12 Was ist Scientology? Postskriptum 2003 mit Ergänzungen von 2020
Scientology, L. Ron Hubbard´s Imperial Game. Ein Score-gesteuertes imperiales strategisches Spiel zur Unterwerfung des Einzelnen und der Gesellschaft mittels Gamifizierung und ähnliche Systeme
I.
Die vorstehende Studie „Was ist Scientology? Die Fabrikation der Mensch-Maschine im kybernetischen Lernlabor“ (1999) wurde zwar in wissenschaftlichen Kreisen weltweit positiv aufgenommen. Ihr ist es jedoch nicht gelungen, hinsichtlich Einordnung und Bewertung von Scientology endgültige Klarheit herbeizuführen. So besteht weiterhin Dissens darüber, ob Scientology eine Neue religiöse Bewegung, eine säkulare utopische Lebensreformbewegung, ein neuer politischer Extremismus oder eine von Verschwörungstheoretikern phantasierte Bedrohung ist.
Die vom Freistaat Bayern in Auftrag gegebene Untersuchung „Gesundheitliche und rechtliche Risiken bei Scientology“ von H. Küfner, N. Nedopil, H. Schöch (2002 ) hat nichts Wesentliches zu ändern vermocht. Unter gänzlicher Ausklammerung der Schriften Hubbards über die als „Technologie“ bezeichnete in Hunderten von Richtlinien (Policy Letters) niedergelegte Organisations- und Verwaltungslehre ( sog. Managementtechnologie), die den Mitarbeitern in sich permanent wiederholten Trainingsprozeduren nach Art eines Coachings angedrillt und als selbständiges Produkt durch WISE verkauft wird, deuten weltweit die allermeisten der Religions- und Kulturwissenschaftler Scientology immer noch als Neue religiöse Bewegung. Sie nehmen hierbei für sich eine Art Deutungsmonopol in Anspruch. Andrerseits fehlen bis heute ökonomische Analysen der Organisations- und Verwaltungslehre durch Organisationswissenschaftler. Angesichts ihrer gesellschaftlichen Konfliktträchtigkeit wird die Organisation darüber hinaus außerdem weiterhin als („gefährliche“) Sekte oder auch als („gefährlicher“) Psychokult qualifiziert.
Daneben wird die Auffassung vertreten, diese Qualifizierungen stellten einen Akt rechtswidriger Diskriminierung und unerlaubter Religionsverfolgung dar.
Das Internetlexikon Wikipedia folgt dieser Qualifizierung von Scientology als „Neue Religiöse Bewegung“, ohne dies auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Obwohl es um die Einordnung von Scientology als Religion weltweit eine heftige - meist auf Englisch geführte - Kontroverse gibt (vgl. Wikipedia: Scientology controversies), wird dies in dem deutschen Hauptartikel von Wikipedia zu Scientology mit keinem Wort thematisiert.
Ausgangspunkt für die Einordnung von Hubbards Lehre bei den Religionen dürfte das von ihm bei der Transformation der dianetischen zur scientologische Lehre fabrizierte märchenhafte Skript über den mythischen Weltenherrscher „Xenu“ und den “Operierenden Thetan“ sein. Dieser wird als vom Körper unabhängiges unsterbliches Geistwesen postuliert. Es könne den Körper wie eine Maschine steuern, ihn bei Bedarf jeder Zeit verlassen. Trotz der Wende zum Mythos hat Hubbard keine Veranlassung gesehen, die von der Dianetik geprägten instrumentellen Organisations- und Verwaltungsvorschriften zu ändern. Die Lehre von Scientology erweist sich daher wie ein Kippbild von Escher als in sich paradox .
Diese offensichtliche Paradoxie wird von der Mehrzahl der Religionswissenschaftler, obwohl sie zwischenzeitlich auch den Begriff der Satire-Religion kennen (Wikipedia: Parody religion) für Scientology nicht für untersuchenswert gehalten. So wird der naheliegenden Frage nicht nachgegangen, ob es sich bei Hubbards Kreation dieser mythischen Wesenheiten und der Erweiterung der Lehre von den vier Dynamiken der Dianetik um weitere vier vielleicht um das Drehbuch eines Science-Fiction-Schriftstellers für ein inszeniertes religiöses Theater handeln könnte, um damit eine Fake oder Fraud Religion zu schaffen. Ungeprüft bleibt auch die Frage, ob es sich hierbei um das phantastische Spiel eines eskapistischen Autors oder aber ein geschicktes Täuschungsmanöver, d.h. eine Kriegslist handeln könnte. Falls tatsächlich ein Kultbetrug vorliegen sollte, kommt einem der Prototyp eines solchen Betrugs in den Sinn: das Trojanische Pferd. Wir werden nachweisen, dass tatsächlich ein Fall eines raffinierten Kultbetrugs gegeben ist. Auffällig ist, dass bei der Auseinandersetzung mit Scientology bis heute eine systematische kriminologische Betrachtungsweise fehlt.
Aber auch die politologische Analyse weist Lücken auf. So wurde bis jetzt noch nicht geklärt, ob Scientology eine „Politische Religion“, d.h. eine säkulare Heilslehre sein könnte. Derartige Heilslehren zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne Rückgriff auf Transzendenz, d.h. einen übernatürlichen Weltgrund die Möglichkeit der Herstellung eines “Neuen Menschen“ und einer „Neuen Gesellschaft“ mit neu entwickelten psychologischen, pädagogischen, organisatorischen und technischen Methoden in der Immanens postulieren. Derartige Politische Religionen mit säkularem Lebensreformprogramm waren bekanntlich der Faschismus, der Nationalsozialismus, unter dem gemeinsamen ideologischen Dach des Marxismus-Leninismus: der Stalinismus und der in China heute noch praktizierte Maoismus. Hubbard operiert ausdrücklich mit dem Begriff des Neuen Menschen. Des Lateins unkundig heißt der Neue Mensch beim ihm verballhornt „Homo novis“. Die Tatsache, dass die deutschen Sicherheitsbehörden Scientology im Anschluss an ein Gutachten von Hans-Gerd Jaschke vom 15.01.1995 als verfassungsfeindliche Bewegung eingestuft haben und sie die Organisation seitdem durch den Verfassungsschutz beobachten lassen, zeigt, dass es der Organisation letztlich um etwas ganz anderes als um die Verbreitung von religiösen Glaubenswahrheiten geht.
Unser „Postskriptum“ soll weitere Beweise dafür erbringen, dass Hubbard tatsächlich eine neuartige Politische Religion begründet und diese bereits weltweit in die Tat umzusetzen begonnen hat. Deren Ziel ist die Errichtung einer zentral gesteuerten diktatorischen Weltgesellschaft (Scientocracy). Mittel hierzu ist die Kybernetik. Was bis heute der Sozialwissenschaft entgangen ist, ist die Tatsache, dass sich Hubbard hierbei in gekonnter Weise des strategischen Konzepts der Spieltheorie bedient hat. Diese ist, was nicht selten übersehen wird, ein tragender Teil der Kybernetik, soweit diese zur Regulierung der Gesellschaft angewandt wird. Den Entwurf für seine neuartige Sozialreform hat Hubbard in seinem Vortrag „International City“ im März 1964 in Saint Hill, Großbritannien vorgelegt (International City, Saint Hill Special Briefing Course, Lectures 375-390, herausgeben von New Era Publications Kopenhagen 1991).
Hinter der sozialreformerischen Fassade findet man, wie in der Studie „Was ist Scientology? (1999) bereits ausgeführt, einen nach betriebswirtschaftlichen Regeln organisierten, von einem Manager geleiteten, nach kapitalistischen Maximen global agierenden Dienstleistungskonzern. Die von Hubbard erfundenen Verfahren tragen einen Markennamen, der unter US-amerikanischen gewerblichen Rechtsschutz gestellt wurde. Auch alle Namen der Firmen, die diese Dienstleistungen verkaufen, sind rechtlich geschützt. Allein diese Organisationsform spricht bereits gegen eine Einordnung von Scientology bei den Religionsgemeinschaften. Dieser Wirtschaftskonzern wirbt mit immensem PR-Aufwand, im Besitz eines zur Gesundung und Höherentwicklung der Menschheit führenden neuartigen Sozialreformkonzepts zu sein:
Eine Zivilisation ohne Geisteskrankheit, ohne Verbrechen und ohne Krieg, in der der Fähige erfolgreich sein kann und ehrliche Wesen Rechte haben können und in der der Mensch die Freiheit hat, zu größeren Höhen aufzusteigen.
Zur Verwirklichung dieser Reformkonzepte verkauft der Konzern mit echten Hard-Sell-Methoden, d.h. mit List und Druck einerseits eine rigide autoritäre Organisations- und Verwaltungstechnologie an die Wirtschaft und andrerseits ein Training zur Persönlichkeitsentwicklung an den Einzelnen. Diesem liegt eine autoritäre drillgestützte Pädagogik zugrunde. Wie wir bereits dargelegt haben, steht hinter dieser Reformidee die kybernetische Lehre. Der ökonomischen Kybernetik folgend definiert Hubbard das menschliche Leben als Produktionsprozess. Er betrachtet Mitarbeiter und Kunden nicht nur im übertragenen Sinn als echte „Produktionsmaschinen“, d.h. „Automaten“ und unterwirft sie dementsprechend zur Leistungskontrolle permanenten engmaschigen Tests (Auditing). Anhand von sog. Zustandsformeln wird der Leistungszustand (Condition) eines Kunden, Mitarbeiters oder Betriebsteils fortlaufend statistisch gemessen und evaluiert und bei Abweichung vom statistisch vorgegebenen Zielwert (Benchmark) durch Drill rücksichtslos korrigiert.
Abweichend von humanen Organisations- und Managementformen werden die Mitarbeiter, aber auch die Trainingskunden zudem permanent sog. SecChecks, d.h. Sicherheitsüberprüfungen (Security Checks) unterworfen. Es handelt sich um strenge Pflichtverhöre, bei denen die Probanden anhand von Fragebögen zu Normverstößen befragt werden. Das E-Meter, ein psychogalvanisches Messgerät zur Erhebung biometrischer Daten, wird hierbei als Lügendetektor eingesetzt. Zeitpunkt und Anlass der Anwendung sowie der Ablauf der einzelnen Schritte dieser Verhöre sind minutiös in Richtlinien geregelt (Wikipedia: List of Scientology Security Checks). Deren Einhaltung wird ihrerseits penibel kontrolliert. All diese Prozeduren gehören zum Betriebsbereich „Ethics“ (Wikipedia: ethics [Scientology]). Bei dem der Persönlichkeitsentwicklung dienenden Auditing werden diese Security Checks „Beichte“ (Confessional) genannt. Sie weichen vom religiösen Beichtreglement jedoch wesentlich ab. Denn Scientology kennt hierbei weder ein Beichtgeheimnis noch ein therapeutisches Berufsgeheimnis. Zudem werden die Regeln des Datenschutzes permanent verletzt. Die gesammelten Verhaltensdaten dienen nicht nur zur Bearbeitung des Falles („Case“) sondern werden auch immer zu Betriebszwecken statistisch ausgewertet, d.h. gescort. Die Sicherheitsüberprüfungen stellen demnach nicht nur ein raffiniert ausgeklügeltes System der Inquisition dar, sondern sind auch gleichzeitig eine effiziente Methode zur allmählichen Verstärkung der Bindung der Probanden an das scientologische Reglement und damit an die Organisation. Es handelt sich hierbei um eine permanente Lernprozedur. In der Begrifflichkeit der Lernforschung ist dies echtes Reinforcement, d.h. konditioniertes Lernen. Die Bezeichnung eines solchen Systems als „Beichte“ dient ersichtlich der Täuschung der Öffentlichkeit.
Mit seinem Social-Score-System, d.h. der statistischen Erfassung von Leistung anhand von Vorgaben (Benchmarks), übt Scientology lückenlose Disziplin und imperiale Herrschaft über Mitarbeiter und Kunden aus. Die derart gewonnenen Messergebnisse fungieren, wie es heute im Wirtschaftsleben üblich ist, als echte Leistungskennzahlen (Key-Performance-Indicators). Neben der Leistungsmessung haben diese Kennzahlen für Hubbard eine zweite Funktion. Er misst mit diesen auch den ethischen Zustand einer Person. Denn er identifiziert - einem radikalen Utilitarismus folgend - Nützlichkeit mit Moralität und erhebt jene zum endgültigen Wertmaßstab für menschliches Zusammenleben. So ist es bei Scientology üblich, allein anhand des auf einer Statistikkurve abgelesenen Messergebnisses nicht nur den scientologischen Leistungserfolg („Upstat“) oder Misserfolg („Downstat“), sondern auch den ethischen Zustand einer Person festzustellen. Dies heißt: Hubbard hat Ethik (Moral, Sittlichkeit) dem Programm der Kybernetiker folgend statistisch messbar gemacht. Ethische Werturteile werden durch eine Messung ersetzt. Dies heißt: Bei Scientology hängt die Wertschätzung einer Person immer an einer Zahl. Die Messergebnisse bilden die Basis der scientologischen Ethik und machen jede ethische Entscheidung errechenbar. Dasselbe gilt auch für das scientologische Recht. Über allen Betriebsangehörigen und Kunden hängt daher die Statistik wie ein Damoklesschwert und treibt diese zu Höchstleistungen bei der „Produktion“ an. Bei Zugrundelegung dieser Maximen sind ethische und rechtliche Konflikte mit der demokratischen Gesellschaft vorprogrammiert. Bei der weltweiten Expansion von Scientology kam es und kommt es daher in demokratischen Systemen zu unzähligen Konflikten mit der Organisation. Das Internet ist ein Spiegel für diese Konflikt.
