Wo endet die Religionsfreiheit? Theorie und Praxis staatlichen Schutzes im religiösen Weltanschauungskampf
Referat von Dr. Jürgen Keltsch, Richter am Oberlandesgericht München, gehalten am 6.10.1988 auf der Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung zum Thema "Neue Geister - Altes Denken - Religiosität in unserer Zeit"
Die Hanns-Seidel-Stiftung ist an mich herangetreten, hier zu referieren, weil ich über fünf Jahre in einer Großstadtstaatsanwaltschaft neben anderem damit beauftragt war, Straftaten, die im Bereich religiöser bzw. weltanschaulicher Betätigung begangen worden sind, zu verfolgen. Das Hauptkontingent der Anzeigen betraf das Tun von Glaubensgemeinschaften, die als Jugendreligionen1 bezeichnet werden. Als Experten für Jugendreligionen sehe ich mich deshalb nicht an, da ich nur auf Grund des beschränkten Kreises meiner Tätigkeit mir ein Urteil über die neuen Jugendreligionen bilden konnte. Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich mein Thema nicht konkreter gefasst habe, etwa so: "Kampf eines Staatsanwaltes gegen die sogenannten Jugendreligionen". Es gibt zwei Gründe gegen eine derartige Themenfassung:
Erstens: Meine Erfahrungen lassen sich nicht so leicht unter den Begriff eines Kampfes gegen rattenfängerische Geschäftemacher bringen, die am laufenden Band Straftaten begehen. Die in der Öffentlichkeit verbreitete Meinung, unter dem Deckmantel der Religion würden skrupellose Wirtschaftshaie als Heilsbringer getarnt auf Leutefang ausgehen, diese in den wirtschaftlichen Ruin treiben und sie seelisch krank machen, lässt sich nämlich für den Staat nicht so leicht bewahrheiten. Es handelt sich bei dieser Aussage um eine idealtypische Modellvorstellung. Die neuen Glaubensgemeinschaften, denen ich beruflich begegnet bin, haben zwar damit Ähnlichkeit, sie lassen sich jedoch nicht im Sinne einer logischen Identität ohne weiteres unter diese Aussage subsumieren.
Der zweite Grund ist folgender: Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, Anzeigen gegen Kritiker der sogenannten Jugendreligionen wegen Beleidigung, Religionsbeschimpfung etc. zu bearbeiten. Hieraus ergab sich notwendigerweise ein Wechsel des Gesichtspunktes. Eine derartige Aspektänderung ist für einen Juristen, der aufgerufen ist, einen Streit zu schlichten, nicht ungewöhnlich. Der Streitschlichter muss hierbei, von einem neutralen Standpunkt aus versuchen, den Streit gerecht zu entscheiden. Ungeachtet meines eigenen weltanschaulichen Standpunktes gegenüber dem Phänomen der sogenannten Jugendreligionen, möchte ich versuchen, von einer neutralen Warte aus sine ira et studio hier zu referieren.
Die Anzeigen gegen die Kritiker wurden damit begründet, diese betrieben Religionsverfolgung. Zum Beweis ihrer Behauptung legten die Anzeigeerstatter in einem Fall Gutachten von durchaus renommierten Religionswissenschaftlern und Verfassungsrechtlern vor. Diese attestierten der von den Kritikern als Wirtschaftsunternehmen enttarnten Organisation, sie sei eine Religionsgemeinschaft. Die gegen die Organisation ergriffenen staatlichen Maßnahmen stellten einen Eingriff in die durch Art. 4 GG geschützte Religionsfreiheit dar. Weiter wurde ausgeführt, der Staat habe sich mit seinen Maßnahmen gegen die Organisation zum Handlanger der Kirchen gemacht. Nun ist es für einen Juristen nicht ungewöhnlich, dass derselbe Lebenssachverhalt unterschiedlich dargestellt und gewertet wird. Recht bekommt hier dann derjenige, der seinen Tatsachenvortrag beweisen kann. Man ist zu glauben geneigt, dass im vorliegenden Fall die Entscheidung leicht zu fällen sein müsste. So gehurt es doch zum Allgemeinwissen, dass die sogenannten Jugendreligionen pseudoreligiös, destruktiv, persönlichkeitsverändernd, familienzerstörend, psychisch krank machend, kurzum gemeinschädlich seien. Ein Blick in ein Lexikon - beispielsweise das Evangelische Staatslexikon - unter dem Stichwort "Jugendreligionen" müsste eigentlich genügen, um die Entscheidung zu fällen. Ist dort die fragliche Organisation aufgeführt, ist die Entscheidung wohl nicht mehr schwer. Bei der Anzeige der fraglichen Organisation gegen ihre Kritiker muss es sich dann um ein taktisches Ablenkungsmanöver handeln, das nicht ernst zu nehmen ist.
So leicht hat es der Staat nicht. Für ihn gibt es nämlich keine a priori gültige negative Grundwahrheit aus dem Lexikon über eine der sogenannten Jugendreligionen. Müssen staatliche Maßnahmen gegen eine derartige Organisation getroffen werden, bedarf es, wie in jedem anderen Verfahren auch, eines bestimmten Gesetzes und eines bestimmten Sachverhalts, der mit gerichtsfesten Beweismitteln zu beweisen ist. Für den Staat liegt demnach, will er gegen eine der sogenannten Jugendreligionen zum Schutz der Allgemeinheit vorgehen, folgendes Entscheidungsproblem vor: Geht von der Organisation eine echte, d.h. konkrete Gefahr für Rechtsgüter aus oder handelt es sich nur um gefährliche Tendenzen, die rechtlich als abstrakte Gefahr zu bewerten sind. Nur im ersten Fall darf der Staat einschreiten, gegebenenfalls auch einen Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit vornehmen. Wie ist dieses Problem zu lösen? Ich möchte zunächst den rechtlichen und tatsächlichen Prozess der staatlichen Entscheidungsfindung skizzieren und anschließend über die Opferproblematik sprechen.
A.
I.
Die rechtliche Problematik der Entscheidungsfindung lässt sich am besten mittels eines Vergleiches begreiflich machen. Man stelle sich ein Kampfspiel mit mehreren Mannschaften, die gegeneinander antreten, vor. Die ausgetragenen Turniere stehen für die religiöse bzw. weltanschauliche Auseinandersetzung. Die Mannschaften haben aus ihren Reihen vor Spielbeginn Schiedsrichter ausgewählt. Diese repräsentieren, wie unschwer zu erraten ist, die Staatsorgane. Während eines Spieles erscheint einem der Schiedsrichter die Spielweise einer der Mannschaften regelwidrig. Er disqualifiziert sie insgesamt. Die disqualifizierten Spieler akzeptieren diese Entscheidung nicht. Sie halten sie für falsch. Sie werfen dem Schiedsrichter vor, er wolle mit seiner Entscheidung der gegnerischen Mannschaft, aus deren Reihe er komme, nur zum Sieg verhelfen. Wie soll sich unser Schiedsrichter, der seinerseits nicht klein beigeben möchte, andererseits jedoch gewillt ist, eine etwa falsche Entscheidung zu korrigieren, verhalten? Er wird zunächst seinen Schiedsspruch analysieren. Seine Entscheidung könnte aus zwei Gründen falsch sein: Entweder ist er von einem falschen Sachverhalt ausgegangen oder er hat eine unrichtige Regel auf den zutreffend festgestellten Sachverhalt angewendet. Staatsorgane können genauso wie unser Schiedsrichter bei ihren Entscheidungen in dieser doppelten Weise irren.
Für die Staatsorgane gibt es jedoch ein Problem, mit dem sich unser Schiedsrichter selten oder nie konfrontiert sieht. Es ist dies das Problem des noch nie entschiedenen Falles, einer Sachverhaltskonstellation, die bisher noch nie dagewesen ist und an die der Gesetzgeber bei der Gesetzgebung nicht gedacht hat, oftmals gar nicht denken konnte. Angesichts der Vielgestaltigkeit der modernen Religionen und Weltanschauungen kommt der Staat heute besonders häufig in die Lage, neue Fälle entscheiden zu müssen, bezüglich deren rechtlicher Einordnung Zweifel bestehen, für die es keine präzise gesetzliche Regelung, ja nicht einmal Präjudizien aus früher entschiedenen ähnlichen Fällen gibt. Da jedem menschlichen Denken, Sagen und Handeln unter Berufung auf Art. 4 GG eine religiöse bzw. weltanschauliche Zweckrichtung beigelegt werden kann, sind unzählige Kollisionen zwischen staatlichen Verhaltenspflichten und solchen, die eine Glaubensgemeinschaft ihrem Mitglied vorschreibt, möglich. Viele dieser Kollisionen muten einen merkwürdig an. Da geht es beispielsweise um den Versuch eines Lehrers, die auffällige Tracht seiner Glaubensgemeinschaft im Unterricht tragen zu dürfen.2 Seltsam erscheint auch der Streit in einem Staat der USA darüber, ob zugunsten der Schöpfungsgeschichte die Evolutionstheorie aus dem Schulunterricht zu verschwinden habe. Ein für die Bundesrepublik bedeutsames Kollisionsproblem ergibt sich aus der von einer Glaubensgemeinschaft durchgeführten Laienpsychotherapie. Diese wird von der Organisation als Beichte bezeichnet. Kann sie damit staatlichen Heilbehandlungsvorschriften entzogen werden?
