https://sites.google.com/site/juergenkeltsch/der-neue-politische-extremismus-mit-therapeutischem-ligitimationsanspruch
Jürgen Keltsch
Erstveröffentlichung in "Politische Studien" der Hanns Seidel Stiftung e.V., Heft 346, März/April 1996
Als ich vor sieben Jahren von der Hanns-Seidel-Stiftung gebeten wurde, in Kloster Banz auf einer Sektentagung von meinen staatsanwaltschaftlichen Erfahrungen mit den sogenannten Jugendsekten zu referieren, ahnte ich nicht, dass dieses Thema mich bis heute beschäftigen würde. Die damalige Einladung war der Auftakt zu weiteren Einladungen anderer privater und öffentlicher Institutionen. Ich war über dieses Interesse verwundert, da ich in die Diskussion zu diesem neuen gesellschaftlichen Problem, das bis heute im Rahmen einer religionswissenschaftlichen Theorie unter dem Etikett Neureligiöse Bewegungen abgehandelt zu werden pflegt, nur mein juristisches Fachwissen einbringen konnte. Der damals begonnene Dialog mit Theologen und Humanwissenschaftlern, aber auch mit sogenannten Sektenanhängern und Aussteigern lieferte mir immer mehr Puzzlesteine, aus denen ich mir ein Sektenbild zusammenzusetzen versuchte. Dies wollte allerdings nicht so recht gelingen. Denn aus den so gewonnenen Daten ließ sich wider Erwarten kein einheitliches Sektenbild formen. Die These, dass es sich hierum ein religiöses Phänomen handele, konnte mich bald nicht mehr überzeugen.
Auch die weitere These von der allgemein krankmachenden Wirkung der sogenannten Sekten, die ich von Experten zunächst ungeprüft übernommen hatte, hielt den Fakten nicht stand und musste relativiert werden. Denn nicht jeder, der sich einem der sogenannten destruktiven Kulte angeschlossen hat, scheint in gleicher Weise gefährdet zu sein. Es hängt offenbar von der persönlichen Konstitution, insbesondere von der individuell verschiedenen Widerstandskraft ab, ob jemand zum ausgebeuteten Sektenopfer wird und ob man infolge exzessiven Bewusstseinstrainings psychisch erkrankt. Auffallend war und ist vor allem die unterschiedliche Bewertung derselben Trainingsroutine durch die Trainierten. Was dem einen zu nützen scheint, kann den anderen in die Psychose und Depression bis hin zur Selbsttötung treiben. Wir stehen hier wohl vor einem ähnlichen Phänomen wie bei den Arzneimitteln, die auch nicht von allen gleich gut vertragen werden.
Bei der ersten beruflichen Begegnung mit den sogenannten Sekten 1980 war die Sektentheorie, mit der das neue Konfliktpotential in der Gesellschaft erklärt und beschrieben wurde, bereits fest etabliert. Die steigende Zahl der bei der Staatsanwaltschaft München I eingehenden Anzeigen von sich durch sogenannte Sekten geschädigt fühlenden Bürgern spiegelte den neuen sozialen Konflikt wider.
Bereits damals hat sich abgezeichnet, dass das gesellschaftliche Konfliktpotential, das von den sogenannten Sekten ausgeht, mit den Mitteln des Strafrechts nicht zu beherrschen sein würde. Dies hat sich bewahrheitet. Damals war auch bereits erkennbar, dass die soziologische Einordnung dieser Gruppen als „Jugendreligionen" bzw. „Jugendsekten" unzutreffend ist. Dies zeigte eine Erhebung, die Engstfeld im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung 1979 über die sogenannten Neuen Jugendreligionen bei Staatsanwaltschaften, Gerichten, Ordnungsbehörden, Jugendämtern und Sozialämtern bundesweit durchgeführt hat.1 Nach dieser Erhebung waren überwiegend junge Erwachsene und nicht Minderjährige Opfer der neuen Kultgruppen. Die irreführende Bezeichnung Jugendreligionen hatte sich jedoch als Kennzeichen für die neuen Kulte bereits im öffentlichen Bewusstsein, insbesondere auch in der Amts- und Rechtssprache so festgesetzt, dass ein Bezeichnungswechsel nicht mehr möglich gewesen ist.
Mit dieser Bezeichnung wurden allerdings auch der Begriff und die diesem Begriff zugrundeliegende Theorie von Staat und Gesellschaft übernommen. Diese heute noch herrschende Theorie behauptet aber, dass in den westlichen Industrienationen das durch die Säkularisation verdrängte Religiöse sich wieder Bahn breche, es handle sich bei der neuen sozialen Erscheinung um Neureligiöse Bewegungen. Über dieses Erklärungsmodell bestand zwischen Theologen und Sozialwissenschaftlern Einigkeit. Es wurde deshalb auch von der Staatsrechtslehre und vom Staat übernommen.2
Der neue Begriff Jugendsekte war aber nicht nur ein Mittel der Beschreibung; er wurde sofort zum politischen Kampfbegriff der Antikultbewegung, mit dem man die sogenannten Sekten in das gesellschaftliche Abseits zu drängen versuchte. An dem Gebrauch dieses Begriffs als Waffe in einem oft intolerant geführten Kulturkampf gegen die sogenannten Sekten scheiden sich bis heute die Geister.3
Für die Einordnung einer Gruppe als (Jugend-)Sekte soll ihre totalitäre, d.h. antidemokratische Ideologie und Lebensform maßgeblich sein. Da in einer pluralen Gesellschaft wie der unseren kein Konsens darüber zu erzielen ist, ab welchem Grad eine reglementierende Lebenspraxis als totalitär einzustufen ist, muss die Extension des Begriffs Sekte allein deshalb bereits unscharf bleiben. Das neue soziale Phänomen der sogenannten (Jugend-)Sekten ist daher in seinem Gefährdungspotential sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht recht greifbar.4
Hinzu kommt, dass der verfassungsrechtliche Gefährdungsmaßstab, an dem der Staat ein Einschreiten in der Form von Warnungen und etwaigen Verboten auszurichten hat, ein anderer ist, als der unserem kulturellen Mainstream entsprechende psychohygienische, den Psychologen und Pädagogen aufgestellt haben. Denn nicht alles, was gesundheitlich nicht empfehlenswert ist, kann im demokratischen Rechtsstaat verboten werden. Entscheidet sich ein volljähriger Bürger für eine nach psychohygienischen Grundsätzen ungesunde Lebensform, in der er einer autoritären Führung und Fremdkontrolle unterliegt, darf der Staat dagegen erst einschreiten, wenn hierdurch Grundwerte von Verfassungsrang verletzt werden oder deren Verletzung droht.5
Religiöse und therapeutisch ausgerichtete Sondergruppen, die eine stark reglementierende Lebensform bevorzugen, fühlen sich deshalb gebrandmarkt, wenn die Antikultbewegung sie im Rundumschlag der totalitären (Jugend-)Sektenbewegung zuordnet und die Gesellschaft vor deren angeblicher Gefährlichkeit warnt. Als Reaktion hierauf ist es zwischen den so angegriffenen Gruppen trotz unterschiedlichster Lebensformen und Ideologien bekanntlich bereits zu Verteidigungsbündnissen gekommen. Der Kulturkampf zwischen der Antikultbewegung und der Kultbewegung hat sich in der Zwischenzeit soweit zugespitzt, dass es für einen Juristen, der weder Anhänger noch Sympathisant einer der sogenannten Sekten und Kulte ist, erheblicher Zivilcourage bedarf, eine dieser Gruppen vor Gericht zu vertreten oder vor Überreaktionen gegen diese Gruppen zu warnen. Er muss befürchten, von der Antikultbewegung als blauäugig naiv oder selbst als Sektierer abgestempelt zu werden.
Selbst wenn der so kritisierte Jurist sich damit verteidigen sollte, dass die Auslieferung der neuen Antisektenbroschüre der Bundesregierung aufgrund der erfolgreichen Intervention einiger der in dieser Broschüre aufgeführten sogenannten Sekten vorerst durch das Verwaltungsgericht gestoppt worden ist, wird dies einen Anhänger der Antikultbewegung nicht überzeugen können. Er wird auf eine ständig wachsende Zahl von gesundheitlich geschädigten und betrogenen Bürgern verweisen. Die Antikultbewegung fordert deshalb seit Jahren vom Staat nicht nur Warnungen, sondern auch gesetzliche Regelungen, um mit deren Hilfe die Sektenaktivitäten einschränken zu können.
Dies ist der Stand der Sektendiskussion, in der seit Jahren zwischen Sektenbekämpfern und Sektenverteidigern, die mehr religiöse Toleranz fordern und hierbei auf Art.4 GG verweisen, die gleichen Argumente ausgetauscht werden, ohne dass bisher ein Ausweg aus der Sackgasse gefunden werden konnte. Ziel des Aufsatzes ist es, einen Lösungsvorschlag zu erarbeiten. Dazu ist allerdings ein Theoriewechsel erforderlich.