Äußerst verwunderlich erscheint es, dass eine Organisation mit einem derart monströsen Reglement seit Jahrzehnten weltweit Anhänger gefunden hat und dass sie noch dazu in der Lage war, zu expandieren. Die Erklärung hierfür bietet die bis heute nicht hinreichend beachtete Tatsache, dass hinter der Score-basierten Sozialreformidee die eines Gewinnspiels steht. So hat Hubbard Scientology nach den Maximen eines strategischen Spiels organisiert und sie agiert auch heute noch nach diesem Reglement. Denn der im statistischen Ethiksystem ermittelte Bonus- bzw. Malus-Punktestand fungiert hierbei gleichzeitig als Feststellung des Punktestands (Score) in einem Spiel, mit dem der Gewinn oder Verlust, der Score-Wert, des Spielers gemessen wird. Der Antrieb, hierbei besser als die anderen zu sein, reizt an, sich anzustrengen. Werden - wie hier - spieltypische Elemente auf eine spielfremde Situation, eine Gesellschaftsreform, übertragen, spricht man von Gamifizierung oder Spielifizierung. Dass strategische Spiele die Mitspielenden regelmäßig eint und an das Spiel bindet, sie auch motivieren kann, weiter zu spielen, ist allgemein bekannt. Dass die Teilnahme an strategischen Spielen auch ein äußerst probates Mittel ist, zu lehren und zu lernen, wenn hierbei Belohnungen bzw. Bestrafungen eingesetzt werden, gehört heute zum Allgemeinwissen. Es werden hierdurch die bekannten Winner- bzw. Losergefühle ausgelöst.
Für die Beschreibung sich wiederholender Abläufe in Computerspielen hat sich der Begriff Spielmechanik (Gamemechanics) eingebürgert. Der Begriff wird aber auch auf sich wiederholende formalisierte Spielabläufe von Nicht-Computerspielen angewendet. Die allgemeine Mechanik der Punkteermittlung durch scientologische „Ethik“ lässt sich ohne Schwierigkeiten dem Begriff der Spielmechanik subsumieren. Bei der Beschreibung der 10 Statistikzustände (Conditions = Benchmarks) und deren Bewertung durch „Zustandsformeln“ ( Formulas), die von „Feind“ (niedriger Statistikwert) bis „Macht“ (höchster Statistikwert) reichen, handelt es sich um eine Spezifizierung dieser Mechanik der Punkteermittlung. Durch diese wird eine Rangordnung festgelegt. Diese ist nicht statisch, sondern dynamisch. So gibt es im Strategiespiel Scientology ein ständiges Auf und Ab der Wertungen und damit der Positionen, d.h. es findet ein ständiges Ranking statt. Mit den Unterscheidungen zwischen Preclear, Clear, Potential Trouble Source (PTS) und Suppressive Person (SP) hat Hubbard Spielrollen definiert, die im Strategiespiel Scientology den Mitspielern diktiert, nach welchen sie traktiert werden und die sie schließlich freiwillig übernehmen.
Die Jagd auf SPs, die auszuschaltenden Feinde, treibt die Spieler an und eint sie. Mit der SP hat Hubbard sich aber auch gleichzeitig die Möglichkeit geschaffen, die ihn ablehnende Umwelt (Kritiker, vor allem Psychiater) in sein Spiel mit einzubeziehen, d.h. sie anzugreifen und mundtot zu machen. Die in die Hunderte gehenden Verwaltungsrichtlinien (Hubbard Communications Office Policy Letters - HCOPL -) und die ebenfalls in die Hunderte gehenden Trainingsvorschriften (Communications Office Bulletins - HCOB -) sind daher nichts anderes als vom Game Designer Hubbard für sein Imperial Game geschaffene Spielregeln. Mit den HCOBs werden Mitmenschen zu Spielfiguren abgerichtet. Mit den HCOPLs werden sie im Spiel gesteuert. Über deren Einführung, Abschaffung, Anwendung oder Nichtanwendung hat Hubbard übrigens immer selbst willkürlich, d.h. diktatorisch entschieden. Das auf Gewinnerzielung und nicht auf Gerechtigkeitsverwirklichung ausgerichtete scientologische Reglement ist gänzlich frei von ethischen Maximen. Geraten die staatlichen Rechtsregeln mit den scientologischen Spielregeln und dem Gewinnziel in Konflikt, was nicht selten der Fall ist, so ist der Scientologe immer verpflichtet, dem Reglement Hubbards zu folgen. Dies gilt auch für Konflikte mit dem Sittengesetz. Bei Nichtbefolgung wird er zur PTS oder zur SP (= Feind) erklärt. Im letzten Fall wird die betroffene Person „rechtlos“. Diese Stellung erinnert an das Rechtsinstitut der mittelalterlichen Ächtung. Als rechtlos gestellte Person wird sie zum scientologischen Freiwild („fair game“), sie ist jetzt vogelfrei und darf von jedem Scientologen sanktionslos gejagt, in postmoderner Terminologie gestalkt und gemobbt werden. Mit diesem weltweit angewandten Fair-Game-Instrumentarium hat Scientology in den Achtzigerjahren auch in Deutschland Abweichler und Kritiker schikaniert und terrorisiert und schließlich auch den Verfassungsschutz auf den Plan gerufen. In den USA hat Scientology sich mit diesen Methoden die Steuerbefreiung erzwungen [Wikipedia: Fair Game (Scientology)].
Wie aus Befragungen von Teilnehmern scientologischen Trainings, die keine Konflikte mit dem System hatten und deshalb auch keine schmerzhaften Anpassungsprozeduren zu durchleiden hatten, hervorging, fanden diese in aller Regel die durchgeführten Prozesse (Processings) nicht als quälend; sie berichteten nicht selten sogar von hierbei erlebten echten Glücksgefühlen und dem Drang weiterzumachen. Anscheinend können das Leben und das Training in Scientology auch süchtig machen. Dass bei intensiver Beteiligung an Strategiespielen auch eine Sucht entstehen kann, im Spiel zu bleiben und dieses fortzusetzen, ist bekannt. Unabhängig von den phantastischen Versprechungen, die Hubbard als Gewinn für sein Training in Aussicht stellte, scheint für viele Scientologen im Management, die das Spielreglement begriffen haben, der Anreiz zum Verbleib darin zu liegen, das eigene Leben als strategisches Spiel führen zu lernen, um endlich im Leben Winner zu werden. Im System ist dies für einen Angestellten täglich erlebbar. Denn Untergebene funktionieren auf Knopfdruck und Kunden sind auf Gehorsam gedrillt.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass hinter der scientologischen Ethik eine statistikbasierter Spielmechanismus steht, mit dessen Hilfe Scientology eine effiziente individuelle und kollektive Zwangserziehung (Coercive Education) durchführt. Unsere früher aufgestellte These, dass es sich bei Scientology um eine Erziehungsbewegung und nicht um eine Glaubensgemeinschaft handelt, wird hierdurch bestätigt. Das 1967 von Ron Jones durchgeführte Schulexperiment „The Third Wave“ stützt diese These (Wikipedia: Die Welle (Roman).
Wenn Scientology lediglich die Veranstalterin eines Gewinnspiels wäre, die mittels Statistik Gewinnpunkte misst, stellt sich die Frage, warum dann der demokratischen Gesellschaft und dem demokratischen Staat Gefahren drohen sollen. Es gibt jedoch handfeste Indikatoren für eine solche Bedrohungslage: Denn Scientology misst nicht nur Gewinnpunkte, sondern sie straft bei Nichterreichung des von ihr geforderten Punkte-Solls, wie die Fair-Game-Maxime zeigt, in rigoroser Weise. Gnadenlos! Sie will damit dem Einzelnen und Gruppen, letztlich der gesamten Gesellschaft ihre autoritären Erziehungs- und autoritären Organisationsprinzipien aufzwingen. Es verwundert daher nicht, dass das höhere Management und insbesondere die Angestellten in der SeaOrg in militärischer Strategie anhand der Schrift „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz und des Klassikers „Die Kunst der Strategie“ des chinesischen Kriegstheoretikers Sun Tsu geschult werden. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass Scientology einen eigenen Geheimdienst OSA (Office of Special Affaires) besitzt. Dieser hat mit Stasi-ähnlichen Mobbing- und Stalking-Methoden bis in die Neunzigerjahre weltweit Kritiker verfolgt. Bei der staatsanwaltschaftlichen Hausdurchsuchung 1984 in der Münchner Zentrale wurde im Chefbüro ein professionelles Geheimdienstpapier gefunden (vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 24.04.1986, 115 Js 4298/84). Mit den Maximen einer Neuen religiösen Bewegung, die die Organisation sein möchte, ist dies nur schwer vereinbar.
Beweis für die Fähigkeit, selbst in die staatliche Strukturen sehr mächtiger Staaten einzudringen, ist die Kapitulation des Internal Revenue Service (IRS), der US-amerikanischen Steuerbehörde, die Scientology und allen ihren Nebenorganisationen am 1.10.1993 Steuerbefreiung bewilligt hat, obwohl in Europa auf staatlicher Seite bereits seit über 10 Jahren eine starke Front gegen Scientology entstanden und ihre Religionseigenschaft mit guten Gründen allgemein verneint worden war. In dem Jahrzehnte dauernden Kampf in den USA, der einem Mehrfrontenkrieg glich, benutzte Scientology jedes nur erdenkliche Mittel - auch organisiertes Verbrechen - , um sich durchzusetzen.Trotz lauter werdender Kritik von prominenten exscientologischen US-amerikanischen Bürgern war die US-Regierung bis heute nicht gewillt, die Steuerbefreiung zu widerrufen (Wikipedia: Tax status of Scientology in the United States). Russland hat 2015 Scientology verboten.
In unserer Studie „Was ist Scientology“ (1999) haben wir unter Anführung zahlreicher Nachweise (6a, 6b) gezeigt, welch große Bedeutung für Hubbard die Spielidee besessen hat. Sie durchzieht wie ein roter Faden seine Lehre, seine Organisationstheorie, aber auch seine Trainings (vgl. auch Wikipedia: Game [Scientology]). Wir haben dies mit der „kybernetischen Spieltheorie“ in Verbindung gebracht, diese jedoch nicht weiter erklärt.
Angesprochen wurde damit die mathematische Spieltheorie, mit der Entscheidungssituationen logisch modelliert und Entscheidungsalternativen, d.h. der Gewinnwert (Payoff) einer Entscheidung berechenbar gemacht werden kann. Diese Theorie, die strategisches Verhalten erstmals mathematisch erklärbar machte, wurde außerhalb der Kybernetik erfunden. Für eine mathematisierte Strategielehre ist die Wahl des Namens übrigens denkbar unglücklich ausgewählt. Dieser Name weckt im Deutschen die Assoziation an entspannende, unterhaltsame Freitzeitspiele, nicht aber an strategische Planung und Entscheidung, bei denen es auch um Leben oder Tod gehen kann. Als Bezeichnungsalternative wurde deshalb der Begriff „interaktive Entscheidungstheorie“ vorgeschlagen. Diese Empfehlung hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Der Kybernetiker Norbert Wiener und sein Umfeld haben die neue Lehre in ihre kybernetische Wissenschaft, die bekanntlich die Regelung und Steuerung von Maschinen nach Analogie des menschlichen Organismus erklärt und technisch ermöglicht, integriert. Auch der DDR-Schachmeister und Kybernetiker Georg Klaus, der in den Sechzigerjahren ein wichtiger Vorkämpfer der Kybernetik auf dialektisch-materialistischer Grundlage in Ost, aber auch in West gewesen ist, hat sich dem, wie wir später zeigen werden, angeschlossen. Es wäre notwendig gewesen, präzise zu beschreiben, worum es sich bei der mathematischen Spieltheorie handelt. Dies haben wir leider unterlassen. Daher löste der Hinweis auf diese Theorie in unserer Untersuchung von 1999 bis heute keinerlei Auseinandersetzung darüber aus, dass Hubbard gerade durch die vollständige Adaption dieser Lehre das System Scientology zu einem äußerst schlagkräftigen, aber auch militanten Dienstleistungskonzern machen konnte. Dies soll nunmehr nachgeholt werden.
II.
Die allgemeine Spieletheorie (Ludologie) analysiert im Zuge des Spielebooms im Internet die vielfältigen, ganz unterschiedlichen Strukturen und Funktionen von Spielen im allgemeinen. Leitfigur ist hierbei der Homo ludens. Ein Sonderstellung in der Spieletheorie nehmen die strategischen Spiele ein. Wie wir zeigen werden, ist die Spieltheorie ihrem Wesen nach eine Machtlehre.
Für die strategischen Spiele entwickelte sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine mathematische Disziplin, deren Gegenstand die logische Untersuchung und Beschreibung von strategischen Handlungen, d.h. Spielzügen ist und die rechnerische Bewertung ihres Erfolgs (Spieltheorie). Sie untersucht die Prinzipien, die alle strategischen Spiele gemeinsam haben. Sie ist insoweit eine Metatheorie für strategische Spiele. Sie beschäftigt sich daher nicht mit der Entwicklung einzelner Spiele und deren Regeln, wie dies Spieleentwickler tun. Begründer der Theorie der strategischen Spiele sind der Mathematiker John von Neumann und der Ökonom Oskar Morgenstern. In ihrem 1944 in den USA erschienenen Grundlagenwerk „Theory of Games and Economic Behavior“ stellten sie die heute noch gültigen allgemeinen Maximen der Theorie auf. Das Werk ist der Ausgangspunkt für eine neue Wissenschaft. Ihre Darstellungsmittel stammen aus der Logik und Mathematik.