Zur Entscheidung derartiger Kollisionen gibt es zwei Lösungsmodelle. Die erste Lösungsmöglichkeit ist folgende: Der Staat ignoriert die Gebote und Verbote der Glaubensgemeinschaft und entscheidet allein nach seinen Normen. Bei der zweiten Lösungsmöglichkeit setzt der Staat seine Norm nicht einfach durch, sondern berücksichtigt bei seiner Entscheidung auch die der staatlichen Norm entgegenstehende Norm der Glaubensgemeinschaft. Er erkennt damit eine Normkollision an. Seine Entscheidung fällt in diesem Fall durch Dezision. Es handelt sich hierbei um eine Art salomonische Entscheidung auf Grund einer Güterabwägung zwischen der Religionsfreiheit der einen und den widerstreitenden Grundrechten der anderen Bürger bzw. den etwa angegriffenen Grundwerten der Verfassung. Der Staat muss sich hierbei fragen, ob die Zulassung eines bestimmten Verhaltens der Glaubensgemeinschaft auf Kosten der Grundrechte anderer oder der mit Verfassungsrang ausgestatteten Gemeinschaftsinteressen geht. Dies ist dann der Fall, wenn es zu einer "fühlbaren Beeinträchtigung" fremder Rechtsgüter im Verfassungsrang kommt3. Die Zulassung einer Abweichung von einer allgemeinen Norm bedeutet für den hierdurch Begünstigten immer die Erweiterung von dessen Handlungsfreiheit, die dem anderen Mitbürger oder der Gemeinschaft gefährlich werden kann, jedoch nicht immer gefährlich zu werden braucht. Die erste Lösungsmöglichkeit ist mit Art. 4 GG nicht zu vereinbaren. Dies ergibt sich aus der einfachen Erwägung, dass der Staat, falls er nicht das Normverständnis der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften und deren Mitglieder zu berücksichtigen bräuchte, durch eine geschickte Definition von Religion und Weltanschauung ihm unpassende Glaubensarten aus dem Schutzbereich des Art. 4 GG einfach herausdefinieren könnte. Einen solchen Versuch hatte der Verwaltungsgerichtshof in München unternommen. Er hat nämlich bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verbots- und Auflösungsverfügung betreffend den rechtsradikalen Bund für Gotterkenntnis zwischen "echter" und "unechter" Weltanschauungsgemeinschaft unterschieden. Dies wurde vom BVerwG mit Recht kritisiert4. Denn staatliche Maßnahmen gegen die so ausgeklammerten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wären dann begrifflich keine Eingriffe in die nach Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit mehr. Dem hat das Bundesverfassungsgericht vorgebeugt. Es verlangt, dass bei staatlichen Entscheidungen das Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben dürfe5.
Eine unzulässige Einschränkung der Glaubensfreiheit wäre es auch, wenn man bei einer Glaubensgemeinschaft diese Freiheit nur für kultische Handlungen, nicht aber auch für andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens einräumen würde. Einer derartigen Einschränkung des Schutzbereiches von Art. 4 GG hat das Bundesverfassungsgericht eine klare Absage erteilt6.
Diese Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist auf Kritik gestoßen7. Sie ist jedoch nicht haltbar.
Denn jeder, der glaubt, eine abschließende juristisch brauchbare Definition für religiöses und weltanschauliches Verhalten - sei es als Ganzes, sei es nach einem geschützten Kernbereich und einem ungeschützten Außenbereich - gefunden zu haben, muss sich entgegenhalten lassen, dass seine Definition und Subsumtion, gleich wie sie auch immer aussieht, zirkelhaft ist.
Da der Definierende, selbst wenn es sich um einen um Neutralität bemühten Staatsvertreter handelt, letztlich doch immer auf dem Boden der eigenen Weltanschauung definiert, spiegelt jede derartige Begriffsbestimmung in irgendeiner Weise die eigene Weltanschauung des Definierenden wieder. Wir stehen hier vor einem Fall des bekannten Paradoxon des Münchhausen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht. So ist bereits der Definitionsakt selbst immer ein Akt weltanschaulicher Betätigung. Letztlich ist auch die Entscheidung des vorher noch nie entschiedenen Falls, wenn eine Gesetzeslücke besteht oder im gesetzlichen Tatbestand unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten sind, weltanschauliches Tun, durch das unsere Rechtsordnung in einer ganz bestimmten Weise weltanschaulich präzisiert wird. Stammen solche Entscheidungen von unseren höchsten Gerichten, bilden sie ähnlich wie Gesetze neue Verhaltensmaßstäbe für die Rechtsgemeinschaft. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass bei der Auswahl unserer Verfassungsrichter, die die unbestimmten Rechtsbegriffe unserer Verfassungsnormen interpretieren müssen, auch auf die weltanschauliche Couleur abgestellt wird.
Wenn heute Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes als "Zusammenschlüsse von Personen mit gemeinsamen religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen von Sinn und Bewältigung des menschlichen Lebens, die ihren einer Religion oder Weltanschauung zugeordneten Konsens in umfassender Weise bezeugen" definiert werden8, handelt es sich auf Grund der in der Definition gebrauchten unbestimmten Begriffe um eine Leerformel. Durch sie kann nicht mittels einer nur formallogischen Subsumtion bestimmt werden, ob eine Gemeinschaft, die sich als Religionsgesellschaft versteht, tatsächlich eine solche ist oder nicht. Die Zuordnung einer bestimmten Gemeinschaft zur Klasse der Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften ist hier immer ein wertender Akt, d.h. eine Dezision.
Eine inhaltliche Bestimmung dessen, was religiöses und weltanschauliches Verhalten ausmacht, ist allenfalls durch Hinweis auf bekannte Religionen und Weltanschauungen mit dem Satz: "Solche und ähnliche" möglich. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Religion und Weltanschauung sich nicht nur in theologischer oder philosophischer Reflexion über Sinn und Ziel menschlicher Existenz in der Beantwortung der drei Fragen Kant's "Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?" ausdrückt, sondern sich in vielfältigen - für das abendländische Verständnis oftmals nicht verstehbaren - Kulten zur Darstellung bringt. In diesen geht es häufig gerade darum, die Ratio und das diskursive Denken auszuschalten. Selbst wenn derartige Erscheinungsformen der Religiosität manchmal nicht so recht in unser ratiomorphes abendländisches Weltbild, das im religiösen Bereich vor allem verbalrational bestimmt ist, passen wollen, müssen wir uns mangels eigener einschlägiger religiöser Erfahrung davor hüten, den abergläubisch oder unverständlich erscheinenden Praktiken vorschnell religiösen Charakter abzusprechen. Hierzu gehören sicherlich manche östlichen Meditationstechniken, animistische und okkulte Praktiken. Wenn hier der Verstehenshorizont des Staatsvertreters fehlt, muss er sich gutachterlicher Hilfe bedienen.
Dass hier die Grenze zwischen geschäftemachender betrügerischer Scharlatanerie und echter Religiosität - mag sie uns vom Boden unserer Weltanschauung aus auch als Aberglaube erscheinen - nur schwer zu ziehen ist, bedarf keiner Begründung9. Oft wird es hier jedoch einer Grenzziehung gar nicht bedürfen. So ist es für eine Unterbindung des Verkaufes geringwertiger Erdstrahlenabwehrgeräte zu einem hohen Preis nicht erforderlich, zu erforschen, ob der Verkäufer an die Wirksamkeit seines überteuerten Produktes glaubt oder nicht. Die Güterabwägung ergibt hier zweifelsfrei, dass die Freiheit; einen Aberglauben haben zu dürfen, dem Schutz der Rechtsgemeinschaft vor Vermögensschäden weichen muss. Sehr viel schwieriger ist die Entscheidung jedoch, wenn sogenannte religiöse Dienstleistungen, die psychotherapieähnlich sind, gegen horrendes Entgelt, von einer Organisation zur Verfügung gestellt werden, zumal dann, wenn eine Spendenquittung ausgestellt wird.