Wir definieren die neue soziale Erscheinung nicht phänomenologisch und untersuchen deshalb nicht Ideologie und Glauben in den sogenannten Sekten, sondern wir wenden uns dem Prozess und den Methoden zu, durch die Glaubens- und Weltanschauungswechsel sowie Persönlichkeitsumstrukturierung erzeugt und erhalten werden. Das hier vorgeschlagene Erklärungskonzept knüpft daher nicht mehr an den Sektenbegriff als solchen an, sondern geht von der auf Persönlichkeitsveränderung ausgerichteten Interaktion und Selbstaktivität aus, wie wir sie von psychotherapeutischen Prozessen her kennen. Der gemeinsame Glaube bzw. die gemeinsame Ideologie wird dabei nicht als das die Gruppenidentität selbst primär konstituierende Merkmal angesehen, sondern die therapeutische Technik, durch die zielgerichtet der „Neue Mensch" geschaffen werden soll.6 Die vom Therapeuten, Guru, Psychagogen etc. angestrebte und bewirkte Persönlichkeitsveränderung am Leitbild Neuer Mensch ist objektivierbar und zeigt sich an der Veränderung des Verhaltens, d.h. in der Lebensform. Der Veränderte hat neue Wertprioritäten, andere Interessen, andere soziale Formen und fällt daher dem „Alten Menschen" als verändert auf. Das Sektenphänomen ist nach dem Paradigma Neuer Mensch in das Problemfeld Multikulturalität einzuordnen. Sekten entstehen hiernach aufgrund von Zuschreibung. Sie werden als Abweichungen vom sogenannten Normalen in der Gesellschaft erlebt.
Wir sind heute in der Lage, den Prozess einer Menschenveränderung, die wir früher als Glaubens- und Ideologiewechsel auf der Grundlage einer bewusstseinsphilosophischen Theorie gedeutet haben, mittels unseres Wissens über kommunikative Abläufe zwischen uns und anderen sowie mit uns selbst besser zu deuten. Wir verändern uns durch Interaktion, d.h. durch kommunikatives Handeln im Alltagsleben, durch spezielle und gezielt eingesetzte Kommunikation in religiösen und therapeutischen Beziehungen. Diese Erkenntnis hat therapeutisches Handeln in den letzten 25 Jahren revolutioniert.7 Dieses neue Wissen wird allerdings auch außerhalb therapeutischer Beziehungen, so z.B. im sogenannten Management heute überall in der Gesellschaft zur Menschenveränderung eingesetzt und ist Mitursache für das Entstehen der sogenannten Sekten.
Auf der Grundlage des Paradigmas der Kommunikation, die an die praktische Interaktion zwischen uns anknüpft, lässt sich ein Prozessmodell definieren, mit dem wir religiöse und psychotherapeutische Hilfe funktional vereinigen können.
Unter dem Aspekt des kommunikativen Handelns wird religiöse, philosophische bzw. psychotherapeutische Interaktion zur Lebenshilfe, wenn sich der eine um den anderen in seelsorgender bzw. seelenheilender Weise kümmert, zur Selbstsorge,8 wenn der einzelne mit sich zur Pflege seines Selbst in Interaktion tritt.
Ist das Ziel dieser Fremd- oder Selbstsorge die Herstellung einer transzendenten bzw. transpersonalen9 Beziehung, befinden wir uns im eigentlich religiösen oder lebensphilosophischen Bereich, der durch die Suche nach Lebenssinn gekennzeichnet wird. Ist das Ziel die Verbesserung unserer sozialen Persönlichkeitsstruktur, unserer Lebenskunst und praktischen Lebensbewältigungstechnik, bewegen wir uns im Bereich der Psychotherapie und Persönlichkeitsentwicklung. Es zeigt sich, dass religiöse, philosophische und psychotherapeutische Lebenshilfe trotz unterschiedlicher Methoden und Zielsetzung unter dem gemeinsamen Aspekt „hilfreicher" und „wohltuender Veränderung" eine funktionale Gemeinsamkeit besitzen. Dies ist auch der Grund dafür, warum sich religiöse und säkulare Lebenshilfe nur schwer voneinander trennen lassen. Bei einigen religiösen und therapeutischen Richtungen ist die Betonung gerade dieses gemeinsamen Aspekts Ziel der Lehre und auch der praktischen Hilfe.10 Intensive, d.h. übende Fremd- und Selbstsorge mit dem Ziel der Veränderung des Lebensgrundprogramms kann und soll hiernach nicht nur zur Änderung religiösen und weltanschaulichen Glaubens, sondern auch zur Persönlichkeitsumgestaltung führen.
Mittels dieser Rahmentheorie für säkulare und religiöse Lebenshilfe lässt sich somit ein formales Prozessmodell entwickeln, mit dem die Veränderungsprozesse durch Fremd- und Selbstsorge beschrieben werden können, ohne dass hierbei Feststellungen getroffen werden, ob die durch Fremd- oder Selbsttraining eintretenden Veränderungen wirklich unserem Wohl als eigenständige und soziale Persönlichkeit dienlich sind.
Der eigentliche weltanschauliche Streit beginnt erst dann, wenn wir versuchen, uns über das richtige Ziel und die richtigen Methoden unserer Lebensgestaltung zu einigen. Die Auseinandersetzung über das, was unserem Wohl dient und was die richtigen Methoden der Lebensgestaltung sind, um den Menschen glücklich zu machen und eine gute Gesellschaftsordnung zu errichten, ist und bleibt für den einzelnen wie die Gesellschaft die zentrale Weltanschauungsfrage, über die wir seit jeher gestritten haben, über die wir in Zukunft weiter streiten werden und in einer Demokratie auch streiten dürfen.
Die Auswahl des Zieles und der Mittel, um das Wohl für sich und die anderen zu erreichen, ist danach immer eine von einer bestimmten Weltanschauung und von einem bestimmten Menschenbild abgeleitete Wertentscheidung, die von einer anderen Weltanschauung aus als unrichtig bekämpft werden kann. Wird die Auswahlentscheidung vom einzelnen für das eigene Leben getroffen, handelt es sich um eine private Handlung. Wird jedoch die Entscheidung für die gesamte Gesellschaft getroffen, handelt es sich um einen politischen Akt.
Wir werden jedoch in Gesellschaftsordnungen hineingeboren, die uns bereits Muster für ein „gutes Leben" vorgeben und die Einhaltung dieser Muster auch überwachen. Je nach Gesellschaftsordnung bleibt ein kleinerer oder größerer Spielraum, in dem wir unser Leben eigenverantwortlich gestalten können. Demokratische Gesellschaftsordnungen geben ihren Bürgern im Rahmen ihrer Rechtsordnung anders als religiöse oder nach einer einzigen Weltanschauung geordnete Gesellschaften relativ große Spielräume, in denen der einzelne sein Leben nach selbst gewählten Lebensmustern selbstverantwortlich bestimmen darf. Die Bürger sind hierbei zur Toleranz verpflichtet und haben die Grundrechte der anderen Bürger, die sich nach anderen Lebensmustern verwirklichen wollen zu respektieren. Es entsteht so die plurale Gesellschaft, wobei die Entfaltung neuer Formen für das „gute Leben", die von der herrschenden sozialen Norm abweichen, trotz Toleranzgebotes erfahrungsgemäß zu Konflikten führt.
Wie soll der demokratisch verfasste Staat dann auf diesen seit ca. 20 Jahren in unserer Gesellschaft schwelenden Konflikt mit den sogenannten Sekten reagieren? Soll er die Auseinandersetzung zwischen der Kult- und der Antikultbewegung dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlassen oder muss er hier für eine Seite Partei ergreifen? Einerseits ist der Staat verpflichtet, religiöse Minderheiten gegen Intoleranz zu schützen, andererseits hat der Staat aber auch die Pflicht, seine Bürger davor zu bewahren, dass sie bei kultischer bzw. therapeutischer Betätigung11 Schaden erleiden. Der Staat hat hier bisher eine schwankende und unentschlossene Haltung gezeigt und die Dinge einfach treiben lassen.
Grund hierfür ist, dass das sogenannte Sektenproblem bisher allein unter dem Aspekt religiösen Glaubens gesehen wurde. Dieser Bereich gehört aber in einer Demokratie traditionell in die staatsfreie private Sphäre, die der Bürger selbstverantwortlich für sich regeln darf. Glaubensfragen betreffen zudem nach abendländischem Religionsverständnis unsere Beziehung zu Gott, also das Transzendente, und nicht die Welt als das Immanente. Seit der Aufklärung, die die (Offenbarungs-) Religion radikal in Frage gestellt hat und dieser nur noch als natürlicher Religion (Deismus) einen Platz einräumen wollte, erwarten wir deshalb auch nicht mehr, dass Religion als gestaltende Kraft in die weltpolitische Arena zurückkehren wird. Wir scheinen uns hier jedoch getäuscht zu haben, wie das Erstarken des islamischen Fundamentalismus zeigt. Aber auch bei uns begnügt sich das Religiös-Therapeutische nicht mehr mit dem ihm im Privatbereich zugewiesenen Platz. Manche der sogenannten Sekten haben ein gesellschaftsveränderndes therapeutisches Programm und wollen an die Macht. Dies klingt überraschend und bedarf des Beweises. Unsere These lautet, dass sich hinter einem Teil der Kultbewegungen ein neuer Typus des politischen Extremismus verbirgt, der sein Programm für die Veränderung des Menschen, die Gesellschaft und den Staat mit angeblich neuem überlegenem Wissen therapeutisch zu legitimieren versucht. Nicht nur der einzelne, sondern unsere gesamte Gesellschaftsordnung ist gefährdet, sollte der Staat seine bisherige bagatellisierende Haltung gegenüber diesen neuen Gesellschaftstherapeuten beibehalten. Denn es geht hier nicht um Glaubensfragen, sondern um den Versuch einer Neuordnung unserer Gesellschaft nach therapeutischen Grundsätzen.
