JÜRGEN KELTSCH
ALTERNATIVE LEBENSHILFEN UND JUSTIZ
BISHERIGE JURISTISCHE ERFAHRUNGEN IN DEUTSCHLAND
Erstmals veröffentlicht 1996 in Reihe Kriminologie, Band 14, der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie. Hg. Stefan Bauhofer, Pierre-Henri Bolle, Volker Dittmann
Seit 25 Jahren bietet ein ständig wachsender Psycho- und Heilslehrenmarkt in den Industriestaaten neben den großen Volkskirchen und der etablierten Schulpsychotherapie ein unübersehbares Angebot von Seelsorge-, Lebenshilfe- und Persönlichkeitsverbesserungsleistungen in Workshops, Kursen, Einzel- und Gruppenveranstaltungen an.
Die Dienstleistungen der neuen Bewusstseinsindustrie werden auf dem Psychomarkt meist verkauft; es gibt jedoch auch Hunderte von informellen Gruppen und Grüppchen, die in mehr oder minder privaten Zirkeln psychotechnisch experimentieren, um Bewusstseinserweiterung zu erreichen.
Der hilfesuchende Bürger ist bei Annahme eines solchen Angebots einem nicht unerheblichen Risiko ausgesetzt, da er infolge der von den neuen Lebenshelfern eingesetzten bewusstseinsverändernden Drogen, Psychotechniken und Trainingsmethoden seine Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung verlieren und in totale Abhängigkeit geraten kann. Bei Vorgeschädigten können durch extremes Training Depressionen und Psychosen ausgelöst werden. Es kann sogar zu Gruppenselbstmord kommen, wie es 1994 in der Schweiz und Kanada und zuletzt im Dezember 1995 in Frankreich geschehen ist. Ungeklärt ist bis heute, wie dieses Risikopotential qualitativ und quantitativ einzuschätzen ist.
Den Praktiken der neuen Lebenshelfer liegt sowohl uraltes religiöses als auch hochmodernes psychologisches Menschenveränderungswissen zugrunde. Ungelöst ist bis heute die Frage, wie der demokratische Rechtsstaat, ohne in die verfassungsrechtlich gewährleistete Religions- und Weltanschauungsfreiheit und ohne in das diesen Freiheitsrechten vorgeordnete Grundrecht auf persönliche Selbstbestimmung und auf eigene Wahl der Lebensform einzugreifen, den Bürger vor riskanter Lebenshilfe schützen kann.
Mit dem Psycho- und Heilslehrenmarkt ist der Referent erstmals 1980 als Staatsanwalt dienstlich in Berührung gekommen. Angesichts der zunehmenden Zahl von Anzeigen gegen sog. Sekten, die von sich geschädigt fühlenden Bürgern bei der Staatsanwaltschaft München I eingingen, wurde in der dortigen Staatsschutzabteilung eine Sonderzuständigkeit geschaffen. Bemerkenswert ist, dass nicht nur Anzeigen von sog. Sektenopfern erstattet wurden, sondern auch solche gegen Sektenkritiker, denen von den Repräsentanten der sog. Sekten Volksverhetzung, Beleidigung und Religionsbeschimpfung vorgeworfen wurden.
Bereits damals hat sich abgezeichnet, dass das gesellschaftliche Konfliktpotential, das von den sog. Sekten ausgeht, mit den Mitteln des Strafrechts nicht zu beherrschen sein würde. Dies hat sich bewahrheitet. Damals war auch bereits erkennbar, dass die soziologische Einordnung dieser Gruppen als «Jugendreligionen» bzw. «Jugendsekten» unzutreffend ist. Dies zeigte eine Erhebung, die Engstfeld im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung im Jahre 1979 über die sog. Neuen Jugendreligionen bei Staatsanwaltschaften, Gerichten, Ordnungsbehörden, Jugendämtern und Sozialämtern in Westdeutschland durchgeführt hat1. Nach dieser Erhebung waren überwiegend junge Erwachsene und nicht Minderjährige Opfer der neuen Kultgruppen. Die irreführende Bezeichnung Jugendreligionen hatte sich jedoch als Kennzeichen für die neuen Kulte bereits im öffentlichen Bewusstsein, insbesondere auch in der Amts- und Rechtssprache so festgesetzt, dass ein Bezeichnungswechsel nicht mehr möglich gewesen ist.