Der eigentliche Witz der Theorie besteht darin, die Interaktionen miteinander um die Erzielung maximalen Profits konkurrierender Kontrahenten als Teilnahme an einem strategischen Spiel zu betrachten und jede ihrer Aktionen und Reaktionen mit Gewinn- bzw. Verlustpunkten zu verbuchen und am Ende des „Spiels“ den Gesamtgewinn bzw. den Gesamtverlust (Payoff) auszurechnen. Die Spielmechanik gleicht der eines altbekannten Spiels, in dem die erfolgreichen Züge mit Münzen, Gutpunkten etc. belohnt, die nicht erfolgreichen mit Münzabzug bestraft werden (Tokensystem oder Münzökonomie). Es stellte sich rasch heraus, dass die entdeckten Prinzipien nicht nur für die Ökonomie, sondern auf alle strategischen Spiele, schließlich auch auf alle Lebenssituationen, die strategischen Spielen gleichen, insbesondere auch auf kriegerische Auseinandersetzungen anwendbar sind.
Das Prinzip lässt sich am einfachsten am Zweipersonen-Nullsummen- oder Matrixspiel veranschaulichen. Es ist der bekannteste Repräsentant der unterschiedlichen Klassen von strategischen Spielen. Bei diesem beträgt die Anzahl der Spieler 2, der Gewinn des einen Spielers ist gleich dem Verlust des andern. Das Ergebnis jedes Spielzuges wird für beide Spieler in eine Matrix (rechteckige Tabelle mit Zeilen und Spalten) eingetragen (Wikipedia: Normalform eines Spiels). Hieraus lässt sich für jeden Zug der Gewinn- und der Verlustbetrag (Payoff) für jeden Spieler ablesen. Am Ende des Spieles werden die Payoffs addiert. Bei Gleichstand spricht man von einer Win-Win-Situation. Dieser Begriff ist bereits in die Alltagssprache eingegangen.
Strategische Spiele lassen sich in unterschiedlichster Weise klassifizieren. Eine fundamentale Unterscheidung folgt aus dem Informationsstand über das mutmaßliche Verhalten des Gegenspielers: So gibt es die Entscheidung unter Sicherheit (der Spieler glaubt zu wissen, wie sich der andere verhält), die Entscheidung unter Risiko (dem Verhalten des anderen können nur subjektive Wahrscheinlichkeiten zugesprochen werden) und schließlich die Entscheidung unter Unsicherheit (nicht einmal Wahrscheinlichkeiten können angesetzt werden). Durch den Umstand, dass sich mittels der Informationstheorie Wahrscheinlichkeiten über die Informiertheit eines Gegenspielers errechnen lassen, wurde die Spieltheorie auch alsbald Gegenstand von Analysen in Informatik und Kybernetik.
Dreh- und Angelpunkt der Spieltheorie ist die von den Spielern anzuwendende Strategie, um ein Spiel zu gewinnen. Was Strategie ist, lässt sich an echten Spielen, etwa an Kartenspielen, am simplen Stein-Schere-Papier-Kinderspiel oder aber dem Spiel der Spiele, dem Schach, demonstrieren, intuitiv begreifen, aber nicht ohne weiteres allgemein definieren. Dies ist John von Neumann und Oskar Morgenstern gelungen. In ihrem Lehrbuch haben sie den Begriff der Strategie, wie folgt, definiert: „Wir wollen uns … vorstellen, dass jeder Spieler k = 1, …, n die Entscheidung über jeden Zug nicht erst dann trifft, wenn die Notwendigkeit dafür vorliegt, sondern dass er sich über sein Vorgehen bei allen möglichen Situationen vorher schlüssig wird; d.h., dass der Spieler k mit einem vollständigen Plan zu spielen beginnt; einem Plan, der angibt, welche Wahl er zu treffen hat in allen möglichen Situationen, für jede nur mögliche wirkliche Information, die er in diesem Augenblick im Einklang mit dem Informationsschema, das die Spielregeln für diesen Fall vorsehen, besitzen kann. Einen derartigen Plan nennen wir eine Strategie.“ Sind diese Voraussetzungen für einen Spieler gegeben, ist die Strategie ein Algorithmus. Denn es ist jetzt möglich, in jeder beliebigen Spielsituation aus der Menge der nach den Spielregeln möglichen Zügen einen bestimmten auszuwählen.
Seit Jahrzehnten wird aber nicht nur theoretisch, sondern auch in unzähligen Tests strategisches Verhalten in herkömmlichen Spielen, in simulierten Geschäfts- und Lebensspielen analysiert. Es stellte sich hierbei heraus, dass vom Modell des immer perfekt rational handelnden Homo oeconomicus, dem Prototyp eines perfekten Spielers und Strategen, der angeblich immer maximalen Gewinn zu generieren bemüht ist und deshalb, um zu gewinnen, immer die für ihn vorteilhafteste Zugfolge benützt, erhebliche Abstriche zu machen sind. Die Gründe, warum es zu diesen Abweichungen kommt, werden in der Disziplin, die sich Verhaltensökonomik nennt, analysiert. Strategisches Verhalten wird auf dem Computer heute perfekt simuliert. Um die Leistungsfähigkeit einer Strategie zu testen, lässt man sogar Computerprogramme gegeneinander antreten. In manchen Bereichen (z.B. Börse) übertrifft die Strategiefähigkeit des Computers, genauer die eines Computerprogramms, bereits die des Menschen erheblich. Bekanntlich ist der Computer auch zum allzeit bereiten autonom handelnden Spielpartner geworden.
Mittels der Spieltheorie lässt sich auch die aus der Kybernetik entstandene sog. Künstliche Intelligenz ideologiefrei definieren. Sie ist die Strategiefähigkeit einer Maschine, mit welcher sie eine ihr gestellte Aufgabe selbständig erfolgreich zu lösen vermag und die es ihr erlaubt, als autonomer Handlungspartner mit uns im Alltag zu interagieren. Eines Bewusstseins bedarf die Maschine hierzu erstaunlicherweise nicht. Das Fehlen dieser menschlichen Fähigkeit stellt Handlungstheoretiker, insbesondere aber alle Ethiker und vor allem die Strafjuristen vor Probleme, über deren Lösbarkeit/Unlösbarkeit intensiv gestritten wird. In diesem Punkt stehen wir offenbar vor einer echten Paradoxie.
Die Anwendung der Spieltheorie auf das reale Leben bleibt letztlich immer problematisch, da es grundsätzlich fraglich ist, ob die ausgewählte Strategie bzw. die empfohlene Spielmechanik, nach der man sein Handeln im (gamifizierten) Lebensspiel ausrichten möchte, die Lebenssituation, in der man sich gerade befindet, optimal zu lösen vermag. Hinzu kommt, dass die Spieltheorie keine Antwort darauf geben kann, ob der als optimal errechnete Spielzug bei seiner Umsetzung nicht etwa mit dem Sittengesetz, mit in Kraft befindlichen ethischen oder rechtlichen Normen in Konflikt gerät. Da die Spieltheorie unseres Erachtens wertblind ist, sagt sie nichts darüber aus, ob das beabsichtigte Handeln sittlich gut, gerecht oder moralisch ist. Nur wer, wie etwa John Rawls, Spieltheorie und Ethik miteinander fusioniert, wird Entscheidungen auf der Grundlage der Spieltheorie als ethisch aussagekräftig qualifizieren. Diese Vermischung führt letztlich zu einer utilitaristischen Werteethik. Diese steht mit allen Philosophien, die Sittlichkeit und Moral in einem ideellen Wertereich als materiales Wertapriori postulieren, in Konflikt. Für Spieltheoretiker sind ideelle Werte letztlich Axiome, die sie je nach Bedarf in ihre logischen Konstruktionsschemata einführen und wieder entfernen. Als praktisches moralisches Wertminimum bleibt ihnen am Ende auch nur das Urteil: unfaires Spiel.
Die Auswahl der richtigen Strategie wirft zudem weitere Schwierigkeiten auf, wenn man das Spiel, in dem man sich engagieren will, gar nicht kennt oder wenn man das Verhalten des Gegenspielers nicht abzuschätzen vermag (Gefangenendilemma). Dies gilt erst recht, wenn der Gegenspieler eine autonom agierende Maschine, ein Automat, ist.
Schließlich muss der fundamentale Unterschied zwischen kooperativen und nichtkooperativen strategischen Spielen beachtet werden. Letztere werden u.a. auch zur Modellierung von sog. Überlebensspielen, d.h. der Analyse von feindlichen Auseinandersetzungen auf Leben und Tod benützt. Der Bereich der nichtkooperativen Spiele ist heute ein Brennpunkt der spieltheoretischen Forschung. Das fruchtbare Zusammenspiel zwischen der kooperativen und der nichtkooperativen Form der Spieltheorie zeigt sich bei dem von den meisten humanistischen Spieltheoretikern als omnipotentes Verteidigungsmittel anerkannten Strategem „wie du mir, so ich dir (Wikipedia: Tit for Tat). Dass dieses Strategem Leitfunktion für unser Leben haben sollte, sofern wir es grundsätzlich friedlich gestalten wollen, bewies der US-amerikanische Politologe Robert Axelrod. Denn diese Strategie bewährt sich nicht nur im Wettbewerb zwischen Mensch und Mensch, sondern auch bei einem solchen zwischen Computerprogrammen. So verdrängte die Spielmechanik „Tit for Tat“ in einem mittels eines evolutionären Algorithmus (vgl. Wikipedia) simulierten Überlebensspiel nach und nach alle anderen Programme. Aus dieser Tatsache können Lehren für eine friedliche oder feindliche Gestaltung agonistischer bzw. antagonistischer (feindlicher) Lebenssituationen gezogen werden. So zahlt sich in Konfliktsituationen Beherrschtheit und abwägende Reaktionsbereitschaft - also kein Vergeltungsautomatismus - auf die Dauer aus. Behandeln wir unsere Rechtsmaxime Treu und Glauben als Strategem, erkennen wir, dass die Anwendung dieses Prinzips zur Friedenssicherung in einer friedliebenden demokratischen Gesellschaft unverzichtbar ist.
Wir schließen unsere kurze Einführung in die Grundsätze der Spieltheorie zunächst hier ab. Zur Historie der Spieltheorie, die mit der Geschichte der Kybernetik aufs engste verknüpft ist, kommen wir später zurück. Unsere zu Beginn aufgestellte These, dass die Spieltheorie eine Machtlehre sei, hoffen wir hinreichend belegt zu haben.
Wenn wir von dem derzeitigen Trend einer „Gamifizierung“ oder „Spielifizierung“ unseres Alltagslebens sprechen, mit der wir Spielelemente in Lebensbereiche tragen, wo sie sonst nicht vorkommen, denken wir normalerweise nicht an die Spieltheorie. Wir beteiligen uns an - angeblich freundlichen - Gewinnspielen im Netz und in den sozialen Medien, wo wir mit Boni belohnt werden. Wir „spielifizieren“ neuerdings zur angeblichen Optimierung und Erleichterung der Arbeit unser Berufsleben oder wir spielen zur Optimierung unserer Fitness mit Hilfe von Apps, die unsere Leistungsparameter messen, auch Spiele gegen uns selbst. Messen wir unseren Spielerfolg, indem wir unsere Gewinnpunkte zählen, dann scoren wir. Durch die ubiquitäre Digitalisierung unseres Lebens reicht, wenn wir uns an Spielen im Netz beteiligen, ein Klick, um unseren Score feststellen zu können.Dass Spielen eine janusköpfige Angelegenheit ist, merken wir erst, wenn es beim Spielen zu überraschenden Punkteabzügen kommt. Verärgert sprechen wir dann von „Abzocke“.
Die Digitalisierung schafft für die Anwendung des Spielprinzips ungeahnte neue Möglichkeiten. Man kann sogar von einer neuer Organisationsform sprechen: die Game-gestützte Organisation. Sie kann den Nutzer zum Agonisten in einem Dauerspiel machen. Die neue Organisationsform ist sowohl für den Einzelnen als auch für Gruppen (Organisationen) ubiquitär nutzbar. Diese Prinzipien haben sich heute weltweit durchgesetzt und bilden auch die Basis für die Erziehung unseres Managements. Die alte Spruchweisheit: „Das Leben ein Kampf!“ hat sich heute zur Sentenz „Das Leben ein Spiel!“ gewandelt. Hat man sich früher für den Wettbewerb „gerüstet“ oder „gewappnet“, ist man heute, als sei man in einer Fußballmann- schaft, „gut aufgestellt“.
Die Spieltheorie, die wir als als Machtlehre vorgestellt haben, scheint diesem ubiquitären, uns scheinbar immer Glück bringenden Gaming gegenüber auf einem anderen Kontinent angesiedelt zu sein. Wer dieser von PR-Strategen lauthals verkündeten frohen Botschaft folgt, sitzt einem fatalen Irrtum auf. Denn die schöne neue Welt der digitalen Gamifizierung hat ganz erhebliche kaum erkannte Schattenseiten. Um diese zu erhellen, ist es erforderlich, die Mechanismen der Gamifizierung im Einzelnen offen zu legen. Denn es handelt es sich bei den meisten um echte Spielmechaniken.