Wir verstehen unter politischem Extremismus mit therapeutischem Legitimationsanspruch (extremistischer Therapeutismus) Ideologien, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit oder eines besonderen alten oder neuen Wissens die Anwendung von Menschenveränderungstechniken propagieren und praktizieren, um über die für realisierbar gehaltene Schaffung des Neuen Menschen eine neue bessere Gesellschaft und Welt zu erreichen. Dabei wird die derzeitige staatliche und gesellschaftliche Werteordnung, soweit sie dem Ziel der Erschaffung des Neuen Menschen mittels Therapie im Wege steht, negiert und beim Versuch der Erschaffung des Neuen Menschen bewusst ignoriert. Konflikte mit der Gesellschaft oder der staatlichen Ordnung werden als notwendiges Übel auf dem Weg zum Neuen Menschen und zur Neuen Gesellschaft einkalkuliert und in der Rolle des verfolgten Märtyrers mit Stolz ertragen.
Suchte der Marxismus eine Veränderung des Menschen durch eine neue Gesellschaftsordnung, sieht der moderne Therapeutismus bei aller Gegensätzlichkeit der Rezepte der einzelnen Richtungen den Ansatzpunkt im Einzelmenschen, der mittels therapeutischer Technik verbessert werden müsse. Aus dem nach dem neuen Therapierezept verbesserten Menschen soll sich zwangsläufig auch die Neue Gesellschaft formen.
Während die herkömmliche Psychotherapie ihre Aufgabe allein darin sieht, dem psychisch kranken Menschen zu helfen, und deshalb den psychisch gesunden Menschen sich selbst überlässt, ist Kennzeichen des Therapeutismus, in jedem Menschen solange einen psychisch Gestörten zu sehen, bis er durch die allein richtige Therapie zum „Entstörten" und damit zum brauchbaren Glied der Neuen Gesellschaft geworden ist.
In seinem 1960 erschienenen Aufsatz „Religionsersatz: Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit" hat der 1985 verstorbene Politikwissenschaftler Eric Voegelin, unter die die Religion ersetzenden menschheitsbeglückenden Bewegungen der Neuzeit den Progressivismus, den Positivismus, Marxismus, Kommunismus, Faschismus und den Nationalsozialismus, aber auch die Psychoanalyse gerechnet, ohne sich mit letzterer allerdings im einzelnen auseinanderzusetzen.12
Der unsere Gesellschaft immer mehr beherrschende Therapeutismus mit seinen vielen in Konkurrenz stehenden Spielarten gehört zu den gnostischen Bewegungen im Sinne Voegelins. In Hunderten von Selbsterfahrungsgruppen religiöser und säkularer Art trainieren sich heute unsere Bürger. In Managementtrainingszentren, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen, in Kursen für mentale Fitneß üben wir mit dem Ziel, leistungsfähiger und kompetenter zu werden, um für den Überlebenskampf in unserer harten Wettbewerbsgesellschaft die erforderliche „Mindpower" zu erlangen.
Der moderne Gnostiker teilt mit seinem Vorläufer in der Antike das Bewusstsein, über ein besonderes Wissen zu verfügen, mit dem sich die Gesellschaft zum Besseren verändern, d.h. heilen lässt (Heilswissen). Die antike Gnosis mit ihrem Anspruch, im Besitz von Heilswissen zu sein, unterscheidet sich nach Voegelin gerade hierdurch von den großen monotheistischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, die in ihrer Hochform lediglich einen Heilsglauben postulieren und nicht von der Erlösbarkeit der Welt und des Menschen durch den Menschen ausgehen.
Wendet man die weiteren sechs Kriterien, die Voegelin als Kennzeichen für eine moderne gnostische Bewegung herausgearbeitet hat, auf den Therapeutismus an, so erkennt man, dass es sich bei ihm um eine Vollform des modernen Gnostizismus handelt. Diese sechs Kennzeichen sind:
Der Gnostiker ist mit seiner Situation zumeist unzufrieden.
Er glaubt, dass die Übelstände der Situation darauf zurückzuführen seien, dass die Welt wesensmäßig schlecht organisiert ist,
dass Erlösung vom Übel der Welt aufgrund seines Patentrezepts möglich ist,
dass die unzulängliche Seinsordnung in einem historischen Prozess geändert werden müsse,
dass eine Änderung der Seinsordnung, die Erlösungscharakter hat, durch eigenes menschliches Handeln möglich ist.
Es ist daher Aufgabe des modernen Gnostikers, das Rezept der Änderung zu erforschen und das gefundene Selbst- und Welterlösungsrezept anzuwenden und zu verbreiten und so die empirisch erfahrbare Welt zu erlösen.
Die gnostischen Bewegungen sind in der Phase der Theorieausbildung zunächst Geistesströmungen. Sie werden zu politischen Bewegungen, wenn sie beginnen, ihr theoretisches Weltveränderungsmodell in die Praxis umzusetzen, um die gesellschaftlichen Lebensformen und staatlichen Institutionen einem Veränderungsprozess im Sinn ihrer Ideologie zu unterziehen.
Nach diesen Kriterien gehören die Formen des Therapeutismus, soweit sie mit gesellschaftsveränderndem Anspruch auftreten und ihren Plan der Gesellschaftsveränderung durch therapeutisches Training zu vollziehen beginnen und sich gesellschaftlichen Einfluss verschaffen, in den Kreis der politischen Bewegungen.
Die Strömungen des Therapeutismus, die bei ihrem Handeln mit unserer Werteordnung, wie sie im Grundgesetz niedergelegt ist, in Konflikt geraten bzw. diese Grundwerteordnung ganz oder teilweise außer Kraft setzen wollen, sind politische extremistische Bewegungen. Idealtypisches Beispiel für diesen politischen extremistischen Therapeutismus ist Scientology. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Land Hamburg die Arbeitsgruppe Scientology bei der für den Staatsschutz zuständigen Innenbehörde angesiedelt hat und dass in Bayern für Scientology seit kurzem das Innenministerium federführend ist.13
Aber auch der Guruismus, soweit er ein historisches, d.h. auf die empirisch-soziale Welt bezogenes Welterlösungsprogramm hat und dieses vollzieht, fällt unter den Begriff des politischen Therapeutismus. Als Beispiel ist hier auf die Mun-Bewegung zu verweisen.14 Mun unterhält bekanntlich enge Kontakte zu Politik und Wirtschaft und hat sich ein Wirtschaftsimperium geschaffen. Diese Einordnung wird bei demjenigen auf Kritik stoßen, der gewöhnt ist, zwischen Psychotherapie und Religion eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. Er wird die Mun-Bewegung eher den sogenannten Neureligionen zuordnen.
Klammert man jedoch den transmundanen bzw. supranaturalen Aspekt bei den Religionen aus und stellt allein auf ihre soziale, d.h. weltliche Erscheinungsform ab, lassen sich auch alte wie neue Religionsgemeinschaften unter den Begriff der politischen Bewegung mit therapeutischem Legitimationsanspruch subsumieren, wenn sie sich zur Veränderung der Gesellschaftsbedingungen gesellschaftspolitisch engagieren. Wir verweisen auf die Theologie der Befreiung. Begeben sich religiöse Gemeinschaften mit einer sozialrevolutionären Zielsetzung in die Politik und beginnen sie eine demokratisch verfasste Gesellschaft mit dem Ziel der religiösen Machtergreifung zu verändern, haben wir auch hier politische extremistische Bewegungen vor uns. Als bekanntestes Beispiel ist hier der kämpferische islamische Fundamentalismus zu nennen, dessen Heils- und Heilungsrezept gegen die „Verderbnis" aus dem Westen die Gebote des Koran und die aus ihm abgeleitete Gundrechtsordnung (Scharia) sind und der seine Ziele auch gewaltsam durchsetzt.
Gottgefälliges Handeln nach der Scharia, der religiösen und säkularen Rechtsordnung des Islam, gerät beim islamischen Fundamentalismus oft in Widerspruch zu demokratischen Grundwerten. Gemessen an den Menschenrechten und einer demokratischen Grundordnung wird der die Gottesordnung herbeibombende islamische Religiöse zum Verfassungsfeind. Zu erinnern ist an den Konflikt in Algerien, der sich nun auch auf Frankreich ausgedehnt hat. Der Grundwertedissens zwischen religiöser und säkularer Ordnung hat sich hier zum mörderischen Kampf geweitet, der kaum noch durch Dialog beeinflusst werden kann. Was hilft hier das Pochen auf die Menschenrechte, wenn der islamische Religiöse die herbeizuführende göttliche Weltordnung gerade durch die Menschenrechte bedroht sieht. Sind diese doch für ihn lediglich eine Erfindung von Ungläubigen.
