01 Der juristische Entscheidungsprozess zwischen Rechtssatz und technischer Regel
Jürgen Keltsch
Vortrag gehalten vor der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern am 27.1.1993
Erstveröffentlichung in "Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik", Nov. 1993
Wer als Richter, der hauptsächlich Verkehrszivilsachen zu entscheiden hat, vor einem Kreis von Sachverständigen aus den verschiedensten Fachbereichen über die optimale Zusammenarbeit der Gerichte mit den Sachverständigen referieren soll, befindet sich in einem Zwiespalt. Es drängt mich eigentlich, von der Zusammenarbeit mit den verkehrsanalytischen Sachverständigen und den ärztlichen Gutachtern zu Ihnen zu sprechen. Gäbe ich diesem Wunsch nach, würden voraussichtlich nur die Verkehrsanalytiker unter Ihnen an meinen Ausführungen interessiert sein.
In einem über 20 Jahre währenden Berufsleben als Staatsanwalt und Richter in fast allen Gerichtszweigen der Justiz haben die vielfältigen positiven, aber auch manchmal negativen Erfahrungen mit Sachverständigen aus den verschiedensten Fachbereichen bei mir ein Idealbild des guten Gerichtssachverständigen entstehen lassen. Von diesem Idealbild möchte ich heute zu Ihnen sprechen.
Ich bin mir darüber im klaren, dass mein Idealbild sich sicherlich nicht in allen Zügen mit Ihren Idealbildern vom guten Gerichtssachverständigen decken wird. Differenzen gibt es allein schon deshalb, weil bereits kaum Einigkeit darüber zu erzielen ist, welche Aufgaben ein Sachverständiger im Zivilverfahren im einzelnen hat und wie er sie erfüllen soll. Der Streit beginnt bereits bei der Frage, ob der Gesetzgeber die Tätigkeit der Gerichtssachverständigen mit dem Paradigma Beweismittel vollständig erfasst hat (§ 402 ZPO). Hilft der Gerichtssachverständige nur bei der Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts mit? Unterrichtet er uns Richter in Bereichen, wo es noch keine Präjudizien gibt und wir nur über Alltagswissen verfügen, nicht auch über soziale Normen, nämlich eingespielte Verhaltensregeln in bestimmten Lebensbereichen, die wir in unsere Entscheidungen übernehmen und an deren Verletzung wir das Urteil »fahrlässiges« oder »grob fahrlässiges« Handeln knüpfen? Ich denke hier an mehrere Sportunfälle, mit denen unser Senat in letzter Zeit befasst war. Bei einem Freiballonunfall infolge einer notwendig gewordenen Reißbahnlandung wegen eines unerwartet einsetzenden Unwetters richtete der Senat sich in seiner Entscheidung nach dem Gutachten des Ballonsachverständigen, der zu unserem Erstaunen erklärte, die Reißbahnlandung, die den Beinbruch einer Passagierin verursachte, sei vom Ballonführer absolut korrekt durchgeführt worden (OLG München 27.6.1989 - 5 U 2747/88, NJW-RR 91, 420).
Die gleichen Probleme stellten sich bei der Feststellung des Verschuldens Verantwortlicher bei einem Segelyacht- und bei einem Segelflugzeugunfall. Die eingeschalteten Sachverständigen unterrichteten uns primär über Regeln und typische Folgen von Regelverletzungen in diesen Sportarten. Unproblematisch war jeweils der unmittelbare Hergang der Unfälle. Erst auf Grund des über die Sachverständigen gewonnenen Regelverständnisses konnten die Fälle entschieden werden.
Das Idealbild vom gerichtlichen Sachverständigen scheint demnach ganz erheblich davon abhängig zu sein, welche Leistungen man von ihm erwartet. Dass diese Leistungen ganz verschieden sein können, ist bekannt: Da geht es um Sachverhaltsfeststellungen, die nur auf Grund besonderen Fachwissens möglich sind, um die Vermittlung von Erfahrungen und Erfahrungssätzen außerhalb des Wissens des Richters, aber auch um die Wertung von Sachverhalten und die Bewertung von Gegenständen (z.B. Grundstücken). Ist es angesichts dieser unterschiedlichen Leistungen, die Sachverständige für die Gerichte erbringen, nicht eine Utopie von einem Idealbild des Gerichtssachverständigen zu sprechen? Müsste man nicht mehrere Idealbilder postulieren? Ich meine nicht.