Wesentlicher Erfolgsfaktor für die neue durch Spielelemente geprägte Organisationsform ist die Benutzung des oben bereits vorgestellten Token-Systems. Durch die Aushändigung einer smbolischen Belohnung in der Form von Spielmarken (=Tokens), Fleißkärtchen, Boni, Rabattmarken, Kreditpunkten, Paybackpunkten, Rangplätzen, Belobigungen, digitalen Likes usw. wird der Mitspieler in der Regel erfolgreich motiviert, das Spiel fortzusetzen. Man nennt das Token-System daher auch Münzverstärkungssystem (kurz: Verstärkungssystem). Nach Erreichung einer vereinbarten Punktemenge kann der Spieler die Spielmarke in eine reale Belohnung umtauschen. Das Tokensystem kann auch so konstruiert werden, dass es bei einem Fehlverhalten als Bestrafung einen Punkteabzug gibt (Response-Cost-System). Dieses von Verhaltenspsychologen entdeckte Verfahren, das die Spieltheorie in praxi verkörpert, wird seit Jahrzehnten äußerst erfolgreich zur Verhaltenskontrolle und Verhaltensmodifikation (Umerziehung) in Therapie, Rehabilitation und Heimerziehung, aber auch von unseren Ökonomen ubiquitär zu Marketingzwecken, unter der Bezeichnung Token Ökonomie neuerdings aber auch als angeblich völlig neuartiges Zahlungsmittel propagiert und eingesetzt (Bitcoin, Blockchain). Der Umstand, dass die Digitalisierung das Prinzip der Münzökonomie inflationiert hat, rechtfertigt es nicht, von einer ganz neuen Form der Ökonomie zu sprechen.
Die Nutzung eines Verstärkungssystems erfolgt entweder freiwillig auf Grund eines Vertrags oder auf Grund obrigkeitlichen Befehls, neuerdings auch faktisch durch den Eintritt in ein Punkte-gesteuertes digitales Soziales Medium. Die Tokens gelten in der Terminologie der Lern- bzw. Verstärkungstheorie als generalisierte konditionierte Verstärker, die gegen die primären Verstärker (zur Bedürfnisbefriedigung ersehnte Gegenstände, Kontakte, Zielorte usw.) vom Mitspieler eingetauscht werden können.
Zwei Effekte werden im Münzverstärkungssystem genutzt. Erstens gibt es durch die Belohnung für den Mitspieler den Bindeeffekt, im Verstärkungssystem zu bleiben, d.h. das Spiel fortzusetzen (More and More-Effekt), zweitens führt es, falls innerer (intrinsischer) Widerstand unterdrückt wird, zu einer allmählichen Verhaltensmodifikation (Shaping oder Lerneffekt), schließlich zu einer bleibenden Verhaltensanpassung. Nebenbei bemerkt: Das System funktioniert auch bei Schimpansen. Es erweist sich damit als effizientes Instrument der Dressur. Ist der Anreiz groß, im Spiel zu bleiben, werden selbst Mali ertragen. Dies geschieht beispielsweise bei Scientology, wenn die Mitspieler die Vergabe von Downstat-Punkten ohne Widerspruch hinnehmen, um im Spiel zu bleiben.
In einem Token-System benutzen die Spiele-Veranstalter die von Spiele-Analytikern dem Menschen attestierte angeborene Wettkampfneigung, die auch als agonaler Trieb oder als agonaler Instinkt bezeichnet wird (z.B. J.Huizinga). Treten in einem Token-System die Mitspieler zudem gegeneinander an und wird für den Gewinner ein Preis ausgesetzt, verstärkt sich durch den Drang der Spieler erster zu werden, der Bindeeffekt, im Spiel zu bleiben, ganz erheblich. Aus dem üblicherweise friedlichen, kann, sollten Schiedsrichter dies nicht unterbinden, bisweilen ein unversöhnlicher Wettbewerb, ein unfairer antagonistischer, manchmal auch brutaler Kampf werden.
Der Handel macht im Marketing durch die Vergabe von Boni von diesem Verstärkungssystem zur Verhaltensbindung von Kunden in vielfältigster Weise (z.B. zur Erzielung von Markentreue) heute äußerst erfolgreich Gebrauch. Das gesamte Marketing im Internet ist von der Gewährung von Belohnungspunkten geprägt. Aber auch unser europäisches universitäres Bildungssystem (Pisa), das durchgehend mit Kreditpunkten arbeitet, hat seine Organisation diesem System unterstellt. Die europäische Bildungspolitik wird deshalb von einigen als Kybernetisierung der Hochschulen massiv kritisiert (D. Gugerli).
Ein Verstärkungssystem ist aus verhaltenspsychologischer Sicht in seiner Wirkung immer ambivalent. Es kann Einfluss auf die Lebensführung nehmen und generell die Verhaltens- und Handlungsfreiheit gegenüber einem auch möglichen Alternativverhalten einschränken. Wenn die Punktevergabe nicht fair erfolgt, wird dies gewöhnlich als sittenwidrig bewertet. Zynisch ist sein Einsatz, wenn selbstschädigendes oder gemeinschädliches Verhalten mit Boni belohnt wird. Ist die Vergabe von „Zuckerbrot“ (Boni) und „Peitsche“ (Mali) in einem sog. Sozialkredit-System miteinander kombiniert, kann sich die Abhängigkeit bis zur Versklavung steigern (z.B. Scientology). Besonders riskant für die Freiheit ist es, wenn ein Staat sich eines solchen Systems bedient. So steht China kurz vor der Einführung eines Sozialkredit-Systems für seine Bürger. Was in Europa unter Netzaktivisten für helle Aufregung sorgt, stößt in China merkwürdigerweise nicht auf Kritik, wird von vielen Chinesen sogar ausdrücklich begrüßt. Dass das System zur Disziplinierung von Regimestörern errichtet wird, steht außer Frage. Ob es tatsächlich zu einer völlig gnadenlosen digitalen Tyrannei kommen könnte, ist offen.
Beim Mitmachen in einem Verstärkungssystem ist jedenfalls immer Vorsicht geboten. Auch Fehlprägungen sind nicht ausgeschlossen, wenn durch den Erwerb des primären Verstärkers die Möglichkeit eröffnet wird, etwa ein Suchtverhalten fortzusetzen und/oder zu steigern (etwa Spielsucht). Da im heutigen Marketing sozialadäquate und riskante Verstärkungssysteme sich für den Verbraucher nicht ohne weiteres unterscheiden lassen, ist es für diesen nicht einfach, das Risiko richtig einzuschätzen. Unseriöse Verstärkungssysteme werden heute gewöhnlich durch den Verbraucherschutz entlarvt. Sind sie sittenwidrig, können sie untersagt werden.
Aus der Spieltheorie entwickelte sich auf der Basis der der Spieltheorie verwandten wesentlich menschenfreundlicheren Theorie der Rationalen Wahl oder Entscheidungstheorie (Rational Choice Theory) eine interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, die einen mathematisierbaren Entscheidungsrahmen für die Ökonomie, Soziologie, Politologie, aber auch Biologie bietet. Der zu Zeiten der Kybernetikeuphorie vertretene normative Mensch-Maschine-Maßstab, der gelegentlich zu einer technisch-instrumentellen, d.h. tayloristischen Behandlung des Menschen geführt hat (Stafford Beer), wurde fallen gelassen und durch realitätsnähere freundlichere Menschenbilder ersetzt. Diese Theorie läuft derzeit jedoch Gefahr von der algorithmisierten Spieltheorie ausgehöhlt zu werden. Der Mensch kann bei ihrer Anwendung zu einem logistischen Netzknoten in einem Netzwerk abstrahiert und hierdurch „spielbar“ gemacht werden (Wikipedia: Graphenspiele). Dies ist eine Rolle rückwärts in die Kybernetik.
In der Psychologie wird die Spieltheorie heute in sog. Simulationsspielen zur Analyse von Entscheidungs- und Lernprozessen eingesetzt, in der Pädagogik dienen strategische Spiele zum Einüben erwünschten Verhaltens. Diese Pädagogik wird aber auch zum erfolgreichen Training von Militärs für den Kriegseinsatz benützt. In „Government simulation games“ kann auch politisches Handeln heute in vielfältiger Weise eingeübt werden.
Die praktischen Auswirkungen der Spieltheorie in der Gesellschaft sind streitig. Während die einen ein ausschließliches Kalküldenken und -handeln für das Entstehen des Turbokapitalismus und eine Tendenz zum digitalen Totalitarismus verantwortlich machen, feiern sie andere dafür, endlich stabile Grundlagen für den Erhalt von Institutionen zur Verfügung gestellt (Institutionenökonomie) und die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, die Ethik auf berechenbare Grundlagen stellen zu können. Auch die evolutionäre Spieltheorie ist umstritten. Während die einen der Meinung sind, durch Veranstaltung von Selektionsspielen im Computer die Evolution, d.h. die Entstehung alles Lebens und Überlebens realistisch simulieren und damit die Gesetzmäßigkeiten der Evolution in Darwins´ Game allgemeingültig beweisen zu können (John Maynard Smith), befürchten andere bei einer Dogmatisierung dieser Lehre die Wiederbelebung eines neuen (digitalen) Sozialdarwinismus. Die Diskussion wird dadurch erschwert, dass es bis heute nicht gelungen ist, zwischen Rechtsregeln und den die Spieler instrumentalisierenden Spielregeln eine eindeutige Unterscheidung zu treffen.
Erhebt man Strategie zum letzten Erklärungsprinzip des Lebens, wie manche Spieltheoretiker es tun, die unser Leben kurzer Hand zum strategischen Spiel und die Welt zum Spielfeld erklären(Strategismus), kann es es zu erheblichen Konflikten mit unserer demokratischen Rechtsordnung kommen.
Bedient man sich der Spieltheorie als Entscheidungshilfe in mechanischer Weise, verwandeln sich strategische Empfehlungen, die man früher als Strategeme oder Kunstgriffe, bei feindlicher Auseinandersetzung als Kriegslist bezeichnet hat, in sog. Spielmechaniken. Als Gamemechanics beherrschen diese heute ohnehin bereits die Szene der digitalen strategischen Spiele. Äußerst riskant wird die Anwendung dieser Spielmechaniken, falls man sie als das maßgebliche Mittel der Lebensgestaltung propagiert und diese - wie bei Scientology - wirklich in die Tat umsetzt. Bei strikter Umsetzung dieses Reglements kann dies zu einer Operationalisierung des Sozialen kommen (Maschinismus), wie es der DDR-Kybernetik zu eigen war (vgl. V.). Das Sozialsystem gewinnt hierdurch die Zwanghaftigkeit eines diktatorischen Polizeistaats. In einem solchen gelten, wie Ernst Fraenkel in seiner Lehre vom Doppelstaat es am Modell des nationalsozialistischen Regimes gezeigt hat, zwei Typen von Regeln nebeneinander: erstens „Maßnahmen“, d.h. die „Fair-Game-Regeln“ der Machthaber des Systems und „Normen“, durch die der vom System nicht diktierte Lebensrest von den Gewaltunterworfenen nach bürgerlichen Rechtsnormen geregelt werden darf.
Die digitalisierte Spieltheorie stellt mit ihrer wachsenden Machtentfaltung, die Rechtsregeln faktisch außer Kraft zu setzten versteht, unsere Demokratie vor erhebliche Herausforderungen. Sie muss heute der sich grenzenlos entfaltenden Spiele-Macht mit Nachdruck entgegentreten und aus Gemeinwohlinteresse von den mächtigen Spielern Rücksicht für die schwachen einfordern, um sie vor Ausbeutung zu bewahren. Voraussetzung hierfür ist es, dass ein intaktes an das Gemeinwohl gebundenes Normensystem des Rechts besteht, das in der Lage ist, „Fair-Game-Regeln“ jeder Zeit zu brechen. Appelle in der Form von Empfehlungen an die Machthaber in diesen Spielen, die soziale Bindung zu achten, reichen hierfür nicht aus.
III.
Nun zurück zu Hubbard. Er lernte die Spieltheorie zusammen mit der Kybernetik, die Norbert Wiener im Verlauf der Macy-Konferenzen (1946-1953) in seinem Buch Cybernetics or Control and communication in the Animal and the Machine (1948) als neue naturwissenschaftliche Disziplin vorgestellt hat, kennen. Von Norbert Wiener, dem er dort persönlich begegnet ist und mit dem er korrespondierte, hat Hubbard bekanntlich die kybernetische Anthropologie übernommen. Die Spieltheorie war auf den Macy-Konferenzen nie ausdrückliches Verhandlungsthema gewesen, obwohl auch J. von Neumann dort gelegentlich Teilnehmer gewesen war. Die Verbindung der Kybernetik mit der Spieltheorie hat Wiener 1950 in der Schrift „The Human Use of Human Beings (Cybernetics and Society), das 1952 unter dem irreführenden Titel „Mensch und Mensch-Maschine“ in Deutschland auf den Markt kam, der Öffentlichkeit vorgestellt. Damit hat Wiener sein ursprüngliches Kybernetik-Konzept, ein biotechnologisches Steuerungsmodell des Körpers, durch das die aus der Zeit des Rationalismus stammende mechanistische Maschinenlehre des l`homme machine in ein nach den Prinzipien der Informationstheorie steuerbares Modell des Menschen überführt worden war, um eine sowohl an die mathematische Logik als auch an den Wettbewerb gebundene Soziallehre (Sozialkybernetik) ergänzt. Ideengeber war J. von Neumann mit seiner Spieltheorie. Die Umsetzung seiner Sozialkybernetik in die Praxis beschrieb Wiener anhand eines sehr bedrohlichen Bildes als „machine à gouverner“. Er prognostizierte, dass Nutzer und Bediener dieser Maschine, die er übrigens auch einen „ungeheuren Leviathan“ nannte, die Staaten sein würden. Vorbild für Hubbards Lehre und sein Handeln ist diese Regierungsmaschine. Viel besser als andere Kybernetiker, die sich damals am nachrichtentechnischen Funktionsmodell des menschlichen Körpers als Mensch-Maschine abzuarbeiten pflegten, hat Hubbard es damals verstanden, die natürliche Dynamik eines vom Wettbewerb getragenen, sich selbst organisierenden strategischen Spiels für sich zu nutzen. Übrigens dürften die scientologischen „Dynamiken“ vom Dynamikbegriff der Sozialkybernetik inspiriert sein. So sehen die Kybernetiker sich als die Erforscher von sich selbst organisierenden „dynamischen“ Systemen. Das bedrohliche Paradigma der Staatsmaschine wurde inzwischen durch das der Verteilten (künstlichen) Intelligenz ersetzt. Durch eine Kybernetik zweiter Ordnung ist die heutige Kybernetik weit weniger martialisch. Durch den Gebrauch des Begriffs System anstelle des Begriffes Maschine wurde die Kybernetik auch enttechnisiert. Die Systemtheorie hat den Platz der Kybernetik in den Sozialwissenschaften heute weitestgehend übernommen.