Da nach Bundesverfassungsgericht10 nur eine Betätigung des Glaubens zu schützen ist, "die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat", ist es, selbst wenn man das mit abendländischen Wertvorstellungen kollidierende Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft zu verstehen versucht und vielleicht auch versteht, notwendig, dass die Güterabwägung nach abendländischen Wertvorstellungen zu erfolgen hat. Trotzdem dürfte es bei Zugrundelegung dieses Maßstabes nur schwer möglich sein, einer Organisation, die ihre sogenannten Kultleistungen wie ein Wirtschaftsunternehmen gegen Entgelt erbringt - Religion bzw. Weltanschauung also gewissermaßen verkauft - allein deshalb den Schutz von Art. 4 GG von vornherein zu versagen11. Ein Schutz ist hier nur dann zu verneinen, wenn das Entgelt dem gewerblichen Gewinnstreben einzelner privilegierter Mitglieder der Gemeinschaft dient12. Dass hier erhebliche Beweisschwierigkeiten bestehen, liegt auf der Hand. Ein Mittelzufluss an privilegierte Funktionäre wird nämlich regelmäßig auch innerhalb der Organisation so getarnt sein, dass die Nichtprivilegierten hiervon keine Kenntnis haben. Hinzu kommt, dass derartige Einnahmen von den privilegierten Funktionären zu versteuern wären. Da eine Offenlegung der Einnahmen gegenüber den Finanzbehörden den übrigen Mitgliedern nicht verborgen bliebe, besteht ein Anreiz, derartige Einnahmen auch gegenüber dem Staat zu tarnen, also Steuern zu hinterziehen. Handelt es sich um eine multinationale Organisation, liegt es in der Natur der Sache, dass derartige Steuerhinterziehungen nur schwer aufklärbar sind13.
Wenn auch der Staat auf das Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft achten muss, bedeutet dies nicht, dass eine Gruppierung, die lediglich unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit sich Privilegien verschaffen möchte, sich auf den Schutz des Art. 4 GG berufen kann14. Umgekehrt ist es aber auch nicht erlaubt, einer suspekten Glaubensgemeinschaft, die ihre Entstehung nicht einem religiösen Stifter, sondern etwa einem geschäftstüchtigen Schriftsteller verdankt, deshalb den Schutz von Art. 4 GG zu entziehen15. Dass hier die Entscheidung angesichts der fließenden Übergänge nicht leicht ist, versteht sich von selbst. So erzählte mir ein abgesprungener Spitzenfunktionär einer solchen Gemeinschaft, dass er nach dem gleichen Rezept, wie er früher Religion verkauft habe, jetzt Kochtöpfe mit "message" veräußere. Produktwerbung mit Weltanschauung zu verknüpfen sei der neue Geheimtipp guter Verkaufsstrategen. Bei der Bewertung solch schillernder Phänomene ist zu berücksichtigen, dass auch am Schreibtisch erfundene Religionen mit der Zeit durch die Anhängerschaft mit Leben erfüllt werden können und auch existenzfähig bleiben, wenn der Große Meister gestorben ist. Gibt es Abspaltungen von einer derartigen ursprünglich pseudoreligiösen Bewegung, dürfte dies ein Indiz dafür sein, dass das künstliche Produkt nicht mehr nur eine Marionette geschäftstüchtiger Drahtzieher im Hintergrund ist, sondern tatsächlich Eigenleben hat. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn bei derartigen Abspaltungen das merkantile Moment in den Hintergrund tritt.
Transponieren wir das soeben Dargelegte auf das Paradigma des weltanschaulichen bzw. religiösen Kampfspiels, so bedeutet dies, dass der Schiedsrichter oft gar nicht weiß, ob gerade ein solches Spiel stattfindet oder ein ganz anderes. Welche Spielregel soll er nun aus der Tasche ziehen? Erkundigt er sich bei sachkundigen Zuschauern oder seinen Linienrichtern, wird er von diesen die unterschiedlichsten Antworten erhalten.
II.
Ganz so schwierig, wie man vielleicht meinen möchte, ist jedoch die Aufgabe des Staates, hier sein Wächter- und Schutzamt auszuüben, nicht. Für den Staat ist nämlich in der Regel nicht das Verhalten einer Glaubensgemeinschaft als Ganzes, sondern meist nur ein Ausschnitt des Gesamtverhaltens, nämlich eine bestimmte Handlung, die mit einer staatlichen Verbots- oder Gebotsnorm kollidiert, Beurteilungs- und Bewertungsgegenstand. Es finden demnach durch den Staat grundsätzlich nur von Fall zu Fall Teilbewertungen einzelner Handlungen statt. Eine Bewertung einer Glaubensgemeinschaft als solcher durch den Staat ist unzulässig. Dies folgt aus der Verfassung.
1. Nach Art. 4 GG hat der Staat nämlich die religiöse und weltanschauliche Betätigung möglich zu machen und diese zu erhalten. Er darf sich jedoch, soweit von der Glaubensgemeinschaft die allgemeinen Gesetze eingehalten werden, nicht gestaltend, grundsätzlich nicht einmal bewertend in die Glaubensvorstellungen und -entscheidungen einerseits und in die Praktizierung des Glaubens durch Bekenntnis und Kult andererseits einmischen (Art. 140 GG, Art. 136 WV).
Der Staat begegnet den Glaubensäußerungen seiner Bürger somit immer in zwei Handlungsformen, entweder in Wort oder in Tat. Welche Interessenkonflikte zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften sind möglich?
1.1. Solange Weltanschauung und Religion nur dargelegt werden - mögen sich hier auch die abstrusesten Vorstellungen zeigen - gebietet es Art. 4 GG dem Staat, dies hinzunehmen. Es sind damit auch sämtliche abergläubischen und sektiererischen Vorstellungen geschützt. Erst dann, wenn im Rahmen der weltanschaulichen und religiösen Auseinandersetzung Äußerungen als Kampfmittel gegen Mitbürger eingesetzt werden, die den Tatbestand eines Äußerungsdeliktes (z.B. Verleumdung, falsche Anschuldigung, Religionsbeschimpfung etc.) erfüllen, oder eine Anstiftung zu strafbaren Handlungen enthalten, darf der Staat eingreifen. Keine Religions- und Weltanschaungsgemeinschaft kann für solches Verhalten eine Privilegierung für sich in Anspruch nehmen. Durch derartige Äußerungen wird nämlich regelmäßig in die Grundrechte der anderen Bürger eingegriffen.
Als bedauerlich wird es von manchen empfunden, dass die Anwerbung für eine Glaubensgemeinschaft - diese stellt nicht selten eine Abwerbung dar - von der durch die Abwerbung in ihrem Bestand bedrohten Gemeinschaft im heutigen weltanschaulich neutralen Staat rechtlich nicht mehr verhindert werden kann. Anders war dies noch im 18. Jahrhundert, als der Staat mit seiner Strafgewalt das christliche Glaubensgut schützte (vgl. Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 1.C.7. §§ 4-6). Die Möglichkeit des Wechsels von Glaubensvorstellungen und Glaubensgemeinschaften ist aber gerade wesentlicher Bestandteil des Grundrechts auf Religionsfreiheit des Einzelnen. Hiergegen kann sich die Glaubensgemeinschaft, obwohl sie selbst unter dem Schutz des Grundgesetzes (Art. 4, 140 GG; Art. 137 WV) steht, nicht zur Wehr setzen. Das Recht, seinen Glauben zu verkünden, beinhaltet gerade auch das Recht, für die eigenen Glaubensvorstellungen Anhänger zu werben. Hierdurch entsteht die weltanschauliche Auseinandersetzung, bei der dem Staat nur Schiedsrichterfunktion zukommt.
Der Staat hat bei der An- und Abwerbung nur darüber zu wachen, dass dies in der richtigen Form geschieht.
So darf eine Organisation, die ihre Weltanschauung in Büchern und Kursen verkauft, nicht als Idealverein in der Öffentlichkeit auftreten16. Sie muss ihr Gewerbe anmelden17. Eine Straßenwerbung darf nur nach vorheriger Erlaubnis durchgeführt werden18. Die Werbung für gegen Entgelt angebotene Bücher und Kurse durch Ansprechen von Straßenpassanten verstößt gegen das UWG19. Ein religiöser und weltanschaulicher Zweck steht jedoch einer Werbung im öffentlich rechtlichen Rundfunk z.B. für eine Missionsschrift nicht entgegen20.
Die Werbung muss inhaltlich zutreffend, also redlich sein. Verboten sind somit irreführende Werbung nach dem Heilmittelwerbegesetz (§ 3) und dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (§ 4). Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschriften ist, dass Religion bzw. Weltanschauung wie z.B. bei der Scientology Church von der Glaubensgemeinschaft verkauft wird21.