Das Gemeinsame bei all den unterschiedlichen Tätigkeiten der Gutachter für die Gerichte ist, dass sie durch ihre Beauftragung seitens der Gerichte in das Gerichtsverfahren einbezogen und damit bestimmten Verfahrensregeln unterworfen werden. Am Ende ihrer Tätigkeit steht das schriftliche oder mündliche Gutachten, das bei der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden soll. Hierbei kommt das Gutachten auf den Prüfstand. Es wird auf seine Tauglichkeit untersucht, vom Gericht übernommen oder verworfen. Die Qualität des Sachverständigen ergibt sich somit aus seinem Gutachten. Dieses ist Spiegel für seine Tätigkeit. Das Bild vom guten Sachverständigen, wie es mir vorschwebt, ist demnach kein Werturteil über die Fähigkeit einer bestimmten Person, brauchbare Gerichtsgutachten zu fertigen, sondern eine Leitidee, wie ein Gutachter sich verhalten sollte, um brauchbare Gerichtsgutachten zu erstellen.
Anhand eines Schemas von vier Bewertungskriterien, die man an ein Gerichtsgutachten anlegen kann, will ich versuchen, mein Bild vom guten Sachverständigen bzw. brauchbaren Sachverständigengutachten zu entwickeln.
Die Bewertungskriterien sind folgende:
richtiges - unrichtiges Gutachten
verständliches - unverständliches Gutachten
unparteiisches - parteiisches Gutachten
ungeschminktes - geschöntes Gutachten
Die Begriffsinhalte dieser Bewertungskriterien überschneiden sich teilweise. Sie gehen letztlich in den Begriffen »verfahrensrechtliche Korrektheit und inhaltliche Richtigkeit« des Gutachtens auf.
Voraussetzung dafür, dass das Gutachten für das Gericht brauchbar ist, ist selbstverständlich, dass der Gutachter die vom Gericht gestellten Fragen beantwortet und nicht das Thema verfehlt. Dies ist nicht immer einfach, weil der Richter mangels Sachkenntnis manchmal die Beweisfrage nicht präzise genug formulieren kann. Zur Lösung dieses Problems werde ich mich später äußern.
1 Das richtige Gutachten
a) Die richtige Prämissenwahl
Es scheint ein Allgemeinplatz zu sein, dass man von einem brauchbaren Gutachten verlangt, sein Ergebnis müsse richtig sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn alle Aussagen, die in dem Gutachten gemacht werden, wahr sind. Dies setzt voraus, dass die wissenschaftlichen oder technischen Erfahrungssätze, die im Gutachten angewendet werden, richtig sind und die richtig festgestellten Beobachtungstatsachen nach richtiger Verwandlung in Beobachtungssätze richtig unter die Erfahrungssätze subsumiert wurden. Diese Richtigkeitstheorie ist wohl allgemein konsensfähig. In der Praxis wird gerade der Berufungsrichter jedoch oft mit Fällen konfrontiert, in denen ein plausibel erscheinendes Gerichtsgutachten durch ein nicht minder plausibel erscheinendes Privatgutachten angegriffen wird. Handelt es sich bei dem Privatgutachter um eine Kapazität, die in anderen Fällen bereits als Gerichtsgutachter tätig wurde, tritt für den Richter eine nur schwer zu lösende Aporie auf, da er mangels eigener Sachkunde zunächst nicht entscheiden kann, welches Gutachten richtig ist.
Stützte sich der Richter in diesem Fall auf die Erwägung, dem Gerichtsgutachter sei deshalb zu folgen, weil nicht auszuschließen sei, der Parteigutachter sei parteiisch, wird ein allein so begründetes Urteil in der Revisionsinstanz kaum Bestand haben, da der BGH eine sachliche Auseinandersetzung des Berufungsgerichts mit den sich widersprechenden Gutachten verlangt (BGH VersR 81, 576).