Mit dieser Bezeichnung wurden allerdings auch der Begriff und die diesem Begriff zugrundeliegende religionswissenschaftliche Theorie von Staat und Gesellschaft übernommen. Diese heute noch herrschende Theorie behauptet aber, dass in den westlichen Industrienationen das durch die Säkularisation verdrängte Religiöse sich wieder Bahn breche; es handle sich bei der neuen sozialen Erscheinung um «Neureligiöse Bewegungen»2. Über dieses Erklärungsmodell bestand zwischen Theologen und Sozialwissenschaftlern Einigkeit. Es wurde deshalb auch von der deutschen Staatsrechtslehre und vom Staat übernommen3.
Der neue Begriff Jugendsekte war aber nicht nur ein Mittel der Beschreibung; er wurde sofort zum politischen Kampfbegriff der Antikultbewegung, mit dem man die sog. Sekten in das gesellschaftliche Abseits zu drängen versuchte. An dem Gebrauch dieses Begriffs als Waffe in einem oft intolerant geführten Kulturkampf gegen die sog. Sekten scheiden sich bis heute die Geister4.
Für die Einordnung einer Gruppe als (Jugend-) Sekte soll ihre totalitäre, d.h. antidemokratische Ideologie und das zur psychischen Regression führende Training maßgeblich sein. Da in einer pluralen Gesellschaft kein Konsens darüber zu erzielen ist, ab welchem Grad eine reglementierende Lebenspraxis als totalitär einzustufen ist, muss die Extension des Begriffs Sekte allein deshalb bereits unscharf bleiben. Das neue soziale Phänomen der sog. (Jugend-) Sekten ist daher in seinem Gefährdungspotential sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht recht greifbar5.
Hinzu kommt, dass der verfassungsrechtliche Gefährdungsmaßstab, an dem der Staat ein Einschreiten in der Form von Warnungen und etwaigen Verboten auszurichten hat, ein anderer ist, als der unserem kulturellen Mainstream entsprechende psychohygienische, den Psychologen und Pädagogen aufgestellt haben. Denn nicht alles, was gesundheitlich nicht empfehlenswert ist, kann im demokratischen Rechtsstaat verboten werden. Entscheidet sich ein volljähriger Bürger für eine nach psychohygienischen Grundsätzen ungesunde Lebensform, in der er einer autoritären Führung und Fremdkontrolle unterliegt, darf der Staat dagegen erst einschreiten, wenn hierdurch Grundwerte von Verfassungsrang verletzt werden oder deren Verletzung droht.
Religiöse und therapeutisch ausgerichtete Sondergruppen, die eine stark reglementierende Lebensform bevorzugen, fühlen sich deshalb gebrandmarkt, wenn die Antikultbewegung sie im Rundumschlag der totalitären (Jugend-) Sektenbewegung zuordnet und die Gesellschaft vor deren angeblicher Gefährlichkeit warnt. Als Reaktion hierauf ist es zwischen den so angegriffenen Gruppen trotz unterschiedlichster Lebensformen und Ideologien bekanntlich bereits zu Verteidigungsbündnissen gekommen. Der Kulturkampf zwischen der Antikultbewegung und der Kultbewegung hat sich in der Zwischenzeit soweit zugespitzt, dass es für einen deutschen Juristen, der weder Anhänger noch Sympathisant einer der sog. Sekten und Kulte ist, erheblicher Zivilcourage bedarf, eine dieser Gruppen vor Gericht zu vertreten oder vor Überreaktionen gegen diese Gruppen zu warnen. Er muss befürchten, von der Antikultbewegung als blauäugig naiv oder selbst als Sektierer abgestempelt zu werden.
