos: 49, 51, 64, 104
17 Wikipedia: Neuroethik
18 Eine rühmliche Ausnahme bilden Schleim, St., Spranger, T. M., Walter, H. (Hrsg.): Von der Neuroethik zum Neurorecht?, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009
19 Münte,T. F., Heinze H.-J. vgl. Anm. 1
20 Metzinger, T.: Gedankenleser im Kreuzverhör; in: Gehirn & Geist, 1, 2008, S. 52
21 Hagner, M., a. a. O., S. 195 ff.
22 Hagner, M., a. o. O. , S. 206
23 Wikipedia: Libet Experiment
24 Peuker, B., Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT); in: Stegbauer Ch., Häußling, R.,(Hrsg.): Handbuch Netzwertheorie, a. a. O.
25 Roth, G.: Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewusstsein; i n: Pauen, G., Roth, G.,(Hrsg.), a. a. O., S. 206
26 Alfred R. Zeisel: Scientology schafft uns ab, Mission Clear Planet, http://www.scientologyschafftunsab.de dort: Verhöre, SecChecks, Confessionals, Beichten, 2012
27 Metzinger, T.: Maschine, Moral, Mitgefühl; in: Gehirn & Geist, 1, 2008
28 Hagner, M., a. a. O, S. 26 ff.
29 Seifert, J.: Leib und Seele, Salzburg / München 1973
30 Zimmer, Carl: Das Gehirn als Netzwerk; in: Spektrum der Wissenschaft, 10, 2011
31 Haynes, J.-D., a. a. O.
32 In einer in der FAZ im Jahr 2008 zwischen dem Marburger Philosophen Peter Janich und dem Neurowissenschaftler Wolf Singer über die Bedeutung der Ergebnisse der Neuroforschung sehr kontrovers geführte Diskussion schlug Singer, als sich keine Möglichkeit zu einer Einigung abzeichnete, seinem Kontrahenten Janich vor, er möge sich doch im Selbstexperiment in seinem Labor von der Unrichtigkeit seiner Auffassungen überzeugen.
33 Gehring, P.: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Campus, Frankfurt a. M. 2006
34 Merkel, R.: Neuartige Eingriffe ins Gehirn, Verbesserung der mentalen conditio humana und strafrechtliche Grenzen; in: ZStW, 121, 2009, S. 919 ff.
35 Müller, K.: Neurobiologische Auffälligkeiten bei Patienten mit Computerspielsucht; in: Dokumentation 2. Berliner Mediensucht-Konferenz, Beratung und Behandlung für mediengefährdete und -geschädigte Menschen vom 6. und 7. März 2009; mittels Suchmaschine zu finden unter: »2. Mediensuchtkonferenz«