Wie kann und soll der Sachverständige dem nicht fachkundigen Richter helfen, die Stichhaltigkeit seines Gutachtens zu überprüfen? Erschöpft sich ein Gutachten lediglich darin festzustellen, eine Sache sei fehlerhaft, ein Mensch sei krank bzw. nicht mehr krank, ein Unfall sei vermeidbar bzw. unvermeidbar gewesen, so kann diese Feststellung des Gutachters richtig oder falsch sein, überprüfbar wird eine derartige Feststellung für den Richter erst dann, wenn das Gutachten auch eine ausreichende Begründung hierfür enthält. Was zu einer ausreichenden Begründung gehört, ist leider vielen Sachverständigen nicht klar. Voraussetzung für eine korrekte Begründung ist grundsätzlich auch die ausdrückliche Angabe der Prämissen, unter die die festgestellten Tatsachen untergeordnet wurden. In einer von Breunung durchgeführten Untersuchung sind in für Amtsgerichte erstellten technischen Gutachten nur in jedem fünften, in für Landgerichte erstatteten Gutachten nur in jedem dritten Fall die technischen Regeln angegeben gewesen, unter die im Gutachten die festgestellten Tatsachen subsumiert waren. Ähnliches gilt für die Angabe von Lehrmeinungen in wissenschaftlichen Gutachten (Pieper/Breunung/Stahlmann, Der Sachverständige im Zivilprozess, 82, 239). Der Grund für die Nichtoffenlegung der Prämissen liegt wohl darin, dass die Obersätze seiner Urteile für den Fachmann so selbstverständlich sind, dass sie im Fachdiskurs keiner Erwähnung bedürfen. Der Sachverständige sollte nicht vergessen, dass wir Richter, selbst wenn wir uns für Rechtsstreitigkeiten auf dem Bausektor, für Verkehrsunfälle etc. spezialisiert haben, trotzdem keine Fachgenossen sind, sondern von unserer Ausbildung her Laien bleiben, denen gewöhnlich näher erklärt werden muss, was dem technischen Fachmann selbstverständlich ist.
Die Angabe der technischen Regeln als Basis der gutachterlichen Schlussfolgerungen mag manchmal leerer Formalismus sein, wenn es sich um sog. eindeutige Fälle handelt. Anderes gilt jedoch dann, wenn über einen sogenannten Grenzfall zu entscheiden ist, von dem es fraglich ist, ob er zu der Klasse der Fälle a oder b gehört. Heftiger Streit vor Gericht entzündet sich oft gerade an derartigen Granzfällen, zumal dann, wenn unter den Sachverständigen keine Einigkeit über die Grenzen der anzuwendenden technischen Regeln besteht. Streitentscheidend ist dann, welcher wissenschaftlichen oder technischen Lehre der Richter sich anschließt.
Streit kann aber auch dann entstehen, wenn eine wissenschaftliche oder technische Anschauung gerade im Wandel begriffen ist. In dieser Lage mag für den Sachverständigen persönlich keine Unsicherheit bestehen, falls er die neue Lehre für nicht stichhaltig hält. Wenn aber eine Außenseiteransicht zur echten Konkurrenz für die alte Theorie erstarkt, ist der Sachverständige selbstverständlich verpflichtet, in seinem Gutachten die Richtigkeit der von ihm zugrunde gelegten Erfahrungssätze zu diskutieren. Er muss dem Richter seine Prämissenwahl begründen und sie gegen andere Theorien verteidigen. Der Richter wird in diesen Fällen nolens volens in eine Rolle gedrängt, in der er sich ausgesprochen unwohl fühlt. Er scheint plötzlich Mitglied in der Forschungs- und Experimentiergemeinschaft der Wissenschaftler und Techniker zu werden und soll sich zwischen zwei wissenschaftlichen oder technischen Alternativen entscheiden. Wäre es hier nicht sinnvoller, den wissenschaftlichen oder technischen Sachverständigen als Richter, ähnlich wie beim Bundespatentgericht, mitentscheiden zu lassen? Ich möchte diese Frage, die schon lange als Reformvorschlag diskutiert wird (vgl. Olzen, ZZP 93, 66 (82 ff); Franzki, DRiZ 91, 314 ff), hier nicht vertiefen. Lediglich eine kritische Anmerkung aus wissenschaftstheoretischer Sicht sei erlaubt.