Verboten sind bei der Werbung selbstverständlich Betrug, Nötigung und (kurzzeitige) Freiheitsberaubung, ferner sittlich verwerfliche Formen der Werbung, etwa) das Versprechen einer Prämie für den Glaubenswechsel22. Auch zivilrechtliche Sanktionen, durch die auf die Glaubensfreiheit - sei es zum Verbleib, sei es zum Wechsel einer Glaubensgemeinschaft - eingewirkt wird, sind verboten und deshalb unwirksam (§ 138 BGB)23. Hieraus ergibt sich auch, dass ein Rückwerbeversuch unter Zwang, das sogenannte Deprogramming, verboten ist. Es gibt hierfür, selbst wenn es von Angehörigen durchgeführt wird, keine Rechtfertigung oder Entschuldigung durch den Staat24. Solche Rückgewinnungsversuche sind in der Bundesrepublik selten25.
Dass die sanfte, d.h. listige Anwerbung weniger Angriffsfläche für den Staat bietet als eine Köderung, bei welcher Druck ausgeübt wird, hat sich zwischenzeitlich herumgesprochen. Bei der Anwerbung werden hierbei sämtliche Tricks der modernen Verkaufspsychologie, die neben dem rationalen Argument vor allem die emotionale auf das Unterbewusstsein zielende Wirkung bevorzugt, eingesetzt26. Die Werber erhalten häufig eine entsprechende Schulung, bekommen Werbeprämien in Form von Gebührenvergünstigung für den nächsten Kurs, dessen Besuch notwendig ist, um das religiöse Endziel, z.B. die "Befreiung" (bei den Scientologen) zu erreichen. Wird die List erkannt, hat der Angeworbene häufig bereits so weit Feuer gefangen, dass er freiwillig bleibt. Die Zahl der Anzeigen ist hier während meiner Tätigkeit gering gewesen. Die eingesetzten Psychotechniken bewirken nämlich von Beginn an spürbare Veränderungen im psychischen Befinden, die die Neugier des Geworbenen erwecken, was sich noch alles mit ihm ereignen werde. Das Hineingleiten in die Abhängigkeit hat nach Erzählungen hiervon Betroffener häufig die Form eines bewusst und zunächst auch kritisch miterlebten Selbstexperiments, etwa vergleichbar mit den Erfahrungen, die ein Jugendlicher sammelt, wenn er sich langsam an den Genuss von Alkohol gewöhnt. Von einem schlagartigen Kontrollverlust hat mir keiner meiner Gesprächspartner berichtet. Dies mag aber von Organisation zu Organisation verschieden sein. Die Beantwortung dieser Frage muss dem Psychiater vorbehalten bleiben. Dass eine Organisation, deren Psychotechniken nur schrittweise das Kontroll- und Realitätsbewusstsein verändern, als weniger gefährlich einzustufen ist als eine solche, durch deren Praktiken dies möglicherweise schlagartig geschähe, bedarf keiner näheren Begründung.
Ein Absprung von der Organisation fand häufig dann erst statt, wenn die finanzielle Belastung zu groß wurde. Derartige durch ideologische und psychische Beeinflussung herbeigeführte Veränderungen kommt übrigens rechtlich in der Regel kein Krankheitswert zu,, so dass die Geschäftsfähigkeit und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beeinflussten grundsätzlich erhalten bleibt. Die Errichtung einer Pflegschaft oder einer Entmündigung sind daher keine tauglichen Schutzmittel für in Abhängigkeit geratene Anhänger einer der neuen Glaubensgemeinschaften.
In manchen Strafanzeigen wurde auch Hypnose oder Drogenbeibringung behauptet. Dies ließ sich jedoch in den angezeigten Fällen nicht verifizieren. Um hier ein objektives Bild zu zeichnen, darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich manche Anzeigen im Laufe der Ermittlungen als schlichte Schauermärchen entpuppten.
1.2. Wie sich aus dem zur Anwerbung Gesagten bereits entnehmen lässt, ergibt sich aus Art. 4 GG keine Privilegierung der Handlungen, die wegen ihrer Gemeinschädlichkeit vom Staat verboten sind. Hierunter fallen alle strafbaren Handlungen. Echte Konfliktfälle sind nur dann denkbar, wenn sich aus einem Gesetz ein Handlungsgebot ergibt, z.B. die Aufforderung zu einer Hilfeleistung. Unterbleibt eine derartige gebotene Handlung, etwa eine lebenserhaltende Operation oder eine Bluttransfusion aus religiösen Gründen, hat der Staat mittels Güterabwägung zu entscheiden, ob das Verhalten des Gläubigen ausnahmsweise im Einzelfall entschuldigt werden kann. Hier ist es durchaus möglich, dass auch zugunsten des Gläubigen entschieden wird, wenn erwiesen ist, dass er aus einem echten Gewissenskonflikt heraus das staatliche Gebot übertreten hat. (So z.B. das Bundesverfassungsgericht im Fall einer unterlassenen Bluttransfusion27. Das BVerfG hat als obiter dictum im Bluttransfusionsfall ausgeführt, dass auch eine Privilegierung für die Übertretung einer Verbotsnorm in Frage komme. Selbst wenn, man dieser Auffassung folgen würde, dürfte in der Praxis eine Privilegierung daran scheitern, dass der Gläubige seinen Gewissenskonflikt, der ihn zu einer Verbotsübertretung gezwungen haben soll, kaum beweisen könnte. Dies bedeutet: Die durch den Guru im Straßenverkehr begangene fahrlässige Tötung auf der Eilfahrt ins Ashram, um dort durch sein Gebet - erfolgreich versteht sich - den Weltuntergang abzuwehren, bleibt strafbar. Eine Vergewaltigung im Rahmen eines orgiastischen Kultes ist nicht allein durch die Mitgliedschaft in der solche Orgien feiernden Glaubensgemeinschaft rechtfertigbar. Wird bei einem Exorzismus vorn Exorzisten übersehen, dass die angeblich Besessene in Lebensgefahr schwebt und stirbt diese, kann er hierfür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
1.3. Abgesehen von der Privilegierungsfrage bei staatlichen Verboten und Geboten stellen sich für den Staat Glaubensgemeinschaften und ihre Mitglieder als Rechtssubjekte wie andere auch dar, die in den vielfältigsten Rechtsbeziehungen mit anderen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft stehen. Die sich aus diesen allgemeinen Rechtsbeziehungen ergebenden Rechte und Pflichten gegenüber Mitbürgern und Staat richten sich hierbei selbstverständlich nach den allgemeinen Gesetzen. Eine Privilegierungsproblematik tritt hier selten auf. Der Staat hat nur, sollte er hier Rechtsstreitigkeiten schlichten müssen, auch das Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zu berücksichtigen.
2. Hieraus ergibt sich, dass der Staat nur bei ganz bestimmten Lebenssachverhalten in die Lage kommt, sich mit dem jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Verhalten einer Gemeinschaft oder eines Mitgliedes auseinandersetzen zu müssen. Der Umfang und die Intensität der Bewertung richten sich hierbei nach dem Einzelfall. Folgende hauptsächliche Fallgruppen kommen hierin Frage:
2.1. Die Privilegierung gegenüber staatlichen Geboten und Verboten. Diese Problematik wurde bereits ausführlich besprochen.
2.2. Die rechtliche Auseinandersetzung zwischen einem Anhänger und seiner Glaubensgemeinschaft: Eine sachgerechte Würdigung durch die Zivil- und Arbeitsgerichte, ob etwa Verträge sittenwidrig oder vorzeitig kündbar sind, ist nur dann möglich, wenn die Leistungen und Pflichten aus dem konkreten Rechtsverhältnis auf ihre Verträglichkeit mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes geprüft werden. Eine etwaige negative Bewertung (die zu nachteiligen Rechtsfolgen für die Gemeinschaft führt) stellt in diesem Fall keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar28.
2.3. Auch bei der Regelung des Sorge- und Umgangsrechts für gemeinsame Kinder nach Ehescheidung kann die Religionszugehörigkeit eines Elternteils von Bedeutung sein, wenn etwa hierdurch das Kindeswohl konkret gefährdet würde29. Auch bei einer Entlassung aus einem Arbeitsverhältnis aus religiösen Gründen kann es zu einer staatlichen Bewertung von religiösem Verhalten kommen30.
2.4. Auseinandersetzungen einer Glaubensgemeinschaft mit ihren Kritikern: Es gilt hier dasselbe. Ob Kritiker ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG etwa missbraucht haben, kann nur festgestellt werden, wenn das angegriffene Gedankengut und Verhalten der Organisation durch den Staat überprüft werden, andernfalls wäre die erforderliche Güterabwägung nicht möglich31.
2.5. Staatliche Bewertungen des Verhaltens einer Glaubensgemeinschaft sind auch bei verwaltungsrechtlichen Verbotsverfügungen oder Erlaubnissen notwendig, etwa einer gewerblichen Untersagung32, einer Straßensammlung33 oder einer Gaststättenerlaubnis34.