Als der Referent 1980 bei der Staatsanwaltschaft die Ermittlungstätigkeit aufnahm, fand er ein Verfahren vor, das seinen damaligen Wissenshorizont trotz beruflicher Erfahrung mit Vormundschaften und Pflegschaften und trotz forensisch-psychiatrischer Kenntnisse, die er sich bei seinem Studium erworben hatte, bei weitem sprengte. Infolge eines dreitägigen Marathontrainings zur Persönlichkeitsentwicklung in einem Münchner Hotel waren zwei junge Frauen an einer Psychose erkrankt, die eine mehrmonatige stationäre Behandlung in einer Nervenklinik notwendig machte. Was für Experten eine Selbstverständlichkeit ist, dass es bei hartem Psychotraining zu seelischen Zusammenbrüchen bis hin zur echten Geisteskrankheit kommen kann, war meinen Kollegen und mir, aber auch den hierzu befragten Gerichtspsychiatern gänzlich unbekannt. Wir haben schließlich einen Fachmann gefunden, der uns die Zusammenhänge zwischen bestimmten Übungen und den hierdurch eintretenden gesundheitlichen Gefahren erklärt hat6. Bei dem Eintritt der Psychosen hat es sich um «Betriebsunfälle» gehandelt, die jederzeit bei prädisponierten Personen durch den Übungsstress ausgelöst werden können.
Durch diesen Fall klüger geworden, haben wir auch die scientologischen Übungstechniken psychiatrisch und gerichtsmedizinisch untersuchen lassen. Es stellte sich heraus, dass bei scientologischem Training hypnoide Zustände und Stress zum Zweck der Persönlichkeitsbeeinflussung und -Veränderung gezielt herbeigeführt werden und dieses Training deshalb alles andere als ungefährlich ist. Trainingsziel bei höherem scientologischen Training ist die «Exteriorisation», ein Erleben, als befände man sich ausserhalb seines eigenen Körpers. Dieser Zustand scheint übrigens, ohne dass man etwas glauben muss, durch bestimmtes Psychotraining bei den meisten Menschen auslösbar zu sein7.
Aufgrund der damals erholten psychiatrischen und gerichtsmedizinischen Gutachten begriffen wir auch, warum die Experten die neuen Lebenshelfer als Kulte bezeichnen und vor deren Praktiken die Öffentlichkeit warnen. Denn es scheint den neuen Lebenshelfern nicht um Religions- und Glaubenswechsel im Sinne einer rationalistischen Bewusstseinstheorie zu gehen, nach der wir seit der Aufklärung Religion und Weltanschauung lediglich als Ideologie definieren, sondern vor allein um Persönlichkeitsumformung, wie wir sie von der Psychotherapie her kennen. Dabei werden offensichtlich therapeutische Praktiken aus allen Zeiten und Kulturen in den verschiedensten Kombinationen zum Einsatz gebracht. Neu war uns Juristen, dass man mit psychotherapeutischen Techniken offensichtlich auch Unheil anrichten, d.h. Neurosen und bei vorgeschädigten Personen auch Psychosen erzeugen kann. Das bewusste Auslösen «spiritueller Krisen» zum Wachstum des Selbst scheint ein höchst riskantes Unternehmen zu sein8. Erst viel später haben wir begriffen, dass sog. Psychotechniken, wie sie in religiösen Kulten und in der Psychotherapie eingesetzt werden, ähnlich wie beim Medikamentengebrauch nicht von jedem gleich gut vertragen werden und dass jede Psychotechnik in der Hand eines Pfuschers Schaden anrichten kann. Es scheint hier so ähnlich zu sein wie bei einer Operation: In der Hand eines erfahrenen Chirurgen ist das Skalpell ein Segen, in der des unerfahrenen kann es schaden, unter Umständen auch töten.
Der damals begonnene Dialog mit Theologen und Humanwissenschaftern, aber auch mit sog. Sektenanhängern und Aussteigern lieferte uns immer mehr Puzzlesteine, aus denen wir uns eine Sektentheorie zusammenzusetzen versuchten. Dies wollte allerdings nicht so recht gelingen. Denn aus den nach und nach gewonnenen Daten liess sich wider Erwarten kein einheitliches Sektenbild formen.