Wir pflegen den Seinsbereich dem Sollensbereich gegenüberzustellen. Landläufig werden Naturwissenschaft und Technik dem Seinsbereich, Recht, Ethik und Ästhetik aber dem Sollensbereich zugeordnet. Entsprechend wird angenommen, dass sämtliche naturwissenschaftlichen und technischen Erfahrungssätze von der Kategorie des Seins bestimmt werden. Diese Auffassung gerät jedoch dann in Schwierigkeiten, wenn technische Normen und Grenzwerte, mit denen Verfahren und Gegenstände auf etwaige Fehlerhaftigkeit und Gefährlichkeit überprüft werden, diesen beiden Kategorien zugeordnet werden sollen. Denn die erstmalige Festlegung derartiger technischer Normen und Grenzwerte unter Anknüpfung an das Sachverständigenwissen ist ein Akt wertender interessenbestimmter Setzung. Der Setzungsakt für derartige technische Normen gehört daher zum Sollensbereich. Dagegen betreffen Aussagen darüber, welche Veränderungen in der Welt geschehen, wenn ein einmal gesetzter Grenzwert überschritten wird - beispielsweise der BAK-Grenzwert im Straßenverkehr - wieder allein den Seinsbereich. Die privaten technischen Regelwerke wie z.B. die DIN-Normen, die VDI-Richtlinien , die VDE-Bestimmungen etc., gehören deshalb einerseits in den Bereich der sozialen Verhaltensnormen, weil sie Maßstäbe für richtiges technisches Verhalten setzen, andererseits in den Bereich der naturwissenschaftlichen Erfahrungssätze, weil sie an diese anknüpfen. Das BVerwG sieht in diesen Regelwerken daher »antizipierte Sachverständigengutachten« (BVerwGE 55, 256). Die Regeln dieser Regelwerke könnten jederzeit durch den Gesetzgeber als gesetzliche Normen legalisiert werden. Um den technischen Fortschritt nicht zu blockieren, geschieht dies jedoch meist nicht. Der Gesetzgeber begnügt sich damit, auf die »allgemein anerkannten Regeln der Technik«, den »Stand der Technik« und den »Stand von Wissenschaft und Technik« zu verweisen. Angesichts unseres ständigen explosionsartigen Wissensfortschritts, der unser instrumentales Können laufend erweitert, sind die Regeln der Technik einem steten Wandel unterworfen. Dieser Regelwandel ist Folge einer kontinuierlichen Neubewertung unseres technischen Wissens und Könnens. Es kommt hierdurch zu einem sog. Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas S. Kuhn, d.h. es gelangen neue wissenschaftliche und technische Theorien zur Herrschaft. Entsprechend ändert sich auch der Begriff des technischen Mangels. Da neue Theorien gewöhnlich zunächst auf Widerspruch stoßen, entstehen hieraus notwendigerweise nicht nur theoretische, sondern auch praktische Streitigkeiten, die auch vor den Gerichten ausgetragen werden.
Nicht übersehen werden darf, dass die Regeln der Technik unser instrumentales Können auch einschränken. Dies ist dann der Fall, wenn erkannt wird, dass ein bewährtes technisches Verfahren oder eine neu entwickelte Technologie gefährliche Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt hat. Die Regeln der Technik haben deshalb nicht nur eine instrumentale, sondern auch eine ethische Seite. Die Gesellschaft wäre daher schlecht beraten, die Entscheidung darüber, ob ein Verstoß gegen die Regeln der Technik vorliegt, etwa allein einem oft nur an instrumentalem Können ausgerichteten Techniker anzuvertrauen. Die Aufnahme eines neuen technischen Verfahrens in den Kreis der Verfahren, über die das positive Werturteil »anerkannte Regel der Technik« gefällt wurde, ist nicht selten ein langwieriger konfliktreicher Prozess, in dem technische und wertende Argumente in Widerstreit stehen. Man denke nur an die Auseinandersetzung über die Atom- und Gentechnologie!
Eine Einschränkung bei der Prämissenwahl ergibt sich aber nicht nur durch die Naturgesetze, die derzeit geltenden technischen Normen und Grenzwerte, sondern auch durch das Richterrecht. Der gute Sachverständige sollte sich deshalb auch über die Rechtsprechung auf dem laufenden halten. Sollten Prämissen, an die die Rechtsprechung angeknüpft hat, auf Grund des wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes überholt sein, muss der Sachverständige hierauf aufmerksam machen (vgl. beispielsweise den Erkenntniswechsel bezüglich der Sicherheit der Abfüllautomatik bei Tankfahrzeugen BGH NJW 82, 1049).