2.6. Eine Bewertung des Verhaltens einer Glaubensgemeinschaft ist auch unumgänglich, wenn diese und ihre Mitglieder steuerliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen wollen. Erinnert sei hier an eine Feststellung der Gemeinnützigkeit35 oder die Anerkennung der Abzugsfähigkeit von Spenden an eine derartige Gemeinschaft36.
2.7. Zu einer staatlichen Bewertung von Glaubensgemeinschaften kann es auch kommen, wenn es um die Pflicht zur Beitragszahlung an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung geht. "Geistliche Genossenschaften" und ähnliche Gemeinschaften sind nämlich beitragsfrei (§ 2 Abs. 1 Nr. 7 AVG)37. Bei Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft kann der Ausscheidende eine Nachversicherung verlangen.
2.8. Wird von einem Mitglied einer Glaubensgemeinschaft eine Freistellung vom Wehrdienst als Geistlicher verlangt (Art. 4 Abs. 2, 140 GG, Art. 137 WV, § 11 Abs. 1 Nr. 3 WehrpflG) muss der Staat prüfen, ob die behauptete Geistlicheneigenschaft nicht vorgeschoben ist38.
2.9. Schließlich enthalten auch Warnungen des Staates vor einer bestimmten Glaubensgemeinschaft Wertungen. Derartige Warnungen sind aber nur dann zulässig, wenn der Staat beweisen kann, dass von einer Glaubensgemeinschaft und ihren Mitgliedern konkrete Gefahren ausgehen, etwa häufig Gesetzesverstöße begangen werden oder bewiesen ist, dass infolge des praktizierten Kultes häufig echte Gesundheitsschäden, z.B. Geisteskrankheiten hervorgerufen werden. Nur solche zur konkreten Gefahrensabwehr ausgesprochene Warnungen - es muss also mit einer Schädigung ernsthaft zu rechnen sein - haben, falls sich die betreffende Glaubensgemeinschaft gerichtlich hiergegen zur Wehr setzt, die Chance, vor Gericht Bestand zu haben. Andernfalls würde eine derartige Warnung als unzulässiger staatlicher Eingriff in die Religionsfreiheit vom Verwaltungsgericht aufgehoben werden müssen39. Problematisch ist auch die Förderung von gegnerischen Einrichtungen durch den Staat. Auch hierin kann ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht liegen40.
III.
Das Rezept, der Staat brauche immer nur zunächst die allgemeine Gesetzeslage zu prüfen und dann in einem zweiten Schritt nach Güterabwägung zu entscheiden, ob wegen Art. 4 GG für eine Glaubensgemeinschaft eine Ausnahme gemacht werden müsse, erscheint recht simpel. Die Verwirklichung dieses Rezepts stößt in der Praxis jedoch auf folgende Schwierigkeiten: Bei staatlichen Beingriffen weisen die betroffenen Glaubensgemeinschaften regelmäßig darauf hin, dass der gesetzliche Tatbestand überhaupt nicht erfüllt sei. Ihr Tun sei etwas ganz anderes. Sie verweisen dabei auf die in der Glaubensgemeinschaft verwendete religiöse Terminologie. Bereits der Akt der staatlichen Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand; der notwendigerweise dazu führt, dass die sog. Kulthandlung mit der sich aus dem Gesetz ergebenden Bezeichnung beschrieben wird, empfinden die Betroffenen regelmäßig bereits als Eingriff in die Religionsfreiheit. So wehren sich beispielsweise die Scientologen dagegen, wenn man ihr Auditing als psychotherapeutische Behandlung bezeichnet. Aus der Sicht des Nichtgläubigen, insbesondere der des Kritikers, erscheint ein derartiger Einwand oft als eine Schutzbehauptung, mit der sich eine Auseinandersetzung nicht lohne. Das Problem wird, soweit es überhaupt als solches erkannt ist, auf der Ebne der unterschiedlichen Bezeichnung abgehandelt und alsbald ad acta gelegt. Bei genauerer Betrachtung sieht man jedoch, dass es sich hier nicht allein um einen Bezeichnungs-, sondern auch um einen Klassifizierungsstreit handelt, der die Rechtsfindung berührt.
Sollen Gegenstände oder Handlungen nach ihrer Gleichheit geordnet, d.h. klassifiziert werden, gibt es je nachdem, auf welche gemeinsamen Merkmale man abstellt, die verschiedensten Ordnungsmöglichkeiten. Hieraus folgt auch, dass ein und dieselbe Handlung den verschiedensten Begriffen - diese sind ja bekanntlich Stellvertreter für die Klassen - untergeordnet werden kann. Je nachdem, auf welche Merkmale man abstellt, kann so ein und dieselbe verbale Kommunikation zwischen zwei Menschen als Gespräch, als psychotherapeutische Behandlung oder als Beichte usf. klassifiziert werden. Dass über die schlichte bezeichnende Feststellung hinaus mit der Anwendung eines bestimmten Begriffes auf einen Sachverhalt eine Wertung verbunden ist, bedarf keiner näheren Begründung. Durch diese Wertung erhält die Sache oder Handlung einen ganz bestimmten Standort zugewiesen. Wer der Meinung ist, dass dieser Standort falsch ausgewählt ist, wird sich nicht mit dem Hinweis zufrieden geben, dass man von einem gemeinsamen Standort aus urteile und es sich lediglich um einen Bezeichnungsstreit handele. Dass dies nicht nur eine hermeneutische Spitzfindigkeit ist, sondern dass es hier um ein ganz grundlegendes Problem des Selbstverständnisses einer Gruppe gehen kann, soll an folgendem unverfänglichen Beispiel gezeigt werden: Heute noch belastet es den Berufsstand der Ärzte, dass in der Rechtspraxis auch eine geglückte Operation zunächst einmal eine Körperverletzung des Arztes ist, die erst mittels eines besonderen Rechtfertigungsgrundes, üblicherweise durch die Einwilligung des Patienten, zu einer gerechtfertigten Tat wird.
Da es sich bei den Einwänden der neuen Glaubensgemeinschaften gegen die Subsumtion eines bestimmten Verhaltens unter einen bestimmten gesetzlichen Tatbestand demnach nicht allein um einen Bezeichnungs-, sondern auch um einen Klassifizierungsstreit handelt, erhebt sich die Frage, ob der Staat bei Beachtung des Selbstverständnisses einer Glaubensgemeinschaft auch deren Klassifizierungen für bestimmtes Verhalten übernehmen muss. Wäre dies so, könnte die jeweilige Glaubensgemeinschaft selbst bestimmen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der staatlichen Norm vorliegen oder nicht. Dass dies zur Auflösung einer einheitlichen Rechtsgemeinschaft führen würde, bedarf keiner Begründung41.
Für eine rationale Entscheidungsfindung des Staates ist es daher erforderlich, dass ungeachtet der Bezeichnung und Klassifizierung eines Sachverhaltes durch eine Glaubensgemeinschaft geprüft wird, ob deren Handlung als bestimmtes raumzeitliches Ereignis einem gesetzlichen Tatbestand untergeordnet werden kann oder nicht. Wenn dies der Fall ist, dann erst ist zu fragen, ob wegen Art. 4 GG eine Privilegierung erfolgen kann.
Dass die Praxis der neuen Glaubensgemeinschaften, sich einer religiösen Terminologie zu bedienen - sei es zu Recht oder zu Unrecht - staatlicherseits zu einer erheblichen Verwirrung führt, liegt auf der Hand. Wenn von Kritikern der neuen Jugendreligionen manchmal der Vorwurf erhoben wird, der Staat nütze seine Mittel nicht aus, so liegt dies oft daran, dass staatlicherseits eine große Verhaltensunsicherheit besteht, wie denn nun zu verfahren sei. Trotz häufig bestehender Ablehnung gegenüber diesen Glaubensgemeinschaften möchte kein Amtswalter in den Geruch geraten, hier als Religionsverfolger tätig zu werden.
Es muss hier allerdings eingeräumt werden, dass es nicht einfach ist, den Bezeichnungs- und Begriffsschleier - sei er zur Tarnung gebraucht oder auch nicht - zu durchdringen, die schlichten natürlichen Fakten festzustellen und diese einem gesetzlichen Tatbestand zuzuordnen. Erschwert wird dies auch dadurch, dass die aus dem Kreis der Glaubensgemeinschaft kommenden Informanten in der Regel sich der dort üblichen Gruppensprache zur Schilderung der Fakten bedienen. Diese Gruppensprache weicht oft erheblich vom üblichen Sprachgebrauch ab. So bedarf es für den Außenstehenden oft großer Anstrengung, in den Begriffskosmos der Glaubensgemeinschaft einzutauchen, die hinter den Begriffen stehenden Fakten zu erkennen und diese dann in der Normalsprache zu beschreiben. Es handelt sich oft um ein schwieriges Übersetzungsproblem. So verfügen beispielsweise die Scientologen über Hunderte fachspezifischer Ausdrücke für bestimmte Lebenssachverhalte. Ohne Kenntnis der Definition dieser Ausdrücke ist es für den Außenstehenden oft nicht fassbar, was sich innerhalb einer der neuen Glaubensgemeinschaften wirklich ereignet. Dass man als Vertreter des Staates, der den Versuch unternimmt, eine solche Übersetzungsarbeit zu leisten, dem Vorwurf ausgesetzt ist, die Übersetzung stimme nicht, man habe alles gründlich missverstanden, ist offensichtlich.