Spätestens zu dem Zeitpunkt, als Hubbard 1956 in London Kurse zur „Games Theory. Application of Games Theory to Processing“ hielt, war er mit der Spieltheorie als strategischer Lehre, mit der man Leistungserfolg statistisch messen kann, bestens vertraut. Er machte sie damals bereits zum Dreh- und Angelpunkt seines Systems. Im „Official Scientology and Dianetics Glossary“ definierte Hubbard das Konzept „Game“ (Spiel) so: „a contest of person against person or team against team … and there is a necessity in a game to have an opponent or an enemy.“ (Wikipedia: game (Scientology)). Er erkannte damals offenbar bereits die Binde- und Organisationsmacht, die vom Einsatz eines mit Opponenten und Feinden operierenden Strategiekonzepts ausgeht. Wenig später begann er mit der Entwicklung seiner Organisations- und Verwaltungslehre.
In seinem Organisationsführungskurs (OEC Bd.0) von 1996 - er ist der erste seiner achtbändigen Managementserie - , in dem Hubbard nach und nach seine grundlegenden Richtlinienbriefe gesammelt hat, stammt einer der frühesten Policy Letters von 1957. Er benutzte seine Lehre hierbei nicht mehr nur als Theorie, sondern überhöhte sie zum (sozialdarwinistischen) Lebensgesetz. So immunisierte er sie ein für alle Mal mit einem ausgesprochen genialen Schachzug gegenüber aller Kritik: Immer dann, wenn jemand Widerspruch gegen seine Theorie äußerte, interpretierte er dies als „counter intention“. Eine solche Gegenabsicht ist aber dem Widersprechenden auf der Stelle auszutreiben. Mittel hierfür sind nicht etwa Argumente, sondern die zwangsweise Aberziehung des Widerstrebens mittels Ethics, also Umkonditionierung. Die Anordnung für die Einrichtung dieser der Umerziehung dienenden Zwangsmaschinerie ist in zwei Policy Letters des OEC Bd.0 enthalten. In dem Richtlinienbrief vom 18.6.1968 mit der Überschrift „Ethik“ heißt es lapidar (S.660):
Der Zweck von Ethik ist:
GEGENABSICHTEN AUS DER UMGEBUNG ZU ENTFERNEN.
Und wenn sie dies erreicht hat, wird der Zweck:
FREMDABSICHT AUS DER UMGEBUNG ZU ENTFERNEN.
In dem Richtlinienbrief vom 4.10.1968 mit der Überschrift „Ethikpräsenz“ dekretiert Hubbard (S.661):
Eine Führungskraft kann deshalb Befolgung erhalten, weil sie
Ethikpräsenz hat. Hat man keine, bleibt Befolgung aus.
Wenn Sie Befehle erteilen, verwenden Sie Autorität und
Nachdruck. … Aber es ist nicht die Richtigkeit eines Programms,
die Befolgung erhält. Es ist Ethikpräsenz. ...
Die beiden Richtlinienbriefe zeigen, dass Hubbard ausdrücklich Befehl und Gehorsamserzwingung als allgemeine Organisationsprinzipien für seine Sozialreform empfiehlt. Es handelt sich ersichtlich um ein Instrumentarium aus dem Arsenal der Schwarzen Pädagogik/Zwangserziehung. Dass Hubbard auch ein System der kollektiven Zwangserziehung geschaffen hat, verwundert deshalb nicht (Wikipedia: Rehabilitation project force). Die scientologische „Ethik“, die operational mit „Statistik“ verknüpft ist, liegt damit außerhalb der Goldenen Regel des Weltethos. Dasselbe gilt auch für Hubbards Moralbegriff: „Produktion ist die Grundlage von Moral. Wenn man eine Einheit dazu bringen kann, zu produzieren und lohnende Produktion tatsächlich zu erreichen, dann wird ihre Moral steigen“ (HCO-Pl v. 14.05.1972, a.a.O. S.336). Ähnliches gilt auch für seinen Gerechtigkeitsbegriff: „Nur Statistiken, die Taten und Leistung widerspiegeln, sind gerechte Fähigkeitstests, die zeigen, wer Beförderung und wer Entlassung verdient “HCO-PL v. 13.03.1965, a.a.O. S.39). Also nicht nur Ethik, sondern Moral und auch Gerechtigkeit sind mit der Statistiklehre operational verbunden.
Welch einschneidende Folgen die „Entfernung von Gegenabsichten“ für Abweichler und Kritiker haben konnte, demonstriert die in Wikipedia veröffentlichte Sammlung von Fällen aus den USA (- englische Fassung -: Fair Game (Scientology). Dort wird von einer außergewöhnlich erbarmungslosen Verfolgungspraxis der in Ungnade gefallenen Abweichler berichtet. Diese erinnert, wie verschiedene Scientology-Forscher treffend festgestellt haben, in ihrem systematisierten Vollzug an die Stasimethodik. Das allgemeine öffentliche Urteil hierüber lautet nicht selten: menschenverachtend (vgl. Wikipedia).
Wie sich das anbefohlene „Spiel-Reglement im Einzelnen organisatorisch auswirkt, ergibt sich aus sechs grundlegenden Policy Letters im OEC Bd.0 aus den Jahren 1965, 1967 und 1982, in denen Hubbard sowohl die Führung des einzelnen Lebens als auch das Miteinander in Gruppen als ein für den Einzelnen und die Gruppe zu spielendes „Game“ definiert hat. Er stellt dieses Spiel als andauernden gnadenlosen Leistungswettbewerb, letztlich als Kampf auf Leben und Tod gegen Feinde dar. Unter der Überschrift Die Verantwortlichkeiten von Führungskräften analysierte Hubbard im Policy Letter vom 12. Februar 1967 mit einem vom Begiff „Spiel“ ausgehenden Text den Befreiungskampf des südamerikanischen Revolutionärs Simon Bolivar (S. 463/478). Er kommt hierbei zu einem vernichtenden Urteil: „Bolivar war Theater“. In der Pose des überlegenen Strategen und machiavellistischen Realpolitikers beschreibt Hubbard schulmeisterlich dessen zum Machtverlust und endgültigen Scheitern führende Fehler. Er identifiziert hierbei das Scheitern Bolivars mit „Spielverlust“. Er preist dagegen seine an messbaren Machtgewinn anknüpfenden Handlungsempfehlungen. In einem rüden, den Leser unmittelbar ansprechenden Plauderton empfiehlt er diesem: Wen man von einer Machtposition weggehe, müsse man imstande sein, „jeden einstmaligen Rivalen potenziell zu erpressen“, ferner müsse man „unbegrenzte Gelder auf (dem eigenen) Privatkonto haben und die Adressen erfahrener Killer“. Aus der Einbettung dieser Stelle in andere ähnlich zynische Handlungsvorschläge im OEC-Bd.0 ergibt sich, dass Hubbards Empfehlungen nicht etwa ironisch gemeint sind. Hubbard stellt sich mit diesen außerhalb jeder Moral und Ethik. Wertet man seine Vorschläge rechtlich, so sind diese sittenwidrig. An keiner Stelle seiner Schriften hat Hubbard übrigens jemals darauf hingewiesen, dass sein Konzept des strategischen Spiels ein Plagiat der von Neumannschen Spieltheorie ist.
Welch außerordentliches Gewicht das Game-Konzept zur Strukturierung des Systems Scientology wirklich hat, verdeutlicht dessen Einordnung durch die „Freie Zone“. Denn diese rechnet es zu den scientologischen Axiomen, d.h. den „Dynamiken“. In einer 11. Dynamik behandelt sie die „Technologie des Spiels“, in einer 12. „Die Verwaltung von Spielen“. Sie lüftet damit den pseudoreligiösen Schleier, in den Hubbard sein agonistisches System gehüllt hat und zeigt das wahre Wesen von Scientology in einer wesentlich ehrlicheren Sprache als sein Schöpfer es je getan hat. Wenn er von „Battlefield Earth“, die Freie Zone von „Schach der Erde“ spricht, handelt es sich nicht um den Gebrauch metaphorischer Bilder, sondern den Hinweis auf einen mit strategischem Kalkül zu führenden Kampf, den Scientology, wie die Praxis von Fair Game zeigt, mit gnadenloser Rigorosität gegen alle als Feinde eingestuften Personen zu führen pflegte. Letztlich dürfte Hubbards Basisbegriff „Dynamik“ mit dem des strategischen Spiels identisch sein.
Um in die Lebensform eines im Management tätigen Scientologen hineinzuwachsen, bedarf es nicht nur eines permanenten agonistischen Trainings, sondern auch des Studiums und der Ausbildung in der als „Statistik“ bezeichneten scientologischen Betriebswirtschaftslehre. Der Spieltheorie entsprechend wird, wie oben ausgeführt, der Erfolg (Payoff) in jeder Phase des Trainings und des administrativen Agierens statistisch gemessen. Um diese Messung zu ermöglichen, hat Hubbard im OEC-Bd.0 eine an Bonus- und Maluspunkte anknüpfende monströse Statistiklehre entwickelt, die er ähnlich wie beim Bankstatistik-Ranking mit Kurven visualisiert. Im Stichwortverzeichnis der Ausgabe von 1996 finden sich beim Suchbegriff „Statistik“ sage und schreibe 120 Stichworte. In jedem vierten der ca. 250 Richtlinienbriefe des OEC-Bd.0 kommt Hubbard auf die Statistik zu sprechen. Im Richtlinienbrief „Ungerechtigkeit“ vom 24.02.1972 erklärt er in drei Zeilen Sinn und Zweck seines Statistikwesens und damit gleichzeitig auch die äußerst simple und gleichzeitig erbarmungslos harte Funktionsweise seines gesamten Systems in der im eigenen sarkastischen Sprechweise (S.780):
STATISTIKEN
Die beste Verteidigung gegen jegliche Ethikaktion sind gute Statistiken. Wenn man keine persönliche Statistik hat, befindet man sich in einer schlechten Lage und eignet sich bestens als Tontaube, wenn etwas schief geht.
Obwohl im Gutachten Schöch/Nedopil/Küfner eine Analyse dieser Verwaltungstechnologie auf organisationswissenschaftlicher Basis angemahnt worden ist, steht bis heute eine solche aus. Abgesehen von unseren Analysen wird bei der Beschreibung von Scientology das soziometrische Menschenbild, das mit Benchmarks und Ranking arbeitende Statistikwesen vollständig ausgeklammert. Die Einordnung von Scientology bei den sog. „Psychogruppen“, deren wir uns im Konflikt der Achtziger- und Neunzigerjahre in Deutschland ebenfalls bedient haben, erweist sich als offensichtliche Fehletikettierung. Wenn Hubbard seine Methoden „Technologien“ und er sich selbst als „Ingenieur“ bezeichnet, knüpft er gerade an diese soziometrischen Messverfahren an. Soweit seriöse Psychologen und Soziologen von ihren Messungen bei ihren Verhaltenstests berichten, gebrauchen sie zur Beschreibung ihrer Methoden nicht selten ebenfalls den Begriff Technik.
IV.
Sowohl aus den USA als auch aus dem Ostblock gibt es zu Hubbards Lehre verblüffende Parallelen. Um den damals von der Kybernetik ausgehenden technologischen Spirit, der deutlich vom Kalten Krieg geprägt war, zu verstehen, werden wir jetzt zwei dem Hubbardschen Reformvorhaben verwandte Projekte vorstellen. Wir kamen in den Sechzigerjahren selbst erstmals mit der Kybernetik in Berührung und kennen deshalb die faszinierende Strahlkraft, die damals weltweit von ihr ausging, zur Genüge. Sie war nicht nur eine neue wissenschaftliche Disziplin, sie war damals für viele Kybernetiker auch eine Art neuer Heilslehre, die das rätselhafte Körper-Geist-Problem auf natürlicher bzw. materialistischer Grundlage – so der Marxismus - gelöst zu haben glaubte. Das geistige Operieren des Menschen wurde, wie auch Hubbard es lehrt, durch die Funktionsweise eines natürlichen Computerprogramms im menschlichen Gehirn erklärt.