b) Die richtige Tatsachenfeststellung
Ein ungleich größeres Problem als die richtige Prämissenwahl - die Frage des technischen Theoriewechsels dürfte im Alltag des Sachverständigen nur eine untergeordnete Rolle spielen - ist die Tatsachenfeststellung. Relativ einfach sind die Fälle gelagert, bei denen der Sachverständige die Tatsachenbasis für sein Gutachten durch eigene Beobachtung und Untersuchung sich selbst schaffen darf. Schwieriger ist für ihn die Lage jedoch, wenn er, wie der Unfallanalytiker in Zivilverfahren, einen historischen Sachverhalt, den Unfallablauf, zu rekonstruieren hat. Er ist hierfür auf Beweismittel angewiesen, auf Fotos nach dem Unfall, Polizeiskizzen und auf Aussagen der Unfallbeteiligten und Beobachter des Unfallgeschehens. Oft sind die objektiven Beweismittel, die Fotos und die Unfallskizzen der Polizei genügend aussagekräftig, so dass der Unfallanalytiker sich nicht auf Zeugenaussagen zu stützen braucht. Das Gutachten lässt sich in diesem Fall problemlos erstellen. Anders ist es jedoch dann, wenn der Unfallanalytiker auf Zeugenaussagen zurückgreifen muss. Sind diese widersprüchlich, erhebt sich die Frage, welchem Zeugen soll er Glauben schenken. Muss er unter diesen Umständen sein Gutachten alternativ gestalten? Die Gerichte haben die Sachverständigen bei diesem Problem bisher weitgehend im Stich gelassen. Der Gesetzgeber hat hier Abhilfe geschaffen. Durch das RPfIVereinfG, das seit 1.4.1991 in Kraft ist, wurde die ZPO u.a. durch § 404 a ergänzt. Nach Abs. 3 dieser neuen Vorschrift hat das Gericht bei streitigem Sachverhalt zu bestimmen, an welche Tatsachen der Sachverständige seine Begutachtung anknüpfen soll. Sollte im Beweisbeschluss oder in der Zuleitungsverfügung eine derartige Bestimmung fehlen, darf und soll der Sachverständige bei Gericht anfragen, welche Zeugenaussage er seinem Gutachten zugrunde legen soll.
Ein weiteres Problem bei der Feststellung der Anknüpfungstatsachen stellt sich dann, wenn diese vom Sachverständigen nicht durch Augenschein, sondern nur über eine Auskunft bei Dritten erlangt werden können. Darf der Sachverständige sich derartige Auskünfte bei Behörden oder Privatpersonen erholen? Darf er sich mit Fragen außerhalb der Gerichtsverhandlung auch an die Parteien wenden? Aus der oben bereits zitierten Untersuchung von Breunung (aaO, S. 233 ff) ergibt sich, dass sich die Sachverständigen - ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer- in mehr als einem Drittel aller Fälle Auskünfte auf diese Weise außerhalb des Verfahrens erholt haben. Hiervon stammten sogar zwei Drittel von den Prozeßparteien selbst. In der überwiegenden Zahl der Fälle wurden die Auskünfte ohne vorherige Rückfragen bei Gericht erholt. Die Gerichte tolerierten dies in aller Regel. Problematisch ist diese Vorgehensweise der Sachverständigen aus mehreren Gründen: Einmal haben grundsätzlich nur die Parteien das Recht, neue Tatsachen in das Zivilverfahren einzuführen (Dispositionsmaxime). Werden Parteien vom Sachverständigen befragt, weckt dies Zweifel an seiner Unparteilichkeit (§ 410 Abs. 1 S. 2 ZPO). Schließlich darf der Sachverständige nur unstreitige Tatsachen seinem Gutachten zugrunde legen. Woher weiß er aber, dass die Parteien mit der Verwertung der eigenmächtig erholten Daten einverstanden sind, wenn er die so gewonnenen Daten, ohne den Parteien vorher rechtliches Gehör gewährt zu haben, seinem Gutachten zugrunde legt?
Der Gesetzgeber hat in § 404 a Abs. 4 ZPO für dieses Problem eine pragmatische Lösung gefunden. Hiernach bestimmt das Gericht, inwieweit der Sachverständige Auskünfte erholen, insbesondere ob er mit den Parteien in Verbindung treten darf und wann er diesen die Teilnahme an seinen Ermittlungen zu gestatten hat.
Der Sachverständige muss sich demnach, falls er noch Auskünfte im Rahmen seiner Tatsachenfeststellung benötigt, immer zuerst an das Gericht wenden, um sich eine Genehmigung für die Auskunftserholung geben zu lassen. Gestattet das Gericht die Erholung der Auskunft, trägt der Sachverständige dafür, ob sein Tun prozeßordnungsgemäß erfolgt ist oder nicht, keine Verantwortung mehr. Diese liegt nun allein beim Gericht. Dieses ist verantwortlich, dass das Fairplay gewahrt wird. Nach § 404 a Abs. 5 S. 1 ZPO ist das Gericht verpflichtet, derartige Weisungen an den Sachverständigen den Parteien mitzuteilen. Diese können gegebenenfalls remonstrieren. Hat ein Widerspruch der Parteien Erfolg, muss der Sachverständige warten, bis die von ihm benötigte Anknüpfungstatsache im Wege einer ordentlichen Beweisaufnahme in das Verfahren eingeführt worden ist.