Die große Schwierigkeit bestand zunächst darin, forensisch verwertbare Daten zu gewinnen. Ging man den Anzeigen auf den Grund, erwies sich das meiste als Gerücht. So entpuppte sich beispielsweise der angebliche Mord, der von einem Guru in einem Ashram in Indien begangen worden sein soll, als Todesfall infolge einer somatischen Erkrankung der Anhängerin. Als uns die Mutter einer psychotisch gewordenen Spitzenfunktionärin von Scientology eines Tages das sandverschmutzte Kleid ihrer aus den USA zurückgekehrten Tochter brachte und dabei behauptete, es handle sich um die Spuren einer scientologischen Zwangsbehandlung in einem Trainingscamp, sahen wir darin eine der üblichen unwahren Horror-Storys. Heute wissen wir allerdings von ausgestiegenen scientologischen Spitzenfunktionären, dass es derartige Trainingscamps zur «Rehabilitierung» und «Heilung» von scientologischen Versagern gegeben haben soll.
Erhebliche Probleme bereitete uns auch die Verifizierung der These der Sektenexperten, Sektenanhänger würden in den sog. Sekten einer Psychomutation» unterzogen. Bei unseren zahlreichen Begegnungen mit Funktionären der sog. Sekten, einfachen Anhängern und Aussteigern versuchten wir, Anzeichen für eine «Psychomutation» zu finden. Dies wollte nicht gelingen. Unsere Gesprächspartner waren in der Regel gänzlich unauffällig. Andererseits berichteten Eltern, ihre erwachsenen Kinder, die wir selbst als normal einschätzten, hätten sich, seit sie unter dem Einfluss eines Kults stünden, in ihrem Wesen gänzlich verändert. Dies erinnerte uns an gleichlautende Berichte von Eltern straffällig gewordener junger Erwachsener, die sich an eine links- oder rechtsextremistische Gruppe angeschlossen und dort politisch motivierte Straftaten begangen hatten. Für uns gehörte die sog. Psychomutation deshalb bald nicht mehr zum Psychopathologischen im Sinne einer wissenschaftlich-psychiatrischen bzw. wissenschaftlich-psychologischen Theoriebildung, sondern in den Bereich gesellschaftlicher Etikettierung abweichenden Verhaltens im Rahmen der Labelingtheorie.
Es handelt sich bei dem Begriff der Psychomutation, auch wenn der Großteil der Antikultbewegung an ihm bis heute festhält9, unseres Erachtens um ein ideologisches Phänomen, das sich mit der Psychiatrisierung von Dissidenten im damaligen Ostblock vergleichen lässt10.
Die Problematik des herrschenden Sektenbegriffs ergibt sich vor allem daraus, dass seltene Erkrankungsfälle, die sich mit einem psychiatrischen Theorieansatz erklären lassen, psychische Regression und normal psychischer Weltanschauungswechsel von der Antikultbewegung in ihrem politischen Abwehrkampf gegen neue Formen von Lebensbewältigungshilfe häufig in einen Topf geworfen werden. Man sollte statt von «Psychomutation» besser von «Konversion» sprechen.
Aber auch der Konversionsbegriff steht unter erheblicher weltanschaulicher Spannung. So unterscheiden P. Zulehner und M. Widl im Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen eine gute Form der Konversion von einer schlechten, die sie «regressive Konversion» nennen11. Der Streit um die richtige innere Lebensform und Weltanschauung zwischen der Antikultbewegung und der Kultbewegung setzt sich offensichtlich selbst hier noch fort.