Im Jahr 1963 erschien das nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland unter Kybernetikern und heute noch unter Wissenschaftshistorikern Furore machende Buch „The Nerves of Government: Models of Political Communication and Control“ „(deutsch: „Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven“ 1969) von Martin M. Deutsch. In diesem wird anknüpfend an die durch J. von Neumann entwickelten strategischen Prinzipien der Spieltheorie und die Regelungslehre der Kybernetik am Modell einer Maschine (S. 340) die vollständige harmonische Steuerbarkeit eines demokratischen Staats und einer demokratischen Gesellschaft vorgestellt. Zwischen den Konzepten Hubbards und Deutschs bestehen bezüglich signaltechnisch aufgefasster Kommunikation, deren messtechnischer Kontrolle und des Postulates, allein durch quantitative Erfassung und Auswertung von Zielabweichungen mittels statistischer Verfahren könnten alle Verhaltensstörungen bei den Teilen und der Gesamtheit des Systems Demokratie festgestellt und durch technische Korrekturbefehle behoben werden, lückenlose Übereinstimmung. Während Deutsch von weicher Kontrolle ausgeht und dem Trugschluss aufsitzt, sein Organigramm, ein technischer Schaltplan, bilde die ideale Demokratie wirklich ab, obwohl es ebenfalls die Blaupause für eine kybernetische Diktatur ist, setzt Hubbard in seiner „Idealen Org“ gemäß dem Organigramm des OrgBoard von 1965 durch die Praxis der lückenlosen Überwachung und konsequenten Bestrafung von Abweichung aller Glieder einer Gesellschaft von vorneherein auf die Verwirklichung einer kybernetischen Staats- und Gesellschaftsmaschine totalitären Zuschnitts. Deutschs Maschine knüpft an den Gleichgewichtszustand der biologischen Homöostase an; dagegen ist Hubbards im Modus der nichtkooperativen Spieltheorie agierende imperiale Maschine auf permanente Expansion programmiert, d.h. sie befindet sich immer im Angriffszustand. Starkes Interesse an der Kybernetik und der Spieltheorie hatte aber auch der Ostblock. Auch dort steht bei den Kybernetikern am Ende eine computergesteuerte Staatsmaschine: eine sozialistische „machine à gouverner“, die mit einer kapitalistischen „machine à gouverner“ um die Weltherrschaft ringt.
V.
Der Ostblock zeigte an der Kybernetik deshalb starkes Interesse, weil er sich von ihr eine Optimierung seiner zentralen Planwirtschaft erhoffte. Er sah in ihr sogar eine Bestätigung für seine Lehre der zentralen Lenkung und Organisation von Staat und Gesellschaft. So fanden in der DDR unter der Leitung des Philosophen Georg Klaus in den Sechzigerjahren zur Erforschung der Kybernetik, die als Brücke zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften galt, intensive Forschungsarbeiten statt. Ihren Niederschlag fanden sie in zahlreichen Veröffentlichungen. Übrigens beteiligte sich auch die Justizministerin Hilde Benjamin an dieser Forschung. Sie wollte die Kybernetik für das Strafrecht nutzbar machen. Klaus analysierte jedoch auch die für das Verständnis der Kybernetik unerlässliche Spieltheorie. Seine Untersuchungen hierzu sind für die Spieltheorie sub specie machinae nicht nur von historischem Interesse sondern sie liefern für die Erklärung der angeblich so modernen Künstlichen Intelligenz für die heutige Zeit ein wichtiges Erklärungsmodell. Es ist daher erforderlich, auf sie näher einzugehen:
In dem Buch „Spieltheorie in philosophischer Sicht“ 1968, entwickelte Klaus die logischen Prinzipien bei Mehrpersonenspielen, deutete sie aber auch weltanschaulich. Er sah durch sie nicht nur die Evolutionstheorie, sondern auch die marxistische Lehre vom dialektischen Widerspruch bestätigt. Er arbeitete heraus, dass die Spieltheorie aufgrund des dem Menschen angeborenen Spieltriebs in den Dienst des Lernens gestellt werden müsse, sie sei zudem ein allgemeingültiges logisches Werkzeug für die Politik, aber auch für jede Kriegsführung. Er sah in ihr ähnlich wie Deutsch ein notwendiges Instrument für jede erfolgreiche imperiale Machtanalyse. Ganz am Rande postulierte er schließlich auch ihre Eignung zur Begründung der Moral. Die Spieltheorie sei als mathematische Theorie der Entscheidung weder moralisch noch unmoralisch. Anderes gelte jedoch hinsichtlich des Verhaltens der Spieler. So sei es unmoralisch, wenn ein Spieler einen Mitspieler zur Teilnahme an einem für ihn nachteiligen (unfairen) Spiel überrede. Über das von Wissenschaftstheoretikern und Pädagogen damals kontrovers diskutierte programmierte Lernen, das das Bindeglied zwischen Kybernetik und Spieltheorie ist, äußert sich Klaus angesichts der sozialwissenschaftlichen Ausrichtung seiner Studie nicht. Ein blinder Fleck der Analyse ist die vollständige Ausklammerung des Rechts. Sinn und Funktion von Geboten und Verboten werden mit keinem einzigen Wort erörtert. Grund hierfür dürfte der Umstand sein, dass Kybernetiker und Spieltheoretiker regelmäßig Rechtsregeln fälschlich auf Spielregeln und wohl letztlich auf Algorithmen zurückführen und sie miteinander identifizieren. Außer Frage steht, dass diese neben ihrem mathematischen Teil auch stark klassenkämpferisch-ideologisch geprägte Analyse zugleich Kampfschrift für den Marxismus-Leninismus war. Durch seinen radikalen kybernetischen Ansatz, der eine Selbststeuerung der Gesellschaft mit technischen Mitteln für möglich hielt, stellte Klaus den Marxismus als gesellschaftliche Basis aber letztlich in Frage. Die Kybernetik fiel beim Politbüro der DDR als Gesellschaftstheorie deshalb schließlich in Ungnade. Dies hinderte Klaus aber nicht daran, eine weitere Ausgabe seines Wörterbuches der Kybernetik in Ost- und Westdeutschland herauszubringen und im offiziellen Wörterbuch der Philosophie der DDR weiterhin die Regelungs- und Steuerungslehre der Kybernetik auf Basis der Informationstheorie als letztbegründende Prinzipien des menschlichen Erkennens und Handelns zu propagieren.
Am Ende seiner Untersuchung bezieht sich Klaus auf eine Rezension des ersten Werks von Norbert Wiener über Kybernetik durch den Dominikanerpater Dominique Dubarle in Le Monde vom 28.12.1948. In dem Aufsatz mit dem Titel „Vers la machine à gouverner“, schlägt der Rezensent vor, man möge mit Hilfe der Kybernetik eine Maschine derart programmieren, dass sie sowohl in der Lage sei, als militärstrategische Kommandozentrale die Gesellschaft automatisch zu verteidigen als auch gleichzeitig automatisch nach einem Optimum für deren Existenz zu suchen und dieses herzustellen. Nach der ausdrücklichen Billigung dieses Textes in Cybernetics and Society durch Norbert Wiener gehört dieser auch heute noch zu den heiligen Schriften radikaler Kybernetiker. Auch Klaus, der damals die alsbaldige Symbiose von menschlichem Gehirn und elektronischer Rechenmaschine für möglich gehalten hat (S.331), schloss sich der Auffassung Dubarles an.
Stellt man die Auffassung der vom Blockdenken des Kalten Krieges geprägten und damit imperial denkenden Kybernetiker von damals unserer heutigen ubiquitär digitalen, großteils noch demokratischen Welt gegenüber, in der Tausende digitaler Heinzelmännchen in der Form von Apps siedeln und uns friedlich helfen, ist man auf den ersten Blick geneigt, die damaligen wissenschaftlichen Hypothesen von Klaus als gescheitert anzusehen und den (Alb-) Traum einer „machine à gouverner“ in die Science-Fiction-Literatur einzureihen. Bei einem zweiten genaueren Blick wird man jedoch nachdenklich. Vergleicht man die Art der Kriegsführung der USA, Terroristenführer in Afghanistan und Pakistan durch Raketenbeschuss aus einer ferngelenkten Drohne zu töten, wobei der Flugkörper, der Abschuss und die Lenkung der Raketen von einem in Europa stehenden Schreibtisch aus mittels Controllers wie in einem Computerspiel gesteuert wird, und nimmt man die abgeschlossene Entwicklung autonom agierender Waffensysteme noch hinzu, muss man konstatieren, dass der militärische Aspekt der „machine à gouverner“ jetzt perfekt verwirklicht ist. Interessant ist, dass mit Blick auf die technische Steuerung „game“ und „war“ ununterscheidbar geworden sind. Hierzu passt, dass unter Nutzung dieses Effekts die digitale Spieleindustrie vor allem in den USA den Markt mit außerordentlich realistischen digitalen Kriegsspielen flutet. Welchen Effekt deren Nutzung auf die Gesellschaft auf die Dauer haben könnte, ist strittig. Als Theorie einer Waffentechnologie im Zweiten Weltkrieg von Norbert Wiener erfunden, befindet sich die technische Steuerungskunst der Kybernetik heute offenbar auf dem Gipfel ihres Könnens und ihrer Wirksamkeit.
Nimmt man die Künstliche Intelligenz, eine von Klaus damals bereits prognostizierte und auch befürwortete Fortentwicklung des kybernetischen Projekts in den Blick, ist zu konstatieren, dass ein Teil der heutigen Kybernetiker und der von Künstlicher Intelligenz auf Wunder Hoffenden immer noch und heute neu die Verwirklichung auch des zivilen Teils der „machine à gouverner“ realisieren wollen. Wir dagegen halten die Idee, mittels Künstlicher Intelligenz anstelle des Menschen in Zukunft jede nur denkbare, sogar existenzielle Entscheidung technisch treffen zu können und dies auch zu wollen (sog. starke KI), nicht für realisierbar, letztlich für Hybris, die das Humanum zerstört. Warum? Künstliche Intelligenz weist bekanntlich folgende Fähigkeiten auf: Lernfähigkeit, Fähigkeit zu logischem Schlussfolgern, Planungsfähigkeit, Fähigkeit zur Problemlösung unter Nutzung künstlicher sensorischer und aktorischer Werkzeuge zur Herstellung virtueller Realität gegebenenfalls auch durch unmittelbaren Zugriff auf unser Gehirn. Hinzu kommt neuerdings auch die Fähigkeit, zu komponieren und zu dichten. Ziel der Forschung ist die Entwicklung eines technischen Systems, welches das menschliche Handeln teilweise oder ganz zu ersetzen und es schließlich auch transhuman zu übertreffen versteht (Transhumanismus). Der Lösung dieses Problems nähert man sich aus verschiedenen Richtungen: erstens durch die Schaffung menschenähnlicher Roboter, zweitens durch die Ersetzung ausgefallener körperlicher und sensorischer Organfunktionen bzw. deren Erweiterung in Lebewesen (bionische Prothetik). Schließlich werden in der Neurobionik bzw. Psychokybernetik auch die kognitiven und volitiven Fähigkeiten des Organismus Mensch in die Forschung mit einbezogen und deren technische Modellierung versucht. Der Mensch wird bei der Nutzung dieser neuen Organfunktionen zu einem kybernetischen Organismus (Cyborg), einem Mischwesen aus Organismus und Maschine. Die Forschung arbeitet heute immer noch und immer erfolgreicher an der Verifizierung des Axioms Wieners: Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. Ob die technische Simulation geglückt ist, zeigt der Turingtest. Beim autonomen Fahren gelingt der Test bereits. Zwei generelle Einwände: ein solches System ist frei von Gefühlen, kann aber Gefühlsverhalten perfekt imitieren; es wird weder zu einer rechtsschöpferischen richterlichen noch zu einer Gewissensentscheidung je fähig sein, da es hierbei nicht um Berechnung, sondern um eine dem Computer immer fremd bleibende menschliche Entscheidungsmöglichkeit geht. Diese setzt die Fähigkeit voraus, erstens eine innere Tatseite zu bilden, zweitens von diesem intrinsischen Akt auch selbst Kenntnis (conscientia) zu nehmen, drittens diesem zustimmend oder ablehnend gegenübertreten zu können und viertens ein an natürliche Sprache und nicht ein allein an Algorithmen gebundenes Urteilsvermögen einsetzen zu können. Vertreter einer schwachen KI teilen unsere Meinung, die der starken KI nicht. Ein Computersystem kann daher auch nicht moralisch handeln, allenfalls moralanalog. Wir können zwar Entscheidungen und auch Handlungen eines Computerprogramms ethischer und auch rechtlicher Prüfung unterziehen; es wird bei regelkonformer Handlungsweise, anders als C. Misselhorn meint, hierdurch aber nicht zu einem „moralischen Akteur“. Wir stehen daher auch dem Projekt „Strafrecht im Zeitalter von Digitalisierung und Datafizierung“ (Kriminalpolitische Zeitschrift 2020), das den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Strafrecht als Entscheidungshelfer - allerdings unter Einschränkungen - grundsätzlich befürwortet, äußerst skeptisch gegenüber. Wegen seiner Panoptizität lehnen wir den Einsatz des KI-Projekts zur Berechnung des Rückfallrisikos, das in den USA heute bereits bedenkenlos Verwendung findet, generell ab. Es besteht hierbei eine derzeit nicht beherrschbare Missbrauchsgefahr ( s. VI.). Hinzu kommt, dass die Entwicklung fairer, d.h. wirklich neutral entscheidender Algorithmen der KI außerordentlich schwierig ist. Letztlich enthalten die Programme immer implizite Wertprämissen, über die gesellschaftlich Streit entbrennen kann. Man darf gespannt sein, wie das Bundesverfassungsgericht hierüber einmal entscheiden wird.