Ein weiteres Beispiel: Der allgemein als Wahnsinnstat qualifizierte Angriff der Aum-Gemeinschaft auf die japanische Gesellschaft erhält dann Sinn, wenn man auf das von dieser Gemeinschaft verfolgte Heilsziel für die japanische Gesellschaft abstellt, mag dies von uns auch als abstrus oder verrückt angesehen werden. Maßgeblich ist bei dieser Betrachtung nicht unser Standpunkt, sondern das Selbstverständnis der Aum-Gemeinschaft. Diese wollte die Neue japanische Gesellschaft nach dem totalitär-religiösen Konzept ihres Führers Shoko Asahara errichten. Dieser ist übrigens ein Hitlerverehrer. Der nach dem Selbstverständnis der Aum-Gemeinschaft gute Zweck, die Erlösung der japanischen Gesellschaft, heiligte für sie auch den für den Endsieg notwendigen Terrorakt, die Giftgasfreisetzung in der Untergrundbahn Tokios. Trotz des Einsatzes moderner Kampfmittel dürfte die „heilige" Aggressivität der Aum-Anhänger in alter japanischer Kampfideologie wurzeln. Die „heilige" Aggressivität der jungen Kamikaze-Piloten, die sich im Zweiten Weltkrieg als „Götterwind" mit ihrer Bombenlast auf die feindlichen Schiffe für ihr Vaterland in den Tod gestürzt haben und die „heilige" Aggressivität, mit der junge japanische Intellektuelle als Mönche heute in den Giftgaslaboratorien Asaharas für die „Erlösung" Japans gehorsam gearbeitet und das Giftgas schließlich auch freigesetzt haben, dürfte Ausdruck derselben traditionalistischen Ethik sein, die im alten Japan Selbstaufopferung und Gewalt zur Errettung der Gesellschaft heiliggesprochen hat.
Ein letztes Beispiel: Der israelische Ministerpräsident Rabin wurde Opfer eines politischen Extremisten mit religiösem Heilsanspruch. Nach dessen Selbstverständnis war der feige Mordanschlag eine vaterländische Tat. Der Hinweis darauf, dass Jitzchak Rabin ein Friedensstifter gewesen sei, wird im Diskurs mit religiösen israelischen Fanatikern nicht verfangen, da nach ihrer Meinung durch den Friedensschluss mit den palästinensischen Nachbarn die heilige Ordnung verletzt wurde. Denn es wurde damit der Anspruch des jüdischen Gottesvolkes auf sein Land in den biblischen Grenzen negiert.
Das Problem der therapeutischen Macht- und Gewaltanwendung ist heute zum zentralen Thema für Anthropologen, Psychologen, Theologen und Ethiker geworden. Aus rationalhumanistischer Perspektive wird terroristische Gewaltanwendung rechtlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und psychologisch als Ausdruck von „Verrücktheit" pathologisiert. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sowohl bei religiösem als auch bei säkularem Terrorismus der Terrorakt von dem gewalttätigen „Gesellschaftstherapeuten" und seinen Sympathisanten - wie zuvor gezeigt - weder als irrational noch als verbrecherisch empfunden wird. Nach der Weltanschauung des modernen Terroristen ist seine Tat einerseits technisches Mittel zweckrationaler Vernunft auf dem Weg der Erschaffung der Neuen Gesellschaft. Andererseits erlebt er seine Bluttat oder seine Selbstaufopferung archetypisch als (quasi-)sakrales Reinigungsopfer, durch das die „verderbte" Welt errettet wird.
Neueren anthropologischen Forschungen zufolge brechen hier urtümliche Gefühls- und Verhaltensmuster durch eine offenbar sehr dünne humane Kulturschicht. Die Ambivalenz der „schrecklichen Rettungstat" kann offensichtlich nur in der Symbolform des sakralen Opferrituals ertragen werden.
Das rituelle Menschenopfer im Rahmen heiliger Gewaltanwendung diente der Abfuhr aggressiver Triebe und so der Sicherung und Neubegründung des inneren sozialen Friedens einer Gruppe. Ritualisierte Gewaltanwendung scheint einen gemeinschaftserneuernden therapeutischen Effekt besessen zu haben (R. Girard, 1972; W. Burkert, 1982).
Es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich revolutionäre „Gesellschaftstherapeuten" und ihre Sympathisanten heute einer sakralen Heilssymbolik bedienen, nach einer Befreiung von eigener Gläubigkeit und einer Konvertierung zum (Macht-)Politischen im Sinne Carl Schmitts das Heilsparadigma jedoch unter der Maske des Religiösen zur eigenen Machtsteigerung zynisch missbrauchen.
Eine weitere neuartige Form des extremistischen Therapeutismus stellt der biologische Machtkult dar, der als Begleiterscheinung der Technisierung und Biologisierung unserer Gesellschaft das Humanum aufzulösen beginnt. Dieses neue soziale Phänomen war bisher schwer zu fassen und zu beweisen. Es kristallisiert sich jetzt allerdings heraus und wird neuerdings unter dem Begriff Hubbardismus15 festgemacht und beschrieben. Diese auf den Begründer von Scientology zurückgehende Ideologie, die eine politische Bewegung in Gang zu setzen beginnt, hat einen harten Sozialdarwinismus zum Kult erhoben und trainiert seine Anhänger mit verhaltenspsychologischen Methoden zu rücksichtslosen Ellbogenmenschen, für die der Zweck das Mittel heiligt.16 Die Durchsetzungsfähigkeit auf Kosten des Mitmenschen dient als Beweis für die Richtigkeit dieses faschistoiden therapeutischen Rezepts. Dessen Ursprünge liegen bei Nietzsche17 und beim rationalistischen Satanismus.18 Ziel dieser biologistischen Ideologie ist die Befreiung von der jüdisch-christlichen Moral und die Erzeugung des Übermenschen auf hedonistisch-biologischer Grundlage durch therapeutische Technik, entweder mittels Psychodrama, durch das kosmische Kräfte freigesetzt werden sollen (Crowley, LaVey),19 oder mittels das Mitgefühl zerstörender systemisch-biologischer Konditionierungstechnik, mit der man auch in die Welt des Paranormalen vorzudringen hofft (Hubbard).
Die bisherige Kritik am Hubbardismus hat sich hauptsächlich mit der magischen Ideologie auseinandergesetzt und hierbei den Witz des Systems, das in Training und Schulung liegt, gänzlich übersehen.20 Die Gefährlichkeit des Hubbardismus liegt weniger in der Ideologie, als in der antihumanen Umerziehungspraxis, die sich effizienter, modernster Konditionierungstechniken (programmiertes Lernen) und rigider Leistungskontrolle mittels Statistik (Upstat, Downstat) bedient.
Wir haben gesehen, dass bei soziologischer Betrachtungsweise das gemeinsame funktionale Merkmal zwischen Religion und säkularem Religionsersatz im Sinne Voegelins das Heilskonzept ist. Die gemeinsame Idee ist die Veränderung des Menschen und der Gesellschaft mit dem visionären Ziel, einen jetzt bestehenden schlechteren Zustand in einen idealen zu verwandeln. Das die Religion und den Religionsersatz unterscheidende Merkmal ist die Motivation für das Veränderungsprogramm und dessen Reichweite. Bei den Religionsanhängern soll sich der Mensch vom homo vetus zum homo novus umbilden, um Gott zu gefallen oder das kosmische Gesetz zu erfüllen. Ihnen ist hierfür Belohnung oder Bestrafung im Jenseits in Aussicht gestellt; beim Hinduismus besteht die Belohnung in einer angenehmeren oder unangenehmeren Form der Wiedergeburt. Bei den Anhängern säkularen Religionsersatzes sollen sich dagegen der Mensch und die Gesellschaft deshalb umbilden, um das irdische Glück zu erreichen. Aussagen über ein Jenseits werden nicht gemacht. Das Jenseits dient hier nicht als Rechtfertigungsinstanz für ein bestimmtes irdisches Verhalten.
Beim Diskurs über die richtige Gesellschaftsordnung und die Auswahl der richtigen Mittel für die gute Zurichtung des Menschen als brauchbares Glied der Gesellschaft scheint es demnach zwei ganz unterschiedliche Standpunkte für die Letztbegründung zu geben. So kann man sich entweder auf eine offenbarte göttliche Wahrheit oder eine menschliche Wahrheit stützen.
Ist die Basis für politisches Handeln eine Offenbarungsreligion, spricht man im Anschluss an Carl Schmitt von politischer Theologie, ist Ausgangspunkt für politisches Handeln dagegen Erfahrung, Berechnung und menschliche Weisheit, bezeichnet man dies als politische Philosophie.21
Seit der Aufklärung hat sich im Westen im Zuge fortschreitender Säkularisierung die Waagschale immer mehr zugunsten des Standpunktes der politischen Philosophie gesenkt. Religion dient in den Verfassungen der modernen säkularen Demokratien meist nicht als Letztbegründungsinstanz, Religion ist dort nur ein Rechtsgut, das geschützt wird, ist aber selbst nicht mehr unmittelbare Rechtsquelle, wie dies von den Anhängern politischer Theologie gefordert wird.
Politische Philosophen und politische Theologen haben bis vor kurzem in unserer Gesellschaft trotz des immer bestehenden natürlichen Spannungsverhältnisses in relativer Eintracht gelebt und einigermaßen toleranten Umgang gepflogen. Plötzlich gibt es jedoch zwischen ihnen erhebliche Spannungen, wobei der Frontenverlauf höchst eigentümlich ist. Denn der Riss geht mitten durch die großen Kirchen. Es kommt dort zwischen den Gläubigen des liberalen Flügels, der trotz seines christlichen Glaubens meist den Standpunkt der politischen Philosophen vertritt, und den Gläubigen, die Anhänger einer politischen Theologie sind und deshalb von den Liberalen als Fundamentalisten kritisiert werden,22 zu ganz erheblichen Spannungen.