2 Das verständliche Gutachten
Die Brauchbarkeit eines Gutachtens hängt nicht allein davon ab, dass es zum richtigen Ergebnis gekommen ist. Es muss auch für den Richter, der ja kein Fachmann auf dem Gebiet der Beweisfrage ist, nachvollziehbar sein.
Handelt es sich um die Beantwortung einer naturwissenschaftlichen Frage, bestehen erfahrungsgemäß Verständigungsprobleme zwischen Gutachter und Richter bereits deshalb, weil sie ganz unterschiedliche Fachsprachen sprechen und ganz unterschiedliche fachspezifische Denkgewohnheiten haben. So gehört die Jurisprudenz zu den hermeneutischen Wissenschaften, deren Untersuchungsobjekt und Untersuchungsmittel das Wort ist. Die Naturwissenschaften ergründen dagegen durch Experimente die Welt und beschreiben ihre Ergebnisse in der Regel mittels mathematischer Formeln. Wird das Recht angewendet, muss sich aber auch der Rechtsanwender nicht nur mit der Auslegung von Gesetzestexten beschäftigen, er hat wie ein Historiker oder Naturwissenschaftler bestimmte Tatsachen dieser Welt festzustellen und er benötigt hierzu, falls sein Wissen nicht ausreicht, die Hilfe von Sachverständigen.
Angesichts der bestehenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen Richter und technischem Sachverständigen sollte dieser fachspezifische Begriffe in die Umgangssprache zu übersetzen versuchen. Er sollte seine Befunde nicht allein mittels mathematischer Formeln darstellen, sondern sich auch sprachlich auf den Laienhorizont der Gutachtensadressaten einstellen. Andernfalls besteht die Gefahr von Missverständnissen. Selbst wenn durch diese Übersetzung in die Umgangssprache die Präzision des Gedankenganges leiden sollte, ist eine solche Übersetzung erforderlich.
Der Sachverständige sollte auch die in der Rechtssprache gängigen Ausdrücke kennen, auch wenn ihm manche Begriffe nicht recht einleuchten. Wenn wir Juristen nach einem Zusammenstoß zweier Kraftfahrzeuge davon sprechen, nur die Fahrweise des Fahrzeugs A sei kausal für den Zusammenstoß gewesen, erregt dies bei Physikern Erstaunen. Sie werden einwenden, auch die Fahrweise des zweiten Pkw B sei kausal für den Unfall gewesen. Der Unfallanalytiker sollte wissen, dass der Kausalitätsbegriff vom Juristen hier wertend gebraucht wird. Der Jurist drückt hiermit implizit bereits einen Regelverstoß des Fahrers des Pkw A aus und verneint einen solchen des Fahrers des Pkw B.
Der Sachverständige sollte bei der Abfassung seiner Gutachten nicht vergessen, dass der Mensch ein »Augentier« ist. Dass ein Bild oft mehr als hundert Worte sagt, bestätigt uns die tägliche Erfahrung. Der Sachverständige kann sich oftmals langatmige sprachliche Darstellungen ersparen, wenn er auf Fotos, Schemazeichnungen, Plänen etc. seine Befundtatsachen kenntlich macht. Wer es mit der Analyse von Verkehrsunfällen zu tun hat, weiß, dass das Wort Goethes: »Blick ist Urteil« auch heute noch seine Berechtigung hat. So blättert der Berufungsrichter in einer Verkehrszivilsache, bevor er mit der Lektüre des Ersturteils beginnt, die Akten nach einer Skizze und den polizeilichen Lichtbildtafeln durch. Denn die Verhältnisse am Unfallort lassen sich allein mit sprachlichen Mitteln kaum darstellen. Manche Lebenssachverhalte entziehen sich überhaupt einer sprachlichen Abbildung. Hierzu gehören gerade viele technische Vorgänge. Wenn man die Entscheidungssammlung des BGH durchblättert, stößt man hin und wieder auf Graphiken. In aller Regel handelt es sich um technische Zeichnungen in Patentfällen.