Will man das Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft vor einer Entscheidung wirklich berücksichtigen, ist es unbedingt erforderlich, Quellenstudium zu betreiben, Schriften der Gemeinschaft zu studieren, und nötig, sich durch Gespräche mit abgesprungenen und noch aktiven Anhängern ein Bild von der Gemeinschaft zeichnen zu lassen. Man bekommt so eine Art Insiderwissen und kann so objektiver und damit auch gerechter entscheiden. Trotzdem wird immer die Gefahr bestehen, irgendeinem Vorurteil aufzusitzen. Es reicht nicht aus, nur Gesamtberichte etwa eines Experten zu studieren. Derartige Berichte - mögen sie auch von Objektivität getragen sein, was nicht immer der Fall ist - lassen nämlich notwendigerweise bereits bei der schlichten Sachverhaltsfeststellung auf Grund der Faktenauswahl und eines bestimmten Sprachgebrauchs oftmals negative Wertungen einfließen. Dies ist unvermeidlich. Denn jede Aussage enthält auch gleichzeitig immer irgendeine Wertung. Allein der Umstand, dass die Experten ihr Urteil häufig anhand der Problemfälle, mit denen sie persönlich in Berührung gekommen sind, fällen, kann das Gesamtbild einer Glaubensgemeinschaft bereits in eine negative Richtung verzerren.
Wenn auch das Bemühen des Staates, das Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft vor einer Entscheidung zu erforschen, hauptsächlich dazu dient, gerecht zu entscheiden, darf doch ein positiver Nebeneffekt dieses Bemühens nicht übersehen werden. So ist ein Staat, dessen Amtswalter nach dein Selbstverständnis einer solchen Glaubensgemeinschaft forschen, sicherlich glaubwürdiger als ein solcher, dessen Amtswalter aus einer Position der geringschätzigen Herablassung handeln nach dem Motto: Es ist ja doch alles Humbug und Betrug. Wird dieses Bemühen auf der Gegenseite erkannt, wird es zwar nicht dazu kommen, dass der Staat als gerechter Schiedsrichter anerkannt wird. Er wird jedoch als sich bemühender Gegner respektiert und nicht nur als Feind gehasst. So konnte sich eine aggressive Glaubensgemeinschaft, die Kollegen von mir zunächst weltweit wegen einer Durchsuchungsaktion diffamiert hatte, immerhin später zu einer Entschuldigung durchringen.
Eine Entscheidung, die nach Klärung des Selbstverständnisses der betroffenen Glaubensgemeinschaft gefällt wird, ist auch in der Regel zielgenauer gleichzeitig wird damit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen - und sie gibt damit Anhängern der Gemeinschaft, die dieselben Missstände, die den Staat auf den Plan gerufen haben, bereits intern kritisiert haben, Unterstützung. Fraktionen gibt es nämlich in jeder Gemeinschaft, auch in totalitär geführten. So ist es ein erheblicher Erfolg für den Staat, wenn in einer Glaubensgemeinschaft infolge einer gut gezielten Maßnahme Fanatiker und zu Rechtsbrüchen neigende Funktionäre von dieser selbst kaltgestellt werden. Ungezielte Aktionen des Staates nach der Schrotschussmethode führen dagegen zur Solidarisierung und Stärkung des Zusammenhaltens. Es kann dann auch zur Unterstützung durch Außenstehende kommen.
IV.
Auf Grund der dargestellten Gesetzeslage hat sich gezeigt, dass der Staat nur relativ wenig Möglichkeit der Einflussnahme auf die neuen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, deren Wertvorstellungen oft von denen des Grundgesetzes mehr oder minder stark abweichen, nehmen kann und darf. Man fragt sich, ob die konsequente Anwendung der jetzt bestehenden Gesetze ausreichend ist, das Überhandnehmen solch suspekter Glaubensgemeinschaften zu verhindern oder doch wenigstens zu bremsen. Besteht nicht die Gefahr, dass eine totalitäre Ideologie unter dem Deckmantel der Religion die Gesellschaft so infiltriert, dass dies zur Unterhöhlung des Demokratieverständnisses in unserem Land und schließlich zur Aufhebung unserer verfassungsmäßigen Ordnung führen könnte. Unser Volk hat ja hier bereits eine entsprechende bittere Erfahrung hinter sich.
Hierzu ist zu sagen, dass eine derartige Infiltration nicht so leicht möglich ist, da in der weltanschaulichen Auseinandersetzung andere Weltanschauungsgruppen, z.B. die Kirchen einer Ausbreitung suspekter Ideologien entgegenwirken können. Im übrigen sollte man die Selbstheilungskräfte einer Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht zu gering einschätzen. Hinzu kommt, dass eine Ideologie, die unter dem Deckmantel der Religion die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik betreiben würde, mit sämtlichen Mitteln des Verfassungsschutzes bekämpft werden dürfte. Derartige Gruppen sind bisher in der Bundesrepublik kaum aufgetreten. Eine ernstzunehmende Gefahr liegt hier sicherlich nicht vor. Würde der Staat zur Verhinderung der Ausbreitung von bestimmten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften spezielle Gesetze erlassen, müsste deren Verfassungsmäßigkeit an Art. 4 GG geprüft werden. Dass solche Gesetze, wenn sie nicht an konkrete Gefährdungen von Rechtsgütern in Verfassungsrang anknüpfen, verfassungswidrig wären, bedarf nach den bisherigen Ausführungen wohl keiner Begründung. Verfassungswidrig wäre auch die Einführung allgemeiner Religionsbehörden auf Landesebene, die suspekte Glaubensgemeinschaften beobachten und auf ihre Verfassungstreue überprüfen würden42.
B.
Nun zur Opferproblematik: Wenn man darüber diskutiert, ob und welche Gefährdungen von den Glaubensgemeinschaften ausgehen, muss man - dies wird in der Diskussion oft übersehen - zunächst festlegen, was man mit Gefährdung meint und welche Güter gefährdet sind. Dass in unserem pluralistischen Gemeinwesen nicht eine ganz bestimmte Weltanschauung oder Religion als solche Schutzgut sein kann, das vom Staat zu verteidigen ist, wurde oben bereits ausgeführt. So ist beispielsweise Gotteslästerung nach § 166 StGB nur dann strafbar, wenn sie in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erfolgt. Schutzgut nach § 166 StGB ist der öffentliche Friede, nicht etwa Gott oder das religiöse Empfinden derjenigen, die an Gott glauben. Der Staat darf demnach nur eine Gefahrenlage bejahen, wenn seinen schutzbefohlenen Bürgern Angriffe drohen, die sie in ihren Grundrechten beeinträchtigen, z.B. in ihrer Menschenwürde, körperlichen Integrität, Freiheit, in ihrem Selbstbestimmungsrecht etc. Hat aber ein Bürger in eine Gefährdung dieser seiner Grundrechte eingewilligt, muss sich der Staat eines Eingreifens enthalten, es sei denn, die Einwilligung ist, weil sie den sittlichen Wertvorstellungen unserer Rechtsordnung widerspricht, unbeachtlich43.