Andererseits wechseln bisher ungläubige politische Philosophen nach Anschluss an eine der vielen neureligiösen oder therapeutischen Gemeinschaften, die neben und anstelle der zerfallenden Großkirchen heute Lebenshilfe und Seelsorge gewähren, in das Lager der politischen Theologen. Bisher Ungläubige werden plötzlich spirituell, charismatisch und vertreten fundamentalistische Lebensrezepte. Es treten hierdurch Spannungen zu Angehörigen, Lebenspartnern und Freunden auf, die die plötzliche Veränderung nicht verstehen und hierfür vielfach psychopathologische Erklärungsmuster benützen, die sie von den Sektenexperten der Kirchen übernommen haben. Diese Sektenexperten, die in der Regel in das Lager der politischen Philosophen gehören, geraten ihrerseits in die Schusslinie der Mitglieder ihrer Kirche, die Anhänger der politischen Theologie sind.23 Denn diese befürchten, von den Sektenexperten nach denselben Bewertungskriterien für Sekten als fundamentalistisch oder psychisch geschädigt abqualifiziert zu werden.
Wir befinden uns hier in einer Aporie. Gleichgültig, in welches der beiden Lager wir uns persönlich auch schlagen, steht vor uns immer ein Gegner, mit dem wir uns über existentielle Werte unserer Lebensführung nicht werden einigen können. Da es sich hier um Weltanschauungsfragen handelt, kann uns auch der Staat nicht helfen. Denn dieser ist bekanntlich zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Mit dem Begriff Neutralität scheint sich ein Ausweg aus unserer Aporie zu öffnen. Es gibt anscheinend in dieser Auseinandersetzung einen dritten Standpunkt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass man sich für keines der beiden Lager entscheidet und die Letztbegründung für das Heil der Menschheit offen lässt. Man begnügt sich damit, für einen überschaubaren Zeitraum das gesellschaftliche Wohl und die Mittel für dessen Erreichung vorläufig festzulegen und ändert seine Entscheidung, wenn das anvisierte Ziel nicht erreicht wurde.
Dieser technische Pragmatismus, der das politische Leben unserer Demokratien heute bestimmt, gerät aber immer dann in eine Krise, wenn eine Gruppe die Gretchenfrage nicht unentschieden lässt, sondern sich für eine religiöse Gesellschaftsordnung entscheidet und diese in der demokratisch verfassten Gesellschaft in die Tat umzusetzen beginnt. Der Konflikt mit dem demokratischen Staat ist hier vorprogrammiert. Denn mit dem Entschluss, einen demokratischen Staat zu konstituieren, haben sich die Verfassungsgeber für die Werteordnung der politischen Philosophen und damit gegen die der politischen Theologen und Therapeuten entschieden. Der demokratische Staat, der von sich zwar immer behauptet, weltanschaulich neutral zu sein, ist dies deshalb in Wirklichkeit gar nicht. Denn er hat sich bereits in seinem Gründungsakt, gestützt auf die Staatstheorie der Aufklärung, gegen religiöse und therapeutische Wahrheiten als staatliche Letztbegründungsinstanz und unmittelbare Rechtsquelle ausgesprochen. Er steht deshalb mit allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die fordern, der Staat möge ihre Grundanschauung und Grundwerte zum obersten Entscheidungsmaßstab machen, potentiell in Konflikt. Solange über diese Grundwerte zwischen dem demokratischen Staat und den Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften Konsens besteht, wird dieser Spannungszustand verdeckt. Die Spannung wird erst dann sichtbar, wenn der demokratische Staat eine Entscheidung fällt, durch die er politische Theologie und Therapie in die Schranken weist.
Dies ist unlängst durch die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschehen. In dieser Entscheidung ist das staatliche Gebot, in bayerischen Volksschulen in den Klassenzimmern Kreuze aufzuhängen, für verfassungswidrig erklärt worden. Interessant ist diese äußerst umstrittene Entscheidung vor allem deshalb, weil sie anscheinend eine Korrektur staatlicher politischer Theologie darstellt, die sich pikanterweise noch dazu auf die Bayerische Verfassung berufen kann. Denn in Art.131 Abs.2 BV wird als eines der obersten Bildungsziele, auf die hin Kinder in Bayern zu erziehen sind, die Ehrfurcht vor Gott genannt. Die Begründung für die Aufnahme dieses Erziehungszieles in die Bayerische Verfassung ergibt sich aus deren Präambel. Dort beziehen sich die Verfassungsväter auf den Nationalsozialismus und begründen das Scheitern dieses weltlichen Heilsweges damit: „eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen" und zeichnen gleichzeitig das Programm des neuen demokratischen Heilsweges vor. Das an theologische Rede erinnernde Pathos der Sprache der Präambel rechtfertigt es, hier von demokratischem Heilsweg zu sprechen. Die Affinität zur politischen Theologie in der Präambel kommt nicht von ungefähr, sie ist gewollt. Präambeln von demokratischen Verfassungen - auch die des Grundgesetzes verweist auf Gott - liegen bekanntlich in einem metarechtlichen Raum, der sich zur Theologie und Philosophie und damit zu einer Staatsweltanschauung24 hin öffnet.
Es ist hier nicht der Ort, die Richtigkeit dieser Entscheidung zu diskutieren. Höchst bemerkenswert ist jedoch, dass der technische Pragmatismus politischen und rechtlichen Handelns trotz weitgehender Säkularisierung unserer Gesellschaft durch ein plötzliches Aufwallen einer politisch - theologischen Strömung in Frage gestellt worden ist.
Dies ist ein überraschendes Phänomen. Denn wir Juristen bemühen uns doch seit jeher, als gute politische Philosophen die Religion im Privatbereich zu halten und diese möglichst zu entpolitisieren. Wir bewegen uns hierbei im Mainstream der öffentlichen Meinung, die in der Religion den Mythos sieht, der nichts oder nur wenig mit der von uns täglich zu meisternden empirischen Welt gemeinsam hat. Die Kirchen werden als mehr oder minder nützliche Sozialeinrichtungen angesehen, die dem weniger effizienten Teil unserer Bevölkerung unter die Arme greifen. Bei Seelenproblemen gelten die kirchlichen Seelsorger ohnehin als zweite Wahl;25 man sucht heute lieber den Psychotherapeuten auf oder geht in eine Selbsterfahrungsgruppe.
Es scheint nun eine Gegenbewegung in Gang gekommen zu sein. Folgt man dem amerikanischen Sozialforscher J. Naisbitt, gehört das Wiederaufleben der Religionen zu den großen Megatrends der jetzigen Weltkultur.26 Das rasante Wachstum der Sekten scheint diese Auffassung zu bestätigen. Christliche Theologen und Religionswissenschaftler, vor allem die der Kirchen, sehen im Entstehen der sogenannten Sekten eine neureligiöse Bewegung, deren verschiedene Erscheinungsformen sie unter dem Begriff einer bisher namenlosen Weltreligion des nächsten Jahrtausends neben Christentum und Islam bringen (F.-W. Haack, 1991, J. Aagaard, 1995).
Skeptiker, die diese These in Frage stellen, beschreiben das Sektenphänomen dagegen als „religionsfreudige Gottlosigkeit". Gegen die Richtigkeit der These, eine neue Religion sei im Entstehen, spricht die zunehmende Kirchenverdrossenheit unserer Bürger, die scharenweise den Kirchen den Rücken kehren, ohne sich einer der neuen Sekten anzuschließen. Wir widersprechen mit den Skeptikern dieser Religionsthese und halten den Optimismus, der Geist des Neuen Zeitalters sei der Geist Gottes (Schiwy), für gänzlich unbegründet.
Unsere Gegenthese lautet, dass die Neureligiösen Bewegungen überwiegend moderne sozialtechnologische Apparaturen für das „social engineering" des „Alten Menschen" zum perfekten „Neuen Übermenschen" in einer sozialdarwinistischen Technikgesellschaft, die Postman als „Technopol" bezeichnet,27 darstellen. Dieser neue Homo cyber sapiens mit behaupteter paranormaler Fähigkeit wird an Tüchtigkeit mit dem Robot hominidus intelligens wetteifern. Prototyp dieses Sozialingenieurtums ist Scientology. Sozialingenieure gehören aber in die empirische Außenwelt und haben mit der religiösen Welt, d.h. mit unserem fühlenden, sehnenden, verzweifelten, hoffenden und sinnsuchenden Inneren und einer hieraus folgenden humanen Lebensweise nichts zu tun. Für Sozialingenieure ist unser Inneres eine Black Box. Was für sie allein zählt, ist der richtige in der Außenwelt registrierbare Output nach Eingabe eines bestimmten aus der Außenwelt stammenden Input. Die sogenannte namenlose Weltreligion, die uns bevorsteht, wenn wir nicht rechtliche Gegenmaßnahmen ergreifen, ist die gänzliche Manipulation des einzelnen, d.h. die Orwellisierung der Gesellschaft durch institutionalisierte Sozial- und Psychotechnologie.
Unsere Religionswissenschaftler scheinen bei ihrer Thesenbildung das von den Humanwissenschaften in den letzten 25 Jahren entdeckte neue Herrschaftswissen über die Führung, Veränderbarkeit und Selbstveränderbarkeit des Menschen durch Psycho- und Sozialtechnologie auszuklammern. So sollten bei Prognosen über die Religionsentwicklung auch die Forschungsergebnisse der Natur- und Humanwissenschaften mitberücksichtigt werden, da durch sie unser Menschenbild und damit auch unser religiöses Verständnis nachhaltig verändert werden.