3 Das unparteiische Gutachten
Grundbedingung dafür, dass das Gutachten zum richtigen Ergebnis kommt, ist, dass der Gerichtssachverständige das Gutachten von einem neutralen Standpunkt aus erstattet. Dazu ist er nach § 410 Abs. 1 S. 2 ZPO verpflichtet. Hiernach hat er das Gutachten nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen, sondern auch unparteiisch zu erstatten. Das Gegenteil eines unparteiischen Gutachtens ist das Gefälligkeitsgutachten, das versucht, eine schwächere Position zur besseren zu machen. Spricht man von einem Gefälligkeitsgutachten, geht man normalerweise davon aus, dass der Gutachter bewusst sein Gutachten so gestaltet, dass ein erwünschtes Ergebnis herauskommt. Es wird hier also eine manipulierende Absicht angenommen. Außer bei gestellten Verkehrsunfällen, an denen leider auch manchmal Sachverständige mitwirken, sind mir in meiner langen Justizlaufbahn bewusste Manipulationen durch Sachverständige nicht untergekommen.
Neben der bewussten Parteilichkeit gibt es aber auch die unbewusste Parteilichkeit. Diese ist bereits dann gegeben, wenn Parteivortrag unkritisch als Anknüpfungsbasis im Gutachten verwendet wird. Auch in diesen Fällen wird von Gefälligkeitsgutachten gesprochen. Dort, wo das Gesetz den Parteien das Recht einräumt, einen Gutachter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen (§ 406 ZPO), besteht die Vermutung, der Sachverständige könnte wegen eines Eigeninteresses an der Sache oder seiner Beziehung zu einer Partei unbewusst parteiisch sein. Es bedarf keines vertieften psychologischen Wissens, um zu erkennen, dass eine nahe Beziehung zu einer Person oder das Eigeninteresse es uns erschwert, neutrale Feststellungen zu treffen und ausgewogene Wertungen vorzunehmen. Ein Sachverständiger sollte daher, wenn er einen Gutachtensauftrag erhalten hat, prüfen, ob objektive Befangenheitsgründe vorliegen, er sollte diese Gründe von sich aus anzeigen. Zu diesen Gründen gehört die Bekanntschaft mit einer Partei, auch wenn jene nur lose sein sollte, insbesondere auch der Umstand einer etwaigen früheren Privatgutachtenserstattung für die Partei. Der technische Sachverständige sollte offenlegen, ob er ein eigenes Interesse daran hat, dass ein der Begutachtung unterliegendes Produkt, eine Anlage oder ein technisches Verfahren auf dem Markt verbleibt oder vom Markt verschwindet. Er sollte auch offenlegen, ob er etwa dem Normausschuss angehört, dessen Regelwerk in seiner Gültigkeit von einer Partei angegriffen wurde.
4 Das ungeschminkte Gutachten
Im Alltagsleben sind wir gewohnt, unsere Meinungen und Wertungen in einer Art Schwarz-Weiß-Malerei darzustellen. Entweder fehlen uns die sprachlichen Mittel oder wir sind einfach zu bequem, die Zwischentöne darzustellen. Personen, die griffig zu formulieren verstehen, haben zudem im allgemeinen in der Gesellschaft größeres Ansehen als diejenigen, die auf die Grautöne verweisen.
Entsprechend genießen Sachverständige, die ihre Gutachtensergebnisse eindeutig formulieren, vor Gericht oft das höhere Ansehen als solche, die ihre Ergebnisse mit vielen Wenn und Aber darstellen.
Gutachten, die zu eindeutigen Ergebnissen kommen, sind für den Richter zwar handlicher, sie sind aber nicht unbedingt besser als Gutachten, in denen der Sachverständige sich nur vorsichtig festlegt. Die Rekonstruktion von vergangenen Lebenssachverhalten oder die Erstellung von Prognosen - z.B. die Entwicklung eines Schadens oder einer Krankheit - sind immer nur auf Grund von Wahrscheinlichkeitsurteilen möglich. Geringfügige Verschiebungen bei den Anknüpfungstatsachen dieser Wahrscheinlichkeitsurteile - sei es, dass man ein Indiz hinzufügt oder weglässt - führen oft zu erheblichen Abweichungen bei dem Schluss auf eine vergangene oder zukünftige Tatsache. Manchmal sind Anknüpfungstatsachen auch mehrdeutig und erlauben deshalb verschiedene sich widersprechende Schlussfolgerungen. Es ist deshalb ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, den Richter auf alternative Möglichkeiten hinzuweisen. Man denke an das Beschädigungsbild eines Fahrzeugs, von dem behauptet wird, es sei in einen von der Partei verschwiegenen Vorunfall verwickelt gewesen. Ich habe Fälle erlebt, in denen das auf eine Manipulation hindeutende Schadenbild sich erst bei einer genaueren Nachuntersuchung als nicht manipuliert herausgestellt hat.