Setzt sich ein erwachsener, geistig gesunder Bürger in voller Kenntnis des Umstandes einer Gefahr aus - man denke an riskante Tätigkeiten wie Klettern, Motorradfahren oder an den Gebrauch bestimmter Genussmittel wie Rauchwaren oder Alkohol - besteht für den Staat gewöhnlich kein Grund zum Einschreiten: Gilt nun etwas anderes für den Beitritt zu einer der neuen Glaubensgemeinschaften, wenn bei dieser infolge einer bestimmten angewendeten Psychotechnik hin und wieder - gewissermaßen als Betriebsunfall - über die Erzeugung eines veränderten Wachbewusstseinszustandes44 hinaus eine Psychose, also eine psychiatrischer Behandlung bedürftige echte Geisteskrankheit ausgelöst wird? Klärt die fragliche Gemeinschaft ein neues erwachsenes Mitglied über diese Gefahr rückhaltlos auf, und setzt sich das neue Mitglied dieser Gefahr trotzdem aus und erkrankt, besteht nach dem oben Dargelegten grundsätzlich keine Veranlassung zum Einschreiten des Staates. Werden dagegen Eingeworbene über ein derartiges Risiko nicht oder nur unzureichend aufgeklärt, entsteht eine Gefahrenlage, die den Staat zum Einschreiten berechtigt. Ob er wirklich einschreiten muss, wird davon abhängig sein, wie häufig derartige "Betriebsunfälle" vorkommen. Der Übungsleiter, bei dem das neue Mitglied auf Grund der durchgeführten Übung erkrankt ist, macht sich unter diesen Umständen zumindest einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig. Eine Mitverantwortung trägt die Organisationsspitze, wenn es sich bei dem Übungsleiter um eine Person handelt, die auf Grund mangelnder medizinischer Erfahrung beginnende Krankheitssymptome übersehen hat. Es handelt sich hier jedoch um idealtypische Fälle, denen der Staatsvertreter in der Praxis kaum begegnet. Ganz abgesehen davon, ist es sehr schwer, hier einen exakten juristischen Schuldnachweis zu führen. Zu berücksichtigen ist, dass oftmals psychisch vorgeschädigte Personen bei den neuen Glaubensgemeinschaften Zuflucht suchen. Als meine Behörde im Falle zweier derartiger Erkrankungen auf Grund längerer sensorischer Deprivation den Ursachen der Erkrankung nachforschte, stellte sich heraus, dass bei beiden erkrankten Personen eine entsprechende erbliche Belastung für die ausgebrochene Geisteskrankheit vorgelegen hatte.
Der Grad der Aufklärung durch die Organisationen ist verschieden. Oftmals wissen die Funktionäre mangels medizinischer Kenntnisse selbst nicht, wie gefährlich bestimmte Übungen für vorgeschädigte Personen sein können. Manchmal versucht man sich dadurch aus der Verantwortung zu stehlen, dass man das neue Mitglied einen Revers unterschreiben lässt, es leide nicht an einer Geisteskrankheit. Den Ausbruch einer Psychose bei einem Mitglied einer Glaubensgemeinschaft allein anzulasten, ist demnach schwierig. Derartige Erkrankungen werden jedoch von den Angehörigen regelmäßig allein auf das Wirken der jeweiligen Organisation zurückgeführt. Der Staat muss bei derartigen Fällen echter Erkrankung, die möglicherweise auch ohne Berührung mit der Glaubensgemeinschaft ausgebrochen wäre, jeweils den konkreten Ursachenbeitrag, den eine Glaubensgemeinschaft hierzu geleistet haben könnte, zu klären versuchen. Da ein Psychotherapiegesetz45 bis heute fehlt, kann der Staat hier nur über den Umweg des Heilpraktikergesetzes (HpG) Kontrolle ausüben. Die gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder körperlichen Schäden bei Menschen ist gemäß § 1 Abs. 2 HpG Ausübung der Heilkunde. Hierfür ist eine Erlaubnis erforderlich. Eine systematische Beeinflussung des Seelenlebens ist aber nach BVerwG46 Ausübung der Heilkunde im Sinne des HpG. Wird diese Beeinflussung gewerbsmäßig durchgeführt, bedarf es hierzu der Erlaubnis bzw. der Überwachung durch einen Arzt. Verstöße hiergegen sind nach § 5 HpG strafbar. Da den Gesundheitsämtern weitgehend das Problembewusstsein fehlt, besteht hier ein Defizit im Vollzug (§ 2 Abs. 1 i DVO z. HpG). Das religiöse Moment der Heilbehandlung ändert hier nichts an dem Recht und der Pflicht des Staates, Kontrolle auszuüben47.
Betrachtet man den Kreis derjenigen, die nur in mehr oder minder starke psychische und ideologische Abhängigkeit von einer der neuen Glaubensgemeinschaften geraten sind, ohne an einer echten Psychose erkrankt zu sein - diese Abhängigkeit wird oft bereits als psychische Schädigung bezeichnet, ohne dass Einigkeit darüber besteht, welche Merkmale hierfür erfüllt sein müssen -, und versucht man diese Personen nach ihren persönlichen Erfahrungen und ihrer Persönlichkeit zu ordnen, so fiel mir auf, dass dies nur sehr schwer möglich ist. Im Zuge der Ermittlungen gegen eine der großen Glaubensgemeinschaften wurden von meiner Behörde sehr viele ehemalige Mitglieder nach ihren Erfahrungen befragt. Positive und negative Urteile hielten sich hierbei die Waage. Berufliche Existenz und persönliches Erscheinungsbild scheinen bei den Befragten dem Querschnitt der Bevölkerung zu entsprechen. Die aktiven Mitglieder der Organisation, denen ich bei den Ermittlungen begegnet bin, wichen von diesem Erscheinungsbild nicht wesentlich ab. In der kleinen Gruppe derjenigen jedoch, die Strafanzeigen gegen die Organisation erstattet hatten, gab es erschütternde Fälle - echte Opfer also -, auf die die Beschreibung der Experten zutraf, nämlich völliger beruflicher Ruin, zerstörte Familie, angeschlagene psychische Gesundheit. Hierunter waren auch Fälle, bei denen die psychische Veränderung so stark war, dass ihr nach psychiatrischer Klassifikation Krankheitswert zukam. Der Umfang, ob und inwieweit jemand als Anhänger einer der neuen Glaubensgemeinschaften abhängig oder hörig wird, scheint demnach auch von der jeweiligen persönlichen Veranlagung und der gesamten Biographie vor Berührung mit der Glaubensgemeinschaft zusammenzuhängen. Zum Kreis der Opfer dürften wohl auch viele Spitzenfunktionäre gehören, die oft unter entsagungsvollen Umständen der Organisation gegen einen Hungerlohn dienen. Jugendliche traten als Opfer so gut wie nie in Erscheinung. Die Bezeichnung Jugendreligionen erscheint mir für die neuen Glaubensgemeinschaften in ihrer heutigen Form irreführend48.
Aus meiner Sicht verbietet sich jede generalisierende und pauschalierende Betrachtungsweise. Der Staat ist aufgerufen, wachsam zu sein. Er muss seine gesetzlichen Mittel im Bedarfsfall rasch und gezielt, aber auch verhältnismäßig einsetzen, um Exzesse zu unterbinden und zu verhindern, dass rechtsfreie Räume entstehen. Dort, wo festgestellt wird, dass Religion bzw. Weltanschauung als Ware verkauft wird, sollte der Staat sich nicht durch eine religiöse Terminologie blenden lassen. Er sollte einer solchen Organisation nicht vorschnell Gemeinnützigkeit attestieren oder sie sonst steuerlich privilegieren. Aussteigern, die ihre Beiträge von der Organisation zurückverlangen, sollte effektiver Rechtsschutz von den Zivilgerichten gewährt werden. Durch eine Beiziehung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten lässt sich für den Zivilrichter oft der wahre Hintergrund rasch erkennen.
C.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung jetzt aus der Position des Bürgers, der eine persönliche Weltanschauung vertritt, machen: Es schmerzt möglicherweise zu sehen, dass der Staat verpflichtet ist, Weltanschauungen zu tolerieren, die man selbst ablehnt. Art. 4 GG, der einem selbst Religions- und Glaubensfreiheit ermöglicht, wirkt daher janusköpfig. Man missgönnt vielleicht den anderen, deren Weltanschauung man für falsch und für gefährlich hält, den Schutz aus Art. 4 GG. Man bedauert möglicherweise auch, dass der Staat weltanschaulich neutral ist.
Art. 4 GG scheint den Staat zu faulen Kompromissen zu zwingen. Man sollte sich bei solchen Überlegungen jedoch immer in Erinnerung zurückrufen, welch unsägliches Leid von weltanschaulich nicht neutralen Staaten über die Menschheit gekommen ist. Ich erinnere an die Ketzerverfolgungen, die Glaubenskriege, Hexenverbrennungen, die KZ's und den Archipel Gulag, der bis vor kurzem Dissidenten durch Einweisung in psychiatrische Kliniken mundtot zu machen pflegte49. Meine Überzeugung ist, dass dann, wenn wir als Bürger selbst nicht weltanschaulich indifferent sind, sondern unseren Part in der weltanschaulichen Auseinandersetzung in der Gesellschaft übernehmen, die Hilfe des Staates letztlich nicht brauchen, um unsere Grundwerte zu verteidigen.
Es könnte aber von anderen Weltanschauungen, die man ablehnt, auch so etwas wie ein Denkanstoß ausgehen, die eigene Position zu überprüfen und möglicherweise zu verbessern. Die Möglichkeit zu solchen Denkanstößen wird aber gerade dadurch, dass wir in einer Rechtsordnung leben, die weltanschaulich neutral ist, immer offen gehalten. Auch jenseits einer von uns gezogenen weltanschaulichen Grenze geht die Welt weiter. Diesen Aspekt des Ganzen sollte man nicht aus den Augen verlieren.