An welchem Platz steht heute „Die Spieltheorie“ von Georg Klaus. Ohne jeden Zweifel ist sie bei den Studien einzuordnen, die unter dem Begriff „Game Theory“ sich einerseits um den Ausbau und die Analyse strategischer Lehren mittels Logik und Mathematik bemühen und uns andrerseits bei deren praktischer Anwendung in Politik, Ökonomie, Project Management, Computer Science, Biologie, aber auch Kriegswissenschaft beratend unterstützen. Ihren zentralen Standort als theoretische und praktische ultimative Machtlehre, den ihr Klaus durch das Projekt der „machine à gouverner“ gegeben hat, behielt sie, wie die Fortsetzung des kybernetischen Projekts in der Form der Künstlichen Intelligenz beweist. Sie überbietet damit die ähnliche Lehre der Gouvernementalität von Michel Foucault. Kennzeichen beider Lehren ist die Forderung, zur Erklärung des Individuums, der Gesellschaft und der Welt den herkömmlichen religiösen, philosophischen und auch rechtliche Diskurs um Tatsachen aus der neuen technik-basierten Welt der Informatik und Kybernetik zu erweitern. Die weitere Forderung, die formale Logik und Mathematik auch in den Geisteswissenschaften anzuwenden, ist schon lange erfüllt. Ganz üblich ist es auch, dass erkenntnistheoretische Untersuchungen nicht nur mittels natürlicher, sondern mittels künstlicher (formaler) Sprachen einer vollständig mathematisierten Logik durchgeführt werden. Es ist auch ganz selbstverständlich, dass Organisationsmittel für das Individuum und die Gesellschaft nicht mehr wie zu Max Webers Zeiten allein arma und leges sondern der logische Kalkül und der Computer sind. Als Basis der Programmierung dient der Kalkül zur Erstellung von Algorithmen, die uns in unserem als strategisches Spiel verstandenen Leben anstelle der Gesetze zum (Gewinn-) Ziel steuern. In der Rolle als Suchende können wir jeder Zeit mittels Tracking und Tracing sowohl in der vom Computer erzeugten virtuellen Welt des Netzes als auch in der realen Welt – dort durch ubiquitäre Verwendung von GPS und RFID (Real-world-tracking) - Ziele (wieder) auffinden und Prozesse vollständig rekonstruieren. Selbstverständlich finden wir uns jedoch genauso oft in der Rolle als Gesuchte; wir können genauso gut gefunden und unser ganzes digitales Tun kann rekonstruiert werden. Durch die künstlichen Sinnesorgane der Telesensorik können wir überall, wo wir wollen, die Welt sinnlich erlebbar machen, durch Teleaktorik mittels Robotern überall, wo wir wollen, ohne dass wir körperlich zugegen sind, auch handeln. Umgekehrt können wir aus der Ferne mit künstlichen Sinnesorganen wahrgenommen und behandelt werden (Telechiurgie). Nicht unerwähnt darf bleiben, dass wir all diese Möglichkeiten auch beim Organisieren einsetzen. Dies hat zu einer Revolution in der Organisationswissenschaft und -technik geführt, aber auch zu einem vollständigen Ende der Privatheit eines wesentlichen Teils des Arbeitslebens (Callcenter, Logistikcenter, Flottenmanagement). Allerdings wollen wir dieses Faktum nicht wahrhaben. Es wird im wabernden Nebel eines versprochenen, letztlich nicht realisierbaren Datenschutzes versteckt. In dem Maße, wie wir unsere Handlungsmöglichkeiten erweitert haben, hat sich aber auch das Missbrauchspotenzial verstärkt. Ob wir alle Gefahren aus den neuen Handlungsmöglichkeiten wirklich erkannt haben und die Abwehr sicher beherrschen, ist ungewiss. Bei der Veranstaltung von digitalen strategischen Spielen ist dies, wie wir gleich zeigen werden, noch nicht der Fall.
VI.
Vom Stand seiner damaligen informationellen und kybernetischen Forschungen ausgehend hat der Marxist Klaus für den Fall eines endgültigen Sieges des Kapitalismus über die Welt in seiner Studie zur Spieltheorie vor dem Entstehen einer „ultradimensionalen universellen Regierungsmaschine“ gewarnt. Diese verglich er - Wiener folgend - mit einem Golem. In der Begrifflichkeit von heute warnte er also bereits damals vor digitalem Totalitarismus. Statt von Golem sprechen wir jetzt treffender vom digitalen Panoptikum. Die Bezeichnung Panoptikum wird gewöhnlich für eine Gefängnisarchitektur verwendet, die sich dadurch auszeichnet, dass ein Überwacher von einem zentralen Punkt aus alle Gefangenen so überwachen kann, dass diese nicht einschätzen können, ob sie beobachtet werden oder nicht. Erfinder dieses Systems war der Jurist und utilitaristische Sozialreformer Jeremy Bentham.
Mit dem oben bereits kurz erklärten Sozialkreditsystem haben wir ein wirksames Instrument zur Selbststeuerung von sozialen Beziehungen vorgestellt. In einer digitalisierten Gesellschaft kann dieses bei Missbrauch zu einem omnipotenten digitalen Panoptikum ausgebaut werden. Wo sich diese Gefahr in Bälde realisieren könnte, wollen wir an einem Beispiel präzisieren: Im heutigen China könnte ein solches Panoptikum auf Basis des dort voll digitalisierten gesellschaftlichen Lebens noch Ende 2020 seine Arbeit aufnehmen (vgl. Wikipedia sesame credit; St. Mau 2018). Durch automatische Belohnung „ehrlichen Verhaltens“ mit Bonuspunkten und automatischer Bestrafung „unehrlichen Verhaltens“ mit Maluspunkten beabsichtigt die chinesische Führung, in der chinesischen Gesellschaft eine „ Kultur der Aufrichtigkeit“ herzustellen. Sie arbeitet derzeit an der Errichtung eines solchen staatlichen, alle Bürger zwangsweise erfassenden digitalen Sozialkreditsystems. In diversen chinesischen Städten läuft derzeit der Probebetrieb. Dieser soll sehr erfolgreich sein.
Dieses System dürfte die universelle Regierungsmaschine von Klaus in ihrer Flexibilität und Feinmaschigkeit bei weitem übertreffen. Auf den ersten Blick fasziniert dieses System. Es scheint im Gewand der iustitia distributiva Gerechtigkeit zu verwirklichen. So führt das automatisierte Punktesystem bei „Wohlverhalten“ zu einem allmählich privilegierenden „Upstat“, bei einem „Fehlverhalten“ zu einem sukzessiv entrechtenden „Downstat“. Die technokratische Bezeichnungsweise Hubbards haben wir mit Bedacht gewählt. Denn die beschriebene Bewertungsmaschinerie hat bei genauerer Betrachtung mit Rechtsfindung zur Verwirklichung der iustitia distributiva rein gar nichts zu tun. Denn Verhalten, Tun oder Unterlassen werden hierbei nicht rechtlich beurteilt, sondern mittels Test gemessen. Belohnung und Bestrafung hängen an diesem Testergebnis. Die zum Einsatz kommende vollautomatische Testmaschinerie dient also sozialdiagnostischen Zwecken. Ziel hierbei ist nicht die Fällung eines rechtlichen Urteils, sondern die Ermittlung eines Score-Werts. Die darauf folgenden belohnenden und bestrafenden Maßnahmen werden mit dem Ziel einer Verhaltensänderung, in der Sprache der Lernforschung: Verhaltensmodifikation verhängt. Es handelt sich hierbei um eine Erziehungsmethode, die der Behaviorismus entwickelt und zur Steuerung des Sozialen empfohlen hat (B. F. Skinner).
Für einen Betroffenen ist die Funktionsweise dieses Systems eine Black Box. Um die Entscheidung dieser Maschine entschlüsseln zu können, bedarf es nicht nur solider Kenntnisse in Statistik, sondern auch die Kenntnis des verwendeten Algorithmus. Dramatisch wird es für einen Betroffenen aber dann, wenn aus den Daten nicht nur ein auf das Verhalten unmittelbar einwirkender Punktewert, sondern mittels KI auch ein Risikoprofil für zukünftiges Verhalten (störend/nicht störend) errechnet wird (personalisierter Risk Score, personalisiertes Predictive Policing). Einer bleibenden stigmatisierenden Diskriminierung wäre dann Tür und Tor geöffnet. Erst mit einem Zugriff auf seine Gesamtdaten könnte ein Betroffener sich unter Verwendung eines Statistikprogramms in der Art von Google Analytics ein ungeschminktes Bild vom Warum seines Status, d.h. seiner Entrechtung und damit seines weiteren sozialen Schicksals machen. Wie aber soll ein Bürger in einer Diktatur ohne Datenschutz eine solche Analyse je durchführen und am eingesetzten Algorithmus wirksam Kritik üben und schließlich gegen seine Entrechtung klagen können? Es besteht daher die ernste Gefahr, für immer auf einer schwarzen Liste registriert zu werden und auch dort zu bleiben. Es sei denn der chinesische Staat greift zu den aus Xinjiang bekannt gewordenen Verfahren der „Rehabilitierung“. Die andere Möglichkeit, die Erzeugung eines absoluten, nicht mehr revidierbaren Diskriminierungsindexes, wäre jedenfalls ein soziales Novum. Nebenbei bemerkt: Den chinesischen Maßnahmen einer kollektiven Zwangserziehung zur Rehabilitierung liegt genau dieselbe erzieherische Logik und dasselbe freiheitsfeindliche Menschenbild zugrunde, wie wir dies bei Scientology kennengelernt haben. Dass ein soziales Medium zu Spionagezwecken missbraucht werden kann, ist wohlbekannt, dass es aber auch zu einer Zwangserziehung eines ganzen Staatsbevölkerung in Zukunft genutzt werden könnte, ist neu.
Ganz unglaublich ist aber, dass in der chinesischen Gesellschaft wegen des Entstehens dieses Systems weder ein Aufschrei erfolgt noch eine steigende Welle der Entrüstung wahrzunehmen ist. Einer Studie der Freien Universität Berlin von 2018 zufolge begrüßen sogar zwei Drittel der Bevölkerung die Einführung dieses Systems. Ein Großteil der Befragten nimmt bereits auf freiwilliger Basis an solchen von chinesischen Internetkonzernen veranstalteten der Selbstoptimierung dienenden „Gewinnspielsystemen“ teil. Offenbar greift hier die Verführungskraft, an Gewinnspielen teilzunehmen, wie wir dies bei den Münzökonomiespielen bereits dargestellt haben.
Einer durchaus verwandten, höchst merkwürdigen Erscheinung, die das Interesse der Psychologen und Soziologen, aber noch nicht das von uns Juristen geweckt hat, begegnen wir aber auch bei uns: Es handelt sich um die rasch wachsende Bewegung der Selbstoptimierer. Diese wollen wir vorstellen. Wir stehen hier vor ungelösten ethischen und rechtlichen Problemen, aber auch Risiken für unsere Demokratie, die wir durch eine Weiterentwicklung des Datenschutzes allein nicht werden lösen können.
VII.
Selbstoptimierer zeichnen - heute noch auf freiwilliger Basis - zum Zwecke der Optimierung ihres Selbst fortlaufend multisensorisch alle Verhaltens- und Vitaldaten, die sie über Apps, Lifetracker, Fitnessarmbänder usw. erhalten, auf, treten mit sich selbst, aber auch mit anderen, um ihre Leistungsfähigkeit zu testen und weiter zu optimieren permanent in Wettbewerb. Für viele ist die eigene - auf dem Display ihres Smartphones jeder Zeit visualisierbare - Erfolgsstatistik inzwischen zum Allerheiligsten ihrer Lebensführung geworden, die sie kultartig verehren. Diese Selbstoptimierungsmethode ist beim Leistungssport integraler Bestandteil des Trainings. Wo Licht ist, ist aber auch Schatten. Der durch die Selbstoptimierung in aller Regel auftretende More and more-Effekt kann sich auch zur Sucht entwickeln. Dass in den meisten Fällen auch die Internetkonzerne, die diese Daten speichern, auf sie Zugriff haben und sie nicht selten für sich auswerten, indem sie dem Selbstoptimierer angeblich nützliche Waren und Dienstleistungen zur Steigerung ihrer weiteren Optimierung aufzuschwätzen versuchen, ist den Selbstvermessern meist gleichgültig. Man nennt diese Bewegung der Selbstoptimierer auch „Life-tracker“, „Life-Logger“, „Quantified Self“ oder „Quantified Life“. Wir ziehen die Bezeichnung „Gamified Life“ vor. Denn als „Siegespreis“ für ihre körperliche Anstrengung steht die verbesserte Gesundheit, ein Aufstieg in der sportlichen Karriere, ein schönerer, die Freunde beeindruckender Körper, kurz mehr Attraktivität und Sexiness. Mit der von „Game“ abgeleiteten Bezeichnung wird der Charakter des Wettbewerbs, das Spiel mit sich oder aber auch das Spiel mit anderen in Erinnerung gerufen. Letztlich geht es immer um einen aufgrund einer Vergleichsmessung errechneten besseren Platz im Lebensranking. Dasselbe Prinzip kann aber auch für die Karriereplanung und -gestaltung eingesetzt werden. Hierbei wird die Strategische Netzwerkanalyse, ein aus der Soziometrie entlehntes Verfahren, als Messinstrument erfolgreich benutzt.