Manche der sogenannten Neureligiösen Bewegungen geraten allein wegen ihrer angewandten Psychotechniken in Konflikt mit der Gesellschaft, nicht wegen ihrer Theorien über Gott, Welt und Mensch, d.h. ihrer Ideologie. Das Anstößige ist nicht ihr Glaube, sondern die Fähigkeit, mittels moderner Psycho- bzw. Sozialtechnologie Menschen in ihrem äußeren und inneren Verhalten durch Trainings- und Kontrolltechniken zu verändern. Die Neureligiösen Bewegungen sind meist nicht Ausdruck eines Weges nach innen, sondern das Produkt der Eroberung unserer Gesellschaft durch eine wildwüchsige Psychotherapie in Laienhand, die sich aller alten und neuen psychologischen Selbsterfahrungs- und Veränderungsmittel in exzessiver Weise bedient. Professionelles therapeutisches Wissen und die an sich neutralen Psychotechniken, die sowohl zum Guten als auch zum Bösen ähnlich wie beim Gebrauch eines Messers verwendet werden können, werden durch Laien vielfältig abgewandelt und oft in Unkenntnis ihrer Gefährlichkeit eingesetzt oder bewusst als psychische Waffe in machiavellistischer Manier nach dem Motto: Manipulieren, aber richtig! missbraucht. Analog der Veränderung religiöser Riten durch die Volksfrömmigkeit verändern die Neureligiösen Bewegungen, bei denen es sich in Wirklichkeit zum größten Teil um therapeutische Bewegungen handelt, fortlaufend ihre Gestalt. Sie unterliegen Modeströmungen. Alte Formen vergehen und neue werden geboren. Es handelt sich hierbei um einen nicht mehr umkehrbaren Prozess der Pluralisierung und Privatisierung von Lebenshilfe in unserer Gesellschaft. Die sogenannten Sekten dürften deshalb in Bälde der Normalzustand in unserer jetzt schon multiformen Gesellschaft sein, sollte die Pluralisierung im Lebenshilfebereich fortschreiten. Beim weiteren Zerfall unserer großen Lebenshilfesysteme, den Kirchen und der von der alternativen Konkurrenz bedrohten wissenschaftlich begründeten Psychotherapie, wird es übrigens bald keinen Sinn mehr machen, von Sekten zu sprechen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, wenigstens im wissenschaftlichen und juristischen Sprachgebrauch die neutrale Bezeichnung „Lebenshilfegruppe" zu verwenden. Der These, dass es sich bei den Neureligiösen Bewegungen überwiegend um Therapiebewegungen handelt, kann man entgegenhalten, warum sie dann nicht Therapiebewegungen genannt werden. Grund hierfür ist allein, dass sich die Kirchen als erste des neuen sozialen Phänomens angenommen und es benannt haben. Erst 1994 hat der Berufsverband Deutscher Psychologen auf seiner Tagung in Bonn zum Thema Psychomarkt-Sekten-Destruktive Kulte den engen Zusammenhang zur Psychotherapie unter Hinweis auf die bei den Gruppen eingesetzten Psychotechniken hingewiesen (W.Gross, 1994).
Die Namensgebung Neureligiöse Bewegungen bzw. Jugendsekten für das neue soziale Phänomen durch die Kirchen wirkt auf den ersten Blick unproblematisch. Es scheint sich um eine Etikettierung zu handeln, die auch anders hätte lauten können wie z.B. „Kulte", eine Bezeichnung, die in den englischsprachigen Ländern üblich ist. Mit der Bezeichnung Religion haben die Kirchen jedoch auch gleichzeitig einen Begriff im Rahmen einer religionswissenschaftlichen Theorie geprägt und mit diesem Begriff eine religiöse Deutung des Phänomens im Rahmen eines bewusstseinsphilosophischen Theoriekonzepts in die Gesellschaft getragen. Sie haben damit aber das neue soziale Phänomen ungewollt in den Grundrechtsschutzbereich von Religion und Weltanschauung gebracht und damit staatlichen Schutz vor missbräuchlicher Anwendung von Psychotechniken fast unmöglich gemacht. Denn der religiösen Deutung der neuen sozialen Erscheinung ist die Rechtsprechung bis hin zum Bundesverfassungsgericht gefolgt.28 Der Begriff Jugendsekte bzw. Jugendreligion wurde zum Rechtsbegriff. Jeder der neuen Bewusstseinstechnologen, der heute auf dem Psychomarkt New-Age-Trainings zur Persönlichkeitsveränderung verkauft, kann sich derzeit auf den Schutz von Art.4 GG berufen.
Wir werden jetzt die Grundzüge eines sozialwissenschaftlichen Konzepts darstellen, auf dessen Grundlage eine rechtliche Regelung des gewerblichen Psychomarktes, die Schaffung einer Psychoethikkonvention und einer öffentlichen Stiftung Psychomarkt als Forschungseinrichtung in Angriff genommen werden könnten. Wir sind uns der Unzulänglichkeit dieses Versuches bewusst. Er sollte ein erster Denkanstoß sein. In ähnliche Richtung gehen wohl auch die Vorschläge der Soziologen Berger und Luckmann (1995), die angesichts der Vielzahl der Orientierungsangebote auf dem „Lebenssinnmarkt" und der daraus folgenden Orientierungsnot der Bürger für die Schaffung intermediärer Institutionen plädieren, die bei der Orientierung des einzelnen und seiner Integration in die Gesellschaft vermitteln sollen.
Einer näheren Klärung bedarf zunächst der Begriff Psychotechnik. Wir verstehen unter dem Begriff jede Interaktion im sogenannten ersten oder zweiten Signalsystem, d.h. die Benutzung nonverbaler oder verbaler Signale mit dem Ziel, den Mitmenschen zum eigenen oder zu dessen Vorteil zu beeinflussen. Gesellschaftlich missbilligten Einsatz von Psychotechnik nennt man Manipulation. Das anthropologische Wissen über die Beeinflussungsmöglichkeit des Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten ähnlich explosionsartig vergrößert wie das biologische Wissen über den Menschen. Weiter ist zu untersuchen, was dieser Begriff im Zusammenhang mit Religion bedeutet. Selbst bei wenig religiös orientierten Menschen löst die Verbindung von Religion und Technik Unbehagen aus. Ein religiöses Gemüt wird die Herstellung eines Zusammenhangs von Religion und Technik als ähnliche Zumutung empfinden, wie die Äußerung von Marx, Religion sei „Opium des Volkes". Und doch scheint hier ein mit naturwissenschaftlichen Mitteln beweisbarer Zusammenhang zu bestehen.
In den letzten Jahrzehnten haben die Psychologen nicht nur die menschliche Sexualität in allen Einzelheiten erforscht, sondern im Labor durch Einsatz bestimmter Psychotechniken auch religiöse Gefühle hervorgerufen und getestet. Wir können beweisen, dass das Erleben in tiefer Meditation und Trance sich von Einbildungen eines Geschichten erfindenden Dichters unterscheidet. So zeigen sich beim Meditierenden physiologische Veränderungen im Gehirnstrombild. Die Bewusstseinserweiterung hat eine physiologische Entsprechung. Die Ethnologin Goodman glaubt sogar, religiöse Trance mittels Gehirnstromaufzeichnung von anderen Trancezuständen unterscheiden zu können. Wir wissen von überwältigenden Glücksgefühlen bei Nahtoderfahrungen. Der schweizerische Psychiater Dittrich hat in einer Reihenuntersuchung das Erleben mechanisch induzierter Veränderung des Wachbewusstseins durch sensorische Deprivation bzw. durch Reizüberflutung mit der bei drogeninduzierter Veränderung des Wachbewusstseins untersucht und miteinander verglichen. Er ist hierbei zu dem Ergebnis gekommen, dass es ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewusstseinszustände, also ein gleiches Erleben gibt, das von den Probanden oft als religiöse Erfahrung interpretiert wurde. Dass bei Naturvölkern Rauschdrogen heilige Pflanzen sind, die zu religiösen Kultzwecken benutzt werden, kommt daher nicht von ungefähr.
Das Bemerkenswerte an diesen Forschungsergebnissen ist, dass diese mechanisch, d.h. physiologisch auslösbaren außergewöhnlichen Bewusstseinszustände, sei es durch Hyperventilation, sei es durch Fasten, sei es durch Reizentzug oder Reizüberflutung, religiöses Erleben, ja Bekehrung beim Probanden bewirken können, ohne dass er vorher religiös instruiert wurde.
Dass sich ein Jurist mit solcher Forschung beschäftigt, erscheint ungewöhnlich. Anstoß für die Beschäftigung mit diesen Fragen haben wir bei unserer staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit bekommen. Denn, als wir vor 15 Jahren den Dienst bei der Staatsanwaltschaft angetreten haben, fanden wir ein Verfahren vor, das unseren damaligen Wissens- und Erfahrungshorizont trotz forensisch-psychiatrischer Kenntnisse, die wir beim Studium erworben hatten, bei weitem sprengte.
Infolge eines dreitägigen Marathontrainings zur Persönlichkeitsentwicklung in einem Münchner Hotel waren zwei junge Frauen an einer Psychose erkrankt, die eine mehrmonatige stationäre Behandlung in einer Nervenklinik notwendig machte. Was heute für Experten eine Selbstverständlichkeit ist, dass es bei hartem Psychotraining zu seelischen Zusammenbrüchen bis hin zur echten Geisteskrankheit kommen kann, war uns, aber auch den hierzu befragten Gerichtspsychiatern gänzlich unbekannt.