Ein Indiz dafür, dass es sich bei der sog. Psychomutation um den normalpsychischen Vorgang einer Konversion handelt, ergibt sich auch aus der berüchtigten Praxis des Deprogramming, mit dem manchmal Eltern ihre Kinder, selbst wenn sie erwachsen sind, durch körperliche und psychische Zwangsanwendung aus den Sekten holen und sie von ihrer «falschen Programmierung befreien», um sie in die Welt des «Normalen» zurückzuholen12. Werden solche Deprogrammierer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, fehlt übrigens, wie wir aus eigener Beratungstätigkeit in zwei Fällen wissen, in der Regel jedes Unrechtsbewusstsein, da man doch für sein Kind nur das Beste gewollt habe. Das Deprogramming wird allerdings nur von einem kleinen Teil der Antikultbewegung für richtig gehalten. Diese kleine Gruppe von Radikalen hat selbst Züge des Sektiererischen und ist nicht gewillt, ihr Feindbild Sekte einer empirischen Prüfung zu unterziehen.
Neben dem religionswissenschaftlichen Erklärungsmodell gibt es allerdings auch einen sozialwissenschaftlichen Ansatz, der manche der als Sekten bezeichneten Gruppen wesentlich besser zu erklären vermag. T. Kübler und X. Cazard13 haben unlängst die provozierende These aufgestellt, dass es sich bei der Sektenentstehung um ein ganz weltliches Problem handle, nämlich um eine extreme Sozialisation durch moderne Techniken der Gruppenpsychologie und der psychischen Manipulation14. Diese Techniken würden in der modernen Gesellschaft überall eingesetzt, um uns in mehr oder minder offene Subsysteme der Gesellschaft einzubinden und um unsere Identität zu homogenisieren. Ob eine Gruppe als Sekte einzustufen ist, hängt nach dieser Theorie demnach davon ab, ob sie ein nach aussen offenes oder ein geschlossenes Interaktionssystem ist.
Die sog. Sekten wären hiernach in sich geschlossene Subsysteme, die sich bewusst aus unserer offenen, wegen ihrer Komplexität und Unübersichtlichkeit in jeder Lebensbeziehung riskanten Gesellschaft15 ausgegliedert haben. Der aus der Warte des Außenstehenden mit Misstrauen beobachtete Prozess der Homogenisierung und Kollektivierung durch eine einheitliche Lebensform, die Propagierung eines einheitlichen Gedankenguts bei gleichzeitiger Unterbindung kritischer Reflexion und Abwehr fremder ideologischer Einwirkung scheint aus der Innensicht der Sektenwelt wegen der Reduktion bedrohlicher Einflüsse von außen generell als heilsam erlebt zu werden. Probleme in der «heilen» Sektenwelt treten für die von der Umwelt abgekapselte Gemeinschaft jedoch immer dann auf, wenn diese von außen kritisiert und angegriffen wird; für den einzelnen Anhänger, wenn dieser einen anderen Weg, als den vom System zugelassenen gehen möchte. Erst beim Versuch, die Richtung zu wechseln und einen eigenen Weg zu gehen, wird für den zweifelnden Sektenanhänger gewöhnlich erkennbar. dass er wie in einer Fischreuse gefangen ist und durch das System total kontrolliert wird.
Dieses Phänomen betrifft aber nicht nur die sog. Sekten, sondern neuerdings alle Bereiche unserer Gesellschaft, die mit sog. postmodernen Wissen, das auf der Theorie der Kommunikation und Systemsteuerung beruht, geregelt und kontrolliert werden. Auf die Gefahr der Entmündigung der Gesellschaft durch den exzessiven Gebrauch dieser neuen Sozialtechnologien hat N. Postman hingewiesen (Das Technopol, 1991). Einen neuen Lagebericht über den Machtzuwachs des Technopols hat unlängst G. Ritzer gegeben (Die McDonaldisierung der Gesellschaft, 1993). In unserer Freude, auf der Grundlage der Kommunikations- und Systemtheorie gesellschaftliche Abläufe gut in den Griff zu bekommen und mit «Neuer Unternehmensphilosophie» alles von der Maschine bis zur Personalentwicklung effizient steuern zu können, haben wir übersehen, dass wir in die «Schöne neue Welt» Huxley's eingetreten sind16. Die neuen «Sekten» wären nach sozialwissenschaftlicher Erklärung demnach Modelle für eine Neue Gesellschaft und den psychotechnisch geschaffenen Neuen Menschen. Auf Scientology dürfte dieser Erklärungsansatz zutreffen. Fraglich ist es jedoch, ob spirituell ausgerichtete Gemeinschaften hierdurch richtig erklärt und gedeutet werden.