Mit der Feststellung der „Tone Scala Position“ (= Messung der Körpervitalität) gehört übrigens Scientology auch insoweit in den Kreis der Selbstvermesser. Dieses Faktum ist ein weiteres Indiz, dass es sich bei Scientology nicht um eine Religion handelt.
Gamified Life ist aber auch ein System, mit dem zwei Partner auf freiwilliger geschäftlicher Basis im Gesundheitswesen ein Gamified Life-Spiel veranstalten können. Es gehört in die Klasse der digitalen Sozialkredit-Systeme. So versprechen Versicherungen in den USA, aber auch eine solche in Deutschland unter dem Motto „Pay as you live“ unter Anknüpfung an die Gesundheit ihrer Versicherten einen Bonus, nämlich Prämienreduzierung, wenn sie nachweislich etwas für ihre Fitness tun. Bedingung hierfür ist, dass die Versicherten ihre Versicherungen durch Übermittlung der Daten ihrer Vitalparameter und ihres Trainings, also essenzieller Lebensfunktionen, über das Internet teilhaben lassen. Sie werden hinsichtlich dieses Lebensaspekts der Versicherung gegenüber gläsern. Aus einer solchen Beziehung kann sich eine Binde-Tendenz bis hin zum -zwang ergeben, außerdem wird wie bei der paternalistischen Nudge-Erziehung unmerklich pädagogischer Druck auf den Kunden ausgeübt. Ob dieser generell heilsam ist, sei dahingestellt. Für die Kunden entsteht eine zusätzliche Gefahr, wenn das Risiko einer Erkrankung aus den übermittelten Daten errechnet und am Ende die Tarife an diese angepasst werden sollten. Schließlich kann auf die Dauer auch das Solidarsystem der Versicherungswirtschaft damit in Frage gestellt werden. Wenn der Versicherungsmarkt sich im Gesundheitsbereich in ein Monopol oder Oligopol verwandeln sollte, könnte sich ein solches System auch zu einer Gesundheitsdiktatur entwickeln.
Für die Kraftfahrtversicherung wird unter den Slogans „Smart-Insurance- Offensive“, „Pay as you drive“ oder „Telematik-Tarif“ ein analoges digitales Gamified Life-Spiel von den Versicherungsunternehmen weltweit angeboten. Es erfreut sich nicht nur in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Es ist hinsichtlich seiner Nebenwirkungen wesentlich weniger riskant als das Gesundheitsspiel. Zudem fördert dieses in der Lebensrealität veranstaltete Good-Drive-Spiel gleichzeitig die allgemeine Verkehrssicherheit. Der Versicherungsnehmer spart bei Wohlverhalten hierbei nicht nur bei der Prämienzahlung, sondern erzieht sich gleichzeitig selbst zu einer disziplinierten Fahrweise.
Als Jurist ohne Basiskenntnisse über Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematische Statistik (Stochastik) tut man sich schwer die neue Bewegung der digitalen Selbst- und Fremdvermesser, die ihre Wurzel in der Mess- und Steuerungspraxis der Kybernetik hat, zu begreifen. Hinzu kommt, dass man auch solides Wissen über Lerntechnologien aus der Verhaltensforschung haben sollte. Zu einem Herumraten wird es, wenn man bei einer Beratung Risiken, die aus dem neuen Tun entstehen können, abschätzen soll und wenn man von der Politik gefragt wird, ob hier ein Verbraucherschutz erforderlich sei und wie man diesen auszugestalten habe und wer etwa in Zukunft als Verbraucherschützer fungieren solle. Dass dies von Datenschützern mit ihrer ganz anderen Blickrichtung und anderen Schutzaufgabe nebenbei nicht geleistet werden kann, steht außer Frage. Wie sollen diese auch helfen, wenn digitale Selbstoptimierer mit der Methodik der strategischen Netzwerkanalyse unter Verzicht auf jeglichen Datenschutz sich begeistert in die Selbstoptimierung stürzen? Sollte es bei der körperlichen Ertüchtigung psycho-physische Probleme geben, liegt es nach unseren bisherigen Ausführungen nahe, dass man sich, an anerkannte Trainer und Coaches wendet. Wer aber berät, wenn bei der Selbstoptimierung in anderen Lebensbereichen Krisen (z.B. Burnout) auftreten sollten? Nur der Verbraucherschutz leistet derzeit von Fall zu Fall, wenn man zufällig auf einen Missbrauch stößt, Hilfe, allerdings nicht systematisch.
VIII.
Zuverlässige Hilfe kommt für den Juristen von einer ganz anderer Seite, dem neu entstandenen soziologischen Forschungszweig der Selbst- und Fremdvermessung. Die Soziologen, die sich diesem Thema insbesondere mit Hilfe der (digitalen) Netzwerkanalyse widmen, zeigen, dass weltweit ein ganz neuer sozialer Kontinent entstanden ist, den sie in seiner Wirkungsweise minutiös zu durchdringen und darzustellen vermögen. Die digitalen Vermesser sind hierbei absolut auf dem Vormarsch.
Dieser Kontinent harrt seiner ethischen und rechtlichen Durchdringung. Hierzu waren die Soziologen bisher nur ansatzweise in der Lage. Mit Ausnahme der Sicherheitsexperten, die sich im Polizei- und Strafrecht mit der Nutzbarmachung der Künstlichen Intelligenz als Prognosetool für die Verbrechensbekämpfung (predictive Policing) und die Bestimmung des Rückfallrisikos mittels KI beschäftigen sowie Experten der Human-Computer-Interaktion (Data-Scientists), sind sich der Existenz eines solchen Kontinents derzeit überhaupt bewusst, die übrigen Juristen wohl nicht.
Der neue Kontinent ist dadurch gekennzeichnet, dass man dort zum Zwecke der Optimierung von sozialen Prozessen jeglicher Art händische oder digitale biometrische und/oder Verhaltensmessungen durchführt und die hierbei gewonnen Daten durch Statistikprogramme anschließend auswertet. Das Projekt fasziniert, bereitet aber gleichzeitig erhebliches Unbehagen: Liefern wir uns mit unseren Vermessungen am Ende nicht einem digitalen Szientismus aus, einem Algorithmenkult, der wie der Maschinenkult der Kybernetik das Menschsein auf Logistik und nützliches Funktionieren verkürzt? Können wir es zuverlässig verhindern, dass sich nicht aus der Selbstvermessungsbewegung durch die Hintertür bei uns nach und nach ein auf faktischer Basis funktionierendes, dem chinesischen ähnliches Erziehungssystem etabliert? Können wir es sicher ausschließen, dass der Staat, unterstützt von Nudging- und Selbstvermessungsexperten, nicht nach und nach in die Rolle eines verhaltensökonomisch agierenden Volkserziehers schlüpft und beginnt, die Daten aus der Selbstvermessung zur Optimierung des ganzen Volkes einzusetzen. Über Gutachten könnte er sich zudem mittelbaren Zugriff auf weitere erforderliche Daten verschaffen. Unter sehr kritischer Beobachtung steht auch die globale Finanzindustrie. Es wird befürchtet, dass sie mit ihren immer raffinierter werdenden Gewinnspielen die Gemeinwohlschranken der Demokratie aushöhlen und sie damit ihrer Schutzfunktion gänzlich berauben könnte (C. Crouch).
Eine Darstellung all dieser die Vermessung in den Blick nehmenden soziologischen Untersuchungen ist im Rahmen unserer Studie nicht möglich. Es kann hier nur auf wichtige Autoren und deren Analysen im Schrifttumsverzeichnis verwiesen werden: Byung-Chul Han, Stefan Selke, Gunter Dueck, Steffen Mau, Michael Hagner/Erich Hörl, Christian Stegbauer/Roger Häußling, Mary Aiken, Katharina Zweig, Colin Crouch.
Wir sind am Ende unserer Untersuchung angelangt. Ziel dieser war es, zu zeigen, dass die Theorie und Praxis der Lehre von Hubbard zu dem neuen Kontinent gehört, auf dem der Mensch und sein Verhalten allein durch statistische Messung definiert wird. Dass Hubbard und seine Nachfolger es bis heute verstanden haben, über ihr strategisches Spiel, das sich die Statistik in sittenwidrige Weise zur Unterwerfung des Menschen zunutze macht, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, erstaunt nicht. Denn man hat weder in den Kultur- noch in den Humanwissenschaften (Kriminologie) bis jetzt den mit Quantified-Self Methoden auf Machtsteigerung gerichteten Angelpunkt von Hubbards Organisations- und Managementmodell verstanden. Diesem Defizit haben wir durch unsere Analysen abzuhelfen versucht. Ein Paradigmenwechsel ist aber erst dann möglich, wenn man entschlossen den religiösen rsp. idealistischen Schleier, in den Hubbard sein System zur Tarnung gehüllt hat, zerreißt.
Zur Frage der Tarnung noch eine sprachwissenschaftliche Anmerkung: Die Texte Hubbards haben zur Täuschung der Öffentlichkeit die Gestalt eines echten Vexierbildes. Folgt man Hubbard darin, sein System sei eine Religion, führt dies geradezu automatisch zu einer sog. hermeneutischen Interpretation seiner Schriften, die allein deren symbolischen Gehalt zu erfassen versucht. Die Management-, die Statistik- und die Betriebswissenschaftslehre Hubbards werden bei dieser Auslegungsmethode völlig ausgeblendet. Sie geraten ganz aus dem Blick und werden deshalb von den Kulturwissenschaften überhaupt nicht rezipiert, schlicht negiert. Hält man dagegen, wie wir es tun, Hubbards System für ein strategisches Projekt der Kybernetik und der Spieltheorie, kommt der zweite Bildsinn schlagartig und ganz klar zum Vorschein. Der Lackmustest für das Verständnis von Scientology, mit dem man das Vexierbild zur Drehung bringen kann, ist die Statistik. Wer diese nicht verstanden hat, sollte sich nicht Scientology-Experte nennen.
Der Operierende Thetan in der Managementlehre Hubbards ist deshalb keine religiöse, philosophische oder das Gute suchende Seele, sondern ein mit Scoring-Intelligenz im Diesseits agierender amoralischer Machtmensch, der mit dem Cybergame Scientology seine Mitmenschen und die Gesellschaft ausbeutet und zu versklaven versucht. Dass sich im chinesischen System der Zwangserziehung der privilegierende Upstat- und entrechtende Downstat-Mechanismus Hubbards bei der Vermessung der Bevölkerung eins zu eins wiederfindet, sollte zu denken geben. Unsere Thesen immer noch anzweifelnden Skeptikern unter unseren Lesern, die weiterhin bei Scientology von einer Neureligion fabulieren, empfehlen wir zu guter Letzt die Lektüre von Scientology R2-45 in Wikipedia. Gleichzeitig raten wir Ihnen allen, sich selbst eine Weile einer Quantifizierung rsp. Gamifizierung ihres eigenen Lebens testweise zu unterziehen, um die treibende Kraft zu erleben, die einer Gamifizierung innewohnt.
Schrifttumsverzeichnis
Aiken, Mary (2018): Der Cyber Effekt. Wie das Internet unser Denken, Fühlen und Handeln verändert, Frankfurt a.M., Fischer
Basieux Pierre (2008), Die Welt als Spiel. Spieltheorie in Gesellschaft, Wirtschaft und Natur, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt
Byung-Chul Han (2014): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a.M., Fischer
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt a.M., Suhrkamp
Deutsch, Karl W. (1970): Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg im Breisgau, Rombach
Dubarle, Dominique (1948): Vers la machine à gouverner, Le Monde 28.12.1948, Paris, http://www.nanomonde.org/IMG/pdf/Dubarle_1948.pdf
Dueck, Gunter (2004): Supramanie. Vom Pflichtmenschen zum Score-Man, Berlin, Heidelberg, Springer
Feige Christian (2006), Die Spieltheorie als Hilfswissenschaft einer modernen Ethik,
https://micro.econ.kit.edu/downloads/CF_Magisterarbeit.pdf
Hagner Michael / Hörl Erich, Hg.(2008): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M., Suhrkamp
Klaus, Georg (1968): Spieltheorie in philosophischer Sicht, Berlin, VEB Deutscher Verlag der Wissensschaften
Klaus, Georg / Liebscher Heinz, Hg.(1979): Wörterbuch der Kybernetik, Frankfurt a.M., Fischer
L. Ron Hubbard, (1999): Der Organisationsführungskurs. Grundlegender Mitarbeiter-Hut Band 0, Kopenhagen, New Era Publications International ApS
Mau, Steffen (2018): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin, Suhrkamp
Misselhorn Catrin (2018), Grundfragen der Maschinenethik, Ditzingen, Reclam
v. Neumann, John / Morgenstern, Oskar (1961): Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Würzburg, Physika Verlag
Seibel Benjamin (2012), Berechnendes Regieren. Karl.W.Deutschs Entwurf einer politischen Kybernetik, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2012/4706
Selke Stefan (2014), Die Entscheidungsmaschinen kommen. Von der Selbstvermessung und der Kybernetik einer perfekten Welt, https://www.heise.de/tp/features/Die-Entscheidungsmaschinen-kommen-3368696.html
Selke, Stefan (2014): Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert, Berlin, Econ
Stampfl Nora S. (2012), Die verspielte Gesellschaft. Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels, Hannover, Heise
Stegbauer Christian / Häußling Roger, Hg. (2010): Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden, Springer
Wiener, Norbert (1963): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und der Maschine, Düsseldorf Wien, Econ
Wiener, Norbert (1952): Mensch und Menschmaschine, Frankfurt a.M. Berlin, Metzner
Zweig, Katharina (2019): Ein Algorhithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können, München, Heyne