Auf Grund manch überraschender Wendung bei Nachbegutachtungen bin ich beim Studium von Sachverständigengutachten im Lauf der Jahre immer kritischer geworden. Wenn der Gutachter Zweifel an einem Ergebnis hat, sollte er diese in seinem.Gutachten auch deutlich machen. Mit einem auf Eindeutigkeit »getrimmten« Gutachten wird der gerichtliche Auftrag, nach bestem Wissen und Gewissen ein Gutachten zu erstatten, nicht erfüllt. Der Sachverständige bietet darüber hinaus, falls seine kosmetischen Retouchen erkannt werden, eine Angriffsfläche dafür, dass die unterliegende Partei ihn haftbar zu machen versucht.
Selbst wenn der Sachverständige alle die von mir vorgetragenen Empfehlungen beherzigen sollte, kann sein Gutachten bei Gericht dennoch auf Kritik stoßen. Dies ist dann der Fall, wenn er das Thema verfehlt haben sollte. Damit sich dieser Alptraum aller Schüler beim Deutschaufsatz nicht auch für den Sachverständigen verwirklicht, hat der Gesetzgeber in den §§ 404 a und 407 a ZPO neuerdings Regeln aufgestellt, deren Beachtung eine Themaverfehlung erschwert. Wie oben bereits erwähnt, kann der Richter wegen fehlender Sachkunde manchmal Schwierigkeiten haben, die Beweisfrage korrekt zu formulieren. Der Sachverständige sollte sich deshalb mit dem Richter in Verbindung setzen, wenn ihm der Sinn eines Beweisbeschlusses nicht klar ist. Er kann und soll dem Richter - auch noch nachträglich - Hilfestellung zur richtigen Formulierung des Beweisthemas leisten. Oftmals reicht bereits ein Telefongespräch aus, um Unklarheiten zu beseitigen. Ein solches Gespräch kann dem Sachverständigen viel Zeit ersparen, zumal dann wenn sich auf Grund eines solchen Gespräches herausstellen sollte, dass das Gericht eine Frage beantwortet haben möchte, für deren Beantwortung der beauftragte Sachverständige nicht genügend spezialisiert ist. Es wird zwar seitens der Sachverständigen mit Recht beklagt, dass die Richterschaft vor Erteilung eines Gutachtensauftrages sich nur selten mit ihnen in Verbindung setzt. Umgekehrt lässt sich aber dasselbe feststellen. Es scheint seitens der Sachverständigen eine Scheu zu bestehen, mit dem Richter Kontakt aufzunehmen, um bei Unklarheit über die Beweisfrage vor Beginn der Gutachtenserstattung mit diesem ein klärendes Gespräch zu führen. § 407 a Abs. 3 S. 1 ZPO macht ein derartiges Gespräch jetzt für den Sachverständigen sogar zur Pflicht, wenn er bezüglich Inhalt und Umfang des Auftrages Zweifel hat.
Ich hoffe, dass diese Neuregelungen in der ZPO sich günstig auf unsere gemeinsame Arbeit auswirken und das erforderliche gegenseitige Vertrauen wachsen lassen. Denn zwischen uns Richtern und Ihnen, meine Damen und Herren Sachverständigen, besteht kein Über- und Unterordnungsverhältnis. Wir Richter sind zwar kraft unseres gesetzlichen Auftrags die Herren des Verfahrens und tragen nach außen die Verantwortung für die Entscheidung. Sie bestimmen jedoch mit ihrem Gutachten in aller Regel faktisch den Ausgang des Verfahrens. Sie sind also meist die faktischen Herren des Verfahrens. So werden die meisten Gerichtsgutachten von uns Richtern ohne Abstriche übernommen (Breunung, aaO, S. 258 ff). Die Diskussion über die Machtfrage zwischen Richtern und Sachverständigen: »Wer ist wessen Diener oder Herr?«, die Franzki unlängst weiter geführt hat (aaO), wird jedoch in dem Maße uninteressant, wie wir beide uns als Partner auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit im konkreten Fall begreifen und verhalten.