Der Sektenbegriff erweist sich demnach als höchst schillernd und bereitet daher uns Juristen, die wir gewohnt sind, Lebenssachverhalte auf ihre Fakten zurückzuführen, ausgesprochen Unbehagen.
Trotzdem wurde der von der Antikultbewegung geprägte Begriff (Jugend-) Sekte und die hinter diesem Begriff stehende religionswissenschaftliche Theorie auch zum Rechtsbegriff, der in unserer deutschen staatsrechtlichen Topographie bei Religion, Weltanschauung und Glauben angesiedelt ist. Durch die Wahl dieses religionswissenschaftlichen Paradigmas wurde, wie wir heute aufgrund des Paradigmenwechsels zum Kundenschutz für Dienstleistungen auf dem «Psychomarkt» wissen, der falsche Weg eingeschlagen. Mit dem Begriff Sekte lassen sich vorzüglich therapeutisch-spirituelle Primärgruppen beschreiben und deuten, nicht aber die neue Bewusstseinsindustrie, d.h. die Kommerzialisierung von Lebenshilfe und Persönlichkeitsentwicklung, die auf einem ständig größer werdenden Psychomarkt als Dienstleistungen außerhalb der Kirchen und der Schulpsychotherapie verkauft werden.
Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder haben, gedrängt durch die Antikultbewegung, ein Handlungsbedürfnis erkannt und bejaht. Das staatliche Handeln beschränkt sich mangels gesetzlicher Regelung derzeit auf Warnungen vor den sog. Sekten. Diese Warnungen stellen staatliche Eingriffe in die freie Entfaltung der Persönlichkeit und in die Weltanschauungsfreiheit dar und bedürfen daher verfassungsrechtlicher Legitimierung. Diese stützen die deutschen Gerichte auf die gesundheitliche Gefahrenabwehr und nehmen dabei eine Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter Glaubensfreiheit und Gesundheit vor. Im Hinblick auf die Möglichkeit des Eintritts schwerer psychischer Schädigungen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 15.08.1989 die Warnung der Bundesregierung vor «Jugendreligionen» und «Jugendsekten» - im entschiedenen Fall ging es um die «Transzendentale Meditation» - für zulässig erachtet (NJW 1989, 3269). Der deutsche Staat tut sich allerdings bei der Aufklärungsarbeit schwer. Denn die gebrandmarkten Lebenshelfer setzen sich gerichtlich zur Wehr. So liegt derzeit eine Antisektenbroschüre der Bundesregierung auf Eis. Ein Großteil der in der Broschüre genannten Gruppen hat sich mit ihrem Begehren auf vorläufigen Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht zunächst durchsetzen können. Erst unlängst hat jedoch das Bundesfamilienministerium im Anschluss an einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 22.3.1995 (NJW 1996, 143 ff.), in dem Scientology «menschenverachtende Anschauungen» vorgeworfen wurden, eine eigene Warnbroschüre über Scientology herausgebracht. Staatlicherseits ist jetzt über Scientology ein Umdenkungsprozess in Gang gekommen. Man hat erkannt, dass Scientology sog. postmodernes, d.h. auf Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation aufgebautes psychotechnisches Herrschaftswissen zur Eroberung von Gesellschaft und Staat erfolgreich einsetzt. Scientology wird deshalb zunehmend auch als verfassungsfeindliche politische Bewegung angesehen, deren Verbot gefordert wird. Bei Unterbleiben von Gegenmaßnahmen drohe eine «Orwellisierung» der Gesellschaft17.