Wir haben schließlich einen Fachmann gefunden, der uns die Zusammenhänge zwischen bestimmten Übungen und der hierdurch eintretenden Veränderung des Wachbewusstseins erklärt hat.29 Bei dem Eintritt der Psychosen hat es sich um „Betriebsunfälle" gehandelt, die jederzeit bei prädisponierten Personen durch den Übungsstress ausgelöst werden können. Durch diesen Fall klüger geworden, haben wir auch die scientologischen Übungstechniken psychiatrisch und gerichtsmedizinisch untersuchen lassen und sind hierbei ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass bei scientologischem Training hypnoide Zustände und Stress zum Zweck der Persönlichkeitsbeeinflussung gezielt herbeigeführt werden.30 Trainingsziel bei höherem scientologischen Training ist die Exteriorisation, ein Erleben, als befände man sich außerhalb seines eigenen Körpers. Dieser Zustand ist übrigens, ohne dass man etwas glaubt, durch bestimmtes Psychotraining bei den meisten Menschen auslösbar.31
Wir müssen, wenn wir über religiöse Seelsorge und Psychotherapien sprechen, demnach zwei Bewusstseinsebenen unterscheiden, die des Helfers, der zu Übungen anhält, und die des Hilfesuchenden, der die Übungen auf Anweisung des Helfers durchführt. Der Helfer kennt aufgrund eigener Übungserfahrung die Auswirkung der Übung beim Hilfesuchenden, befindet sich aber in aller Regel bei der Anweisung zur Übung nicht in dem beim Hilfesuchenden durch die Übung herbeigeführten Bewusstseinszustand, durch den dessen Ich-Kontrolle meist eingeschränkt wird. Man denke an das Verhältnis des Hypnotiseurs und des Hypnotisierten, an das des Meditationsleiters und des Meditierenden, des Predigers, der Höllenstrafen schildert, und seines gläubigen Zuhörers, der hierdurch in Angst und Panik versetzt wird. Es besteht hier ein Abhängigkeitsverhältnis: der Helfer ist der überlegene Starke, der Hilfesuchende, dem die Auswirkungen bestimmter Psychotechniken oft nicht vertraut sind, befindet sich in einer Position der Unterlegenheit und Schwäche.
Die Veränderungsmacht des Lebenshelfers - dies wissen alle Seelsorger, Psychotherapeuten und Pädagogen - hängt von dieser asymmetrischen Beziehung ab. Bei direktiven Therapierichtungen wird dieser Machteffekt bewusst zur Veränderung des Hilfesuchenden eingesetzt. Eine Veränderung des Hilfesuchenden erfolgt bei direktiver Therapie übrigens in aller Regel rascher als bei nichtdirektiver Therapie, etwa der Psychoanalyse. Nicht direktiv arbeitende Therapeuten werfen deshalb direktiv arbeitenden Kollegen gerne vor, sie arbeiteten mit Methoden der Gehirnwäsche.32
Dieser kurze Ausflug in therapeutische und religiöse Techniken zur Menschenveränderung hat ein Doppeltes gezeigt. Auf der Seite des Lebenshelfers haben wir es mit einem Wissen, einem Know-how, zu tun, das, ohne dass der Helfer selbst gläubig zu sein braucht, zur Menschenformung eingesetzt werden kann. Auf der Seite des Hilfesuchenden wird bei Befolgung der Anweisung des Helfers in seinem Erleben eine Veränderung bewirkt, die einen Wechsel der Einstellung, der Vorstellungen, des Glaubens, der Weltanschauung, bei längerer Übung auch der Lebensform, der Ethik, der Verhaltensmuster und damit schließlich der ganzen Persönlichkeit herbeiführen kann.
Psychotechniken sind demnach Werkzeuge, die bei richtigem Gebrauch segensreich sind, bei fehlerhaftem und missbräuchlichem Gebrauch den Hilfesuchenden schädigen, ihn in Abhängigkeit vom Helfer bringen und ihn so seiner Entscheidungs- und Handlungsfreiheit berauben können. Bis vor kurzem fehlte unseren säkularen und religiösen Lebenshelfern hier das Problembewusstsein. Hier ist erfreulicherweise ein Umdenkungsprozess in Gang gekommen.33
Zusammenfassend können wir demnach von einem Glaubens- und Weltanschauungs- und Persönlichkeitsveränderungswissen sprechen, das in den Händen von skrupellosen religiösen, therapeutischen, aber auch staatlichen Machthabern zur Unterwerfung des Menschen eingesetzt werden kann. Die Anthropologie, Soziologie und Psychologie haben uns in den letzten Jahrzehnten ein Herrschaftswissen zur Verfügung gestellt, für dessen Verwendung es derzeit auch nicht ansatzweise allgemein akzeptierte ethische Standards, geschweige denn rechtliche Regelungen gibt. Das Fatale ist, dass die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels zur anthropologischen Sicht, also zur Betrachtungsweise von der „Rückseite des Spiegels" her, wie dies der Ethologe Konrad Lorenz sehr plastisch ausgedrückt hat, bis heute nicht in das Bewusstsein der Allgemeinheit vorgedrungen ist, nicht einmal in das des Staates. Obwohl uns das Problem seit über 20 Jahren auf den Nägeln brennt, wird von uns Juristen die Angelegenheit auf der „Vorderseite des Spiegels" lediglich als ein Religions- und Weltanschauungs- und Glaubensproblem abgehandelt, das allein im Verantwortungsbereich des einzelnen liegen soll. Dabei könnten und müßten wir es schon lange besser wissen.
Werfen wir doch einmal einen Blick zurück in die Zukunft. Die Zukunftsforscher Hermann Kahn und Anthony Wiener haben in ihrem Buch „Ihr werdet es erleben: Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahr 2000", das 1968 in Deutschland erschienen ist, die Gefahr der schleichenden Orwellisierung der westlichen Gesellschaften durch Psycho- und Kontrolltechnologie auf der Grundlage kybernetischen Wissens vorausgesagt. Nur eine oberflächliche Untersuchung der Technologie und Ethik von Scientology zeigt bereits, dass es sich hier um ein sozialtechnologisches Instrumentarium handelt, mit dem eine Orwellgesellschaft errichtet werden kann und soll. Was weder die Psychologen, Theologen noch der Staat bisher erkannt haben, ist, dass sich die scientologische Technik auf sogenanntes postmodernes Wissen stützt. Der Mensch wird im Anschluss an die Ende der vierziger Jahre von Norbert Wiener entdeckten gleichen Steuerungs- und Kontrollgesetzlichkeiten in Lebewesen und Maschinen als Biocomputer angesehen,34 dessen angebliche Fehlerhaftigkeit durch Umprogrammierung, d.h. Konditionierung nach den Methoden Pawlows und Skinners aufgehoben wird.35 Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass der derzeitige Leiter des Pawlow-Instituts in Moskau zum begeisterten Scientologen geworden ist. Wie wir zwischenzeitlich von hochrangigen Aussteigern wissen, ist die Behauptung von Scientology, eine Religion zu sein, eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit.
Was soll der Staat nun tun, wenn Scientology auf ein von einem Kardinal herausgegebenes Lexikon über Religionen verweist, in dem Scientology als Religion abgehandelt wird? Man fühlt sich an die Geschichte vom Trojanischen Pferd erinnert, das die Trojaner bekanntlich auf Geheiß ihrer Priester als Kultbild in ihre Stadt gezogen und sie damit zerstört haben.
Unser Blick zurück in die Zukunft trifft auch auf das Buch von Aldous Huxley „Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt", das er 1959, also 27 Jahre nach dem Erscheinen seiner ironisch-satirischen Zukunftsvision „Schöne neue Welt' geschrieben hat. Es handelt sich um ein Sachbuch, das wir allen Ministerialbeamten, Parlamentariern und Sektenexperten dringend zur Lektüre anempfehlen. Hier einige Kapitelüberschriften: Propaganda in einer Demokratie, Propaganda unter einer Diktatur, Die Kunst des Verkaufens, Gehirnwäsche, Chemische Beeinflussung, Unbewusste Beeinflussung, Hypnopädie. Huxley entwirft dort ein Bild der damaligen Bewusstseinsmanipulationsindustrie. In der Zwischenzeit sind noch einmal 36 Jahre vergangen. Die technischen Beeinflussungsmöglichkeiten haben sich verfeinert. Wir wissen noch mehr vom Menschen und können uns noch besser gegenseitig manipulieren und auch von Maschinen im Cyberspace-Raum manipulieren lassen.
Einen letzten sehr gewichtigen Gewährsmann möchten wir noch erwähnen. Bereits 1968 hat auch J. Habermas die Entwicklung, das menschliche Verhalten von einem an die Grammatik von Sprachspielen gebundenen Normensystem abzuhängen und statt dessen den Menschen durch unmittelbare physische und psychische Beeinflussung in selbstregulierte Sub-Systeme des Mensch-Maschine-Typus zu integrieren, vorausgesehen und vor psychotechnischer Verhaltensmanipulation, die den altmodischen Umweg über die Verinnerlichung neuer Verhaltensmuster in unserem Bewusstsein ausschaltet, in seinem Buch „Technik und Wissenschaft als 'Ideologie' " gewarnt.