1 R. Hummel, Ev. Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Jugendreligionen
2 OVG Hamburg, NVwZ 1986, 4o6; BayVGH, NVWZ 1985, 405 ff
3 BVerfGE 33, 23/29
4 BVerwGE 37, 344/362; zustimmend Ott, DÖV 1971, 763 ff.
5 BVerfGE 24, 236/247
6 BVerfGE aa0
7 Obermayer, ZevKR 27 (1982), 259 ff; Weber, NJW 1983, 2553; v.Campenhausen, DVBl 1987, 727/728 f; zum derzeitigen Streitstand vgl. Franz, DVBl. 1987, 727/728 f
8 vgl. Müller-Volbehr, JZ 1981, 41 f m.w.N.; zu weiteren Definitionsversuchen: vgl. Obermayer, Bonner Kommentar zum GG, Rd.Nr. 40 zu Art. 140
9 BGH NJW 1978, 599; BGHSt 8, 237
10 BVerfGE 12, 1 /4
11 Derartige Zweifel bestehen z.B. bei der Scientology Church vgl. BVerwGE 61, 152 ff; OLG Düsseldorf NJW 1983, 2574 ff; VG München, U. v. 25.7.1984 - M 1392 VII 84
12 BVerwGE 61 , 152/160
13 Störzer, Kriminalistik 1982, 669 ff
14 BVerfG NJW 1988, 325/327
15 z.B. ist der Gründer der Scientology Church L.R. Hubbard ursprünglich Science-fiction-Schriftsteller gewesen.
16 VG München GewArch 1984, 329/332 (nicht rechtskräftig); OLG Düsseldorf NJW 1983, 2574 (25 76); a.A. LG Hamburg NJW 1988, 2617/2618 mit ablehnender Anm. von Karsten Schmidt, aa0, 2574 ff
17 VG Düsseldorf U.v. 14.4.1987 - 3 K 977/85 (nicht rechtskräftig)
18 OVG Hamburg NJW 1986, 209; OLG Hamburg NJW 1986, 2841
19 OLG Düsseldorf NJW-RR 1986, 531 (vom BGH wurde die Revision nicht angenommen)
20 VGH München MW 1987, 1570 = NVwZ 1987, 435/437
21 OLG Düsseldorf, aa0
22 BVerf GE 12, 1/4
23 RG JW 1913, 110; KG HRR 1933 Nr. 1830 OLG Braunschweig OLGZ 76, 52; LG München I NJW 1987, 847/848 (Verfallklausel für erbrachte Leistungen bei Austritt ist unwirksam). LG Düsseldorf NJW 1987, 1341 (Testamentsvollstreckung für die Dauer der Sektenzugehörigkeit ist nichtig). OLG München NJW 1983, 2577 (Zur Testamentsanfechtung wegen Sektenzugehörigkeit)
24 Unrichtig Schatzschneider, der einen Rechtfertigungsgrund für Angehörige bejaht (BayVwBl 1985, 325). Die Angehörigeneigenschaft kann nur ein Strafzumessungsgrund sein.
25 1987 wurde in Starnberg ein Deprogrammierungsversuch unternommen. Die Täter wurden zur Rechenschaft gezogen.
26 Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 24.4.1986 115 Js 4298/84
27 BVerfGE 32, 98/108
28 OLG München NJW 1984, 1826; LG Kassel NJW 1985, 1642; LG München I NJW 1987, 847/848; Arbeitsgericht München, U.v. 9.4.1985 - 3 Ca 14663/82. Versteht sich eine Gruppe als Religionsgemeinschaft, ist auch zu erwägen, ob die Gerichte nicht auf die Regelungsmuster, die für einen Kirchenaustritt bereits bestehen, in entsprechender Weise zurückgreifen sollten (OLG Oldenburb NJW 198o, 713; NJW 1972, 777; OLG Frankfurt 1970, 1646; OLG Hamm NJN 1971, 149; OLG Schleswig ZevKR 1971, 311; Listl JZ 1971, 345; Pirson JZ 1971, 608; v.Campenhausen, Handbuch des Staatskirchenrechts Bd. 1, 1974, 657-666. Der Austritt aus derartigen Gemeinschaften könnte dann ohne eine Abwertung der Gemeinschaft allein mit der Gewissensfreiheit des Austretenden begründet werden.
29 OLG Hamburg FamRZ 1985, 1284; BayObLG NJW 1976, 2017
30 LAG Düsseldorf, U.v. 22.3.1984 - 14 Sa 1905/83
31 OLG München ZUM 1985, 632 ff (negative Äußerungen über Scientology Church in einer Programmzeitschrift); OLG Frankfurt Kirche 19, 268 ff (negative Äußerungen über Mun-Sekte); VG München, U.v. 12.3.1986 - M 6 K 85. 4252 (negative Äußerungen einer vom Staat unterstützten Gruppe über Scientology Church verstößt nicht gegen das Neutralitätsgebot des Staates)
32 VGH München GewArch 1985, 336/337 (Aufhebung der sofortigen Vollziehung der Gewerbeuntersagung für Scientology Church München)
33 Blank in Engstfeld u.a., Jur.Probl., 112/115
34 VGH Kassel GewArch 1984, 68 ff
35 FG Hamburg EFG 1985, 525 ff (Kurse, Seminare, geistliche Beratung von Scientology Church Hamburg sind umsatzsteuerpflichtig; keine Gemeinnützigkeit; Besteuerung kein Eingriff in die Religionsfreiheit); BFH NJW 1986, 2458 (Aufhebung des Urteils des FG Kassel, NJW 1983, 2605, durch das der Vereinigungskirche die Anerkennung der Gemeinnützigkeit versagt worden ist)
36 Zur steuerlichen Behandlung insgesamt vgl. Klein in Engstfeld u.a. (Hrsg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sog. neuen Jugendreligionen, 1981, 131 ff
37 Finke-Splittgerber, DAngVers 1983, 354 ff
38 BVerwGE 61 , 152 ff; BVerwG 11.85, 393/398
39 VGH Mannheim VB1BW 1986, 21 (abstrakte Warnung vor Jugendreligionen ist zulässig); OVG Münster NVWZ 1986, 400 f (Negative Meinungsäußerung der Bundesregierung über TM in der gewählten Form teilweise unzulässig); OVG Nürter RdJB 1987, 480/483 (Abwertende Äußerungen staatl. Stellen müssen durch Tatsachen gestützt sein); OVG Münster NVwZ 1985, 123f negative Meinungsäußerung des Landes Nordrhein-Westfalen über Bhagwan in der gewählten Form teilweise unzulässig)
40 VG Köln, U.v. 12.11.1985 - 14 K 5208/84 (Förderung der AGPF, die in ihren Publikationen abwertende Äußerungen über die Jugendreligionen macht, durch das BMJFFG ist unzulässig); VG München, U.v. 12.3.1986 - M 6 K 85.4252 (Förderung einer Elterninitiative, die in ihren Publikationen kritische Äußerungen über die Jug.rel. macht, ist zulässig)
41 J. Isensee, Wer definiert die Grundrechte?, 1980
42 Dies wird von Obermayer befürwortet (Zev KR 27 (1982), 259 ff
43 vgl. § 226 a StGB
44 Am Anfang der veränderten Wachbewusstseinszustände steht die Suggestion, am Ende die Hypnose. Es handelt sich nach heutigem psychiatrischen Verständnis auch bei der Hypnose um einen Zustand der Normalpsyche. Die Übergänge zwischen den einzelnen Wachbewusstseinszuständen sind fließend (vgl. hierzu A. Langelüddeke, Gerichtliche Psychiatrie, 3. Aufl., 1970, S. 26; E. Mezger, Die Suggestion in kriminalpsychologisch- juristischer Beziehung, ZStrW 33, 847 ff; Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, 1968; A. Dittrich, Ätiologie unabhängige Strukturen veränderter Wachbewusstseinszustände - Ergebnisse empirischer Untersuchungen über Halluzinogene I. und II.Ordnung, sensorische Deprivation, hypnagoge Zustände, hypnotische Verfahren sowie Reizüberflutung - , 1985
45 Es gibt hier erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten; vgl. Bottke, ZblJugR 1981, 136/149
46 NJW 1984, 1414; vgl. auch Meinhold, Psychotherapie und Psychosomatik in der Naturheilpraxis in "Heilpraktiker-Jahrbuch" 1986/1987, S. 83 ff
47 BGH NJW 1978, 599
48 Die gleiche Feststellung wurde bereits 1981 von Engstfeld u.a. in Juristische Probleme, S. 20 getroffen; vgl. auch Schatzschneider BayVerwBl. 1985, 321 m.w.N.
49 Zum Missbrauch der Psychiatrie gegenüber Dissidenten in der UdSSR, A. Martin-P. Falke, in "Andrej Sacharow", 1976, 288 ff