Probleme bereitet in Deutschland auch die öffentliche Förderung von privaten Aufklärungsstellen (BVerwG NJW 1992, 2496). Ähnliche Probleme sind auch in der Schweiz aufgetreten. Das Schweizerische Bundesgericht hat bekanntlich anders als in Deutschland mit Urteil vom 14.02.1992 zugunsten der privaten Aufklärungsstelle infoSekta in Zürich entschieden (BGE 118 la, 46 ff). Die Entscheidung ist für deutsch(-Juristen insofern bemerkenswert, als das Schweizerische Bundesgericht sich anders als das Bundesverwaltungsgericht in Deutschland letztlich von dem religionswissenschaftlichen Sektenbegriff gelöst hat und zu einer humanwissenschaftlichen Betrachtungsweise übergeschwenkt ist. Dies ermöglichte ihm auch, einen nicht allein auf Gesundheitsgefahren abgestellten Missbrauchsbegriff zu verwenden. Warnungen vor unlauteren Methoden der neuen Lebenshelfer («rücksichtlose Missionierungsmethoden wie Tarnung, Manipulationstechniken», «Anwendung von Psychotechniken: Gruppendruck, Abschottung und Isolation, bewusstseinsverändernde Methoden», «psychische und materielle Abhängigkeit», «Verlust der familiären und bisherigen sozialen Bindungen», «Fremdbestimmung durch Kontrolle sämtlicher Lebensbereiche», «wirtschaftliche Ausbeutung») stellen hiernach keinen Verstoß gegen das Gebot der religiösen Neutralität dar, solange nicht Glaubensgemeinschaften oder bestimmte Glaubensauffassungen als solche angegriffen werden (a.a.O., S. 60). Die Entscheidung bejaht damit eine neue Aufgabe demokratischer Staaten, den Bürger vor Machtmissbrauch in Psychotherapie und Seelsorge zu schützen. In dieselbe Richtung geht nun auch die rechtspolitische Diskussion in Deutschland, einen Kundenschutz für den Konsumenten auf dem Psychomarkt zu schaffen.
Der vom Berufsverband Deutscher Psychologen im Anschluss an einen interdisziplinären Kongress «Psychomarkt - Sekten - destruktive Kulte» 1994 in Bonn geforderte Paradigmenwechsel von den « Sekten» zum «Psychomarkt», beginnt sich in Deutschland politisch durchzusetzen18. Bereits im November 1994 hat die Konferenz der Gesundheitsminister der Länder einstimmig den Beschluss gefasst, zu prüfen, ob eine gesetzliche Regelung für «Dienstleistungen gewerblicher Lebensbewältigungsangebote» geschaffen werden könne. Wir haben den Versuch unternommen, die Grundlagen eines solchen Psychomarktrechts zum Schutz der Kunden vor Ausbeutung durch gewerbliche Lebenshelfer zu entwerfen19. Die Kundenschutzidee, die an die immer gefährdete interpersonale Beziehung bei therapeutischen und seelsorgerlichen Dienstleistungen20 und nicht primär an die Ideologie von Personen und Gruppen anknüpft, scheint wesentlich sozialverträglicher zu sein, als das Aussenseiter erzeugende und damit diskriminierende Sektenparadigma, das die Gesellschaft zu entzweien beginnt. Von den neuen Lebenshelfern sind bisher gegen dieses Konzept keine ernsthaften Einwände geäußert worden.
Hinzu kommt, dass auf der Grundlage dieses neuen sozialwissenschaftlichen Konzepts, das die «therapeutische Interaktion» und nicht mehr «Glauben» bzw. «Weltanschauung» als Grundbegriff verwendet, Verhaltensregeln für den psychotherapeutischen und seelsorgerlichen Umgang miteinander diskutiert und im Wege der Vereinbarung festgelegt werden können. Hieraus lassen sich schließlich auch rechtliche Regeln zur Abwehr von Missbrauch therapeutischen Herrschaftswissen entwickeln und begründen. Die Anwendung der neuen Theorie scheint deshalb der Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens zu dienen und insgesamt demokratieverträglicher zu sein als die bisherige Sektentheorie, mit der wir nach derzeit noch diffusen Wertmaßstäben und einem möglicherweise durch Ideologie geprägten Sektenbild «gute» von «schlechten» Lebenshelfern zu unterscheiden versuchen.
1 Engstfeld, P.A., u.a., Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, München 1982, (2. Aufl.)
2 Hummel, R., Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Darmstadt 1994.
3 Badura, P., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz. Verfassungsfragen zur Existenz und Tätigkeit der neuen «Jugendreligionen», Tübingen 1989.
4 Hemminger, H., Was ist eine Sekte?, Mainz 1995.
5 Keltsch, J., im Protokoll Nr. 11 des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend vom 09.10.1991 zum Thema Jugendsekten, Bonn.
6 Schwarz, D., Gutachten vom 16.04.1980 über die Auswirkungen des Trainings nach «Earth Play» im Verfahren der Staatsanwaltschaft München I - 115 Js 4614/78. Das Trainigsprogramm knüpfte an Techniken von Werner Erhard (EST) und von L. Ron Hubbard (Scientology) an (a.a.0. S.14).
7 Dittrich, A., Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewusstseinszustände, Stuttgart 1985.
8 Grof, S./Grof, Ch. (Hg.), Spirituelle Krisen. Chancen der Selbstfindung, München 1990; Bragdon, E., Spirituelle Krisen. Wendepunkte im Leben, Freiburg i. B., 1991.
9 Haack, F.-W., Jugendreligionen. Zwischen Scheinwelt, Ideologie und Kommerz, München 1991.
10 Müller, U., in: Hermann J. (Hg.), Mission mit allen Mitteln - Der Scientology Konzern auf Seelenfang, Reinbek 1992, S. 163 ff.
11 Gasper, H., u.a. (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg, Basel, Wien 1990; Wiesberger, F., Bausteine zu einer soziologischen Theorie der Konversion, Berlin 1990.
12 Der Spiegel 28/1995 S. 94 ff; F.-W. Haack, a.a.0., S. 191 ff.; Roderigo, B., in: Gross, W. (Hg.), Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte, Bonn 1994.
13 Jeder ist abhängig- Die Rituale der Gesellschaft, Frankreich 1996, ARTE 21.04.1996.
14 Hassan, S., Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Reinbek 1993.
15 Keupp, H., in: Beck, U./Beck- Gernsheim, E. (Hg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994.
16 Huxley, A., Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt, München 1994 ( 3. Aufl.).
17 Jaschke, H.-G., Auswirkungen der Anwendung scientologischen Gedankenguts auf eine pluralistische Gesellschaft oder Teile von ihr in einem freiheitlich demokratisch verfassten Rechtsstaat, 1996; Junge Union Rheinland-Pfalz, Dokumentation. Das 2. Wormser Scientology Tribunal, 17. und 18. September 1994, Die politische Herausforderung durch totalitäre Bewegungen, 1995.
18 Gross, W. (Hg.), Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte, Bonn 1994, Reinke, R., Hat die Politik versagt? - Der Sekten- und Psychomarkt als Gegenstand politischer Sensibilität und staatlichen Handelns, in: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. (Hg.), Vom Sektenmarkt zum Psychomarkt, München (1996).]
Der Deutsche Bundestag hat im Mai 1996 eine Enquete-Kommission «Sog. Sekten und Psychogruppen» eingesetzt, die innerhalb von zwei Jahren eine Bestandesaufnahme des Phänomens durchführen und Handlungsvorschläge für den Staat erarbeiten soll.
19 Keltsch, J., in: Junge Union Rheinland-Pfalz, a.a.0., Konzept für eine gesetzliche Regelung der Dienstleistungen gewerblicher Lebensbewältigungsangebote (Psychomarktrecht).
20 Giese, E., Kleiber, D. (Hg.), Das Risiko Therapie, Weinheim/Basel 1989; Kramer, J., Alstad, D., Die Gurupapers, Zweitausendeins 1995; Schmidt-Lellek, Ch. J., Heimannsberg, B. (Hg.), Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, Köln 1995.