Dieses neue psychologische und soziale Herrschaftswissen, das als zunächst neutrales Werkzeug für sich gesehen weder gut noch böse ist, bedarf jedoch immer einer Bewertung, wenn es im Rahmen von Weltanschauung oder Religion, Psychotherapie oder Pädagogik zur Erreichung eines bestimmten Bewusstseinszustandes oder einer bestimmten Persönlichkeitsumformung eingesetzt wird. Für diese Bewertung benötigen wir jedoch einen Maßstab. Dieser ist entweder ein vorher festgelegtes Menschenbild oder in der Demokratie eine durch die Gesellschaft festgelegte Werteordnung. Ohne eine solche vorherige Normierung ist aber die Rede von Sekten, destruktiven Kulten, Persönlichkeitszerstörung, Regression etc. sinnlos. Denn es handelt sich bei diesen Termini um kulturabhängige normative Begriffe, die erst an den Werten einer bestimmten Kultur geeicht werden müssen. Da wir uns in einer pluralen Gesellschaft nicht über ein einziges gültiges Menschenbild einigen können, muss es auch automatisch Streit geben, ob eine bestimmte Gruppe eine Sekte oder ein destruktiver Kult ist oder nicht.
Es gibt jedoch in jeder demokratisch verfassten Gesellschaft eine absolute Handlungsgrenze. Diese ist erreicht, wenn durch eine Handlungsweise Rechtsgüter von Verfassungsrang verletzt werden. Diese Grenze gilt auch im religiösen und therapeutischen Bereich.
Leider haben wir es bis heute versäumt, an Modellbeispielen zu zeigen, wann diese Grenze im Einzelfall überschritten wird. Unter dem Deckmantel der therapeutischen Nützlichkeit oder eines vorgeschobenen religiösen und weltanschaulichen Etiketts kann heute nahezu jeder Schindluder mit der psychischen Gesundheit seiner Mitbürger treiben, ohne dass der Staat sich hierum kümmert. Hinzu kommt eine Begriffs- und Theoriekonfusion: Wir folgen heute bei unserer Bewertung der neuen Lebenshelfer meist psychohygienischen Maßstäben unseres Kulturbereichs, die allein von Psychologen aufgestellt sind, ohne uns zu fragen, ob die Verletzung dieser Maßstäbe auch eine Rechtsgutverletzung oder -gefährdung im Sinne unserer Verfassung darstellt. Denn nur dann ist staatliches Einschreiten möglich.
Das Scheitern von staatlichen Sektenbroschüren vor den Verwaltungsgerichten liegt an der mangelnden Begriffsschärfe, die sich statt auf Tatsachen auf den ideologischen Begriff Sekte stützt. Qualifizierungen wie „totalitär", „vereinnahmend", „destruktiv" halten einer forensischen Nachprüfung in aller Regel derzeit nicht stand. Denn es sind immer auch handfeste Tatsachenfeststellungen über konkrete Gefährdungen oder Eingriffe in Rechtsgüter, die durch unsere Verfassung geschützt sind, für ein derartiges Werturteil erforderlich. An solchem Beweismaterial fehlt es meist. Staatliche Kritik an Lebenshilfegruppen bewegt sich damit aber schnell in den Bereich weltanschaulicher Ablehnung und kann deshalb mit Recht als verfassungswidrig kritisiert werden. Es ist deshalb auch völlig untunlich, den Begriff Sekte oder destruktiver Kult als rechtliches Anknüpfungsmerkmal zu verwenden.
Was ist dann zu tun? Wir haben unlängst vorgeschlagen, den missverständlichen Begriff Sekte gänzlich fallen zu lassen und an die Interaktionsbeziehung zwischen Lebenshelfer und Hilfesuchendem auf dem Lebenshilfemarkt anzuknüpfen und diese Beziehung als Dienstleistungsverhältnis zu qualifizieren.36 Wir gebrauchen die Termini Psychomarkt, Lebenshilfemarkt oder Lebenssinnmarkt nicht nur figurativ, sondern als neues sozialwissenschaftliches und juristisches Paradigma zur Beschreibung der Vielzahl der Angebote des immer unübersichtlicher werdenden Feldes der weltlichen, aber auch neureligiösen psychosozialen Dienste in unserer pluralen Gesellschaft, die sich in die Multikulturalität bewegt. Aufgabe des Staates ist es, den fairen risikolosen Umgang zwischen Lebenshelfer und Hilfesuchendem zu gewährleisten, zumal dann, wenn Lebenshilfe und Persönlichkeitsentwicklung in Kursen und Seminaren verkauft wird.
Dieser Paradigmenwechsel wurde von der Politik rasch aufgegriffen. Im September 1994 forderte die Junge Union Rheinland-Pfalz die Schaffung eines Rechts der gewerblichen Lebenshilfe zur Bekämpfung der Missstände auf dem Psychomarkt. Ende 1994 schlug das Baden-Württembergische Sozialministerium vor, eine gesetzliche Regelung der Dienstleistungen gewerblicher Lebensbewältigungsangebote zu schaffen. Dieser Initiative haben sich die Gesundheitsminister der Länder einstimmig angeschlossen. Leider hat das Bundesgesundheitsministerium bisher keine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, wie ursprünglich beabsichtigt gewesen ist, einberufen.
Widerstand gegen ein derartiges Konzept - wir haben dieses zwischenzeitlich weiterentwickelt und auch der Öffentlichkeit vorgelegt37 - kommt derzeit nicht von den Kirchen, sondern eher aus den Reihen der Berufsverbände der Psychotherapeuten, die seit Jahren um ein Psychotherapeutengesetz ringen. Die von den Psychotherapeuten gehegte Hoffnung, dass mit der Schaffung dieses Gesetzes der neue Psychomarkt austrocknen wird, ist jedoch gänzlich unbegründet, da die Auswahl von Lebenshilfeangeboten nicht nach rational-wissenschaftlichen Kriterien erfolgt. Wer auf der Suche nach Lebenssinn ist, wird sich wohl eher einer New-Age-Selbsterfahrungsgruppe anschließen, als sich in die Hände eines Psychoanalytikers begeben. Psychotherapie betrifft zudem die Heilung psychischer Störungen, die neuen Lebenshelfer wenden sich aber an psychisch Gesunde und wollen diese verbessern.
Was wir dringend brauchen, ist eine öffentliche Stiftung Psychomarkt, die als Forschungs-, Aufklärungs- und Beratungsstelle fungieren soll. Was wir dagegen nicht brauchen, ist ein staatlicher Sektenbeauftragter.38 Wir liefen Gefahr, unsere Demokratie in einen Weltanschauungsstaat zu verwandeln.
Wenn wir es fertigbringen, Rechte und Pflichten im Lebenshilfeverhältnis zu bestimmen - wir müssen hierzu wohl eine Psychoethikkonvention für die Anwendung riskanter Psycho- und Sozialtechniken entwickeln -, ist es eine Frage der Marktbehörden und Gerichte, hier Pflichtverstöße festzustellen. Sollte sich ein gewerblicher Lebenshelfer und Persönlichkeitsentwickler gravierende Verstöße zuschulden kommen lassen, sollte die Möglichkeit bestehen, ihn entsprechend §35 GewO auch vom Lebenshilfemarkt auszuschließen. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn er in verfassungsfeindlicher Absicht die Macht in Staat und Gesellschaft zu ergreifen versucht, um eine therapeutische Gesellschaftsordnung zu errichten.
Einen umfassenden Schutz der Kunden auf dem Psychomarkt wird es allerdings in einer Demokratie nicht geben können. Wir können den Bürger, der bewusst eine Selbstgefährdung im privaten Bereich in Kauf nimmt, hieran nicht hindern. Wer trotz Warnung exzessiv mental trainiert, ist genauso wenig schutzwürdig, wie ein Extrembergsteiger, dem wir sein Tun auch nicht verbieten können.
Der Staat hat die Sektenfrage bisher aufgrund eines unzureichenden theoretischen Ansatzes als Weltanschauungs- und Sondergruppenproblem eingeordnet. Er hat übersehen, dass es sich hier um ein allgemeines gesellschaftliches Problem handelt, das in der Therapiebereitschaft der Gesamtgesellschaft wurzelt. Diese bedient sich für die Erfüllung ihrer Therapiebedürfnisse eines riesigen gewerblichen Dienstleistungsmarktes für Lebensbewältigungshilfe, der neben der religiösen Seelsorge und der etablierten Schulpsychotherapie die unterschiedlichsten psychosozialen Dienstleistungen anbietet und verkauft. Für diesen Psychomarkt fehlen ethische Standards und rechtliche Regelungen, so dass der Bürger derzeit vor dem Missbrauch des alten und neuen Menschenveränderungswissens, das die Humanwissenschaften entdeckt haben, nicht geschützt werden kann. Dem ist rasch abzuhelfen.
Postskriptum
Motivation für diesen Aufsatz war die Tatsache, dass in der Enquete-Kommission "Sog. Sekten und Psychogruppen" meine Anregung, auch den islamischen Fundamentalismus zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, bei der Vorsitzenden der Kommission auf Ablehnung gestoßen ist. Anlass für meine Anregung war das aggressiv-kämpferische Verhalten des gewaltbereiten Islamisten Metin Kaplan, des sog. Kalifen von Köln (vgl. Wikipedia), der zu Jahresbeginn 1996 bereits für ganz erhebliche, die Öffentlichkeit bewegende Konflikte gesorgt hat. Eine Bereitschaft, das Thema "Totalitarismus und Politische Religionen" zu thematisieren, bestand in der Kommission niemals.
1 Engstfeld in: Engstfeld, P.A., u.a. (Hg.), Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten neuen Jugendreligionen, München 1982 (2.Aufl.)
2 Badura, P., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, Verfassungsfragen zur Existenz und Tätigkeit der neuen „Jugendreligionen", Tübingen 1989
3 Zum Streitstand vgl. Hemminger, H., Was ist eine Sekte?, Mainz, Stuttgart 1995, S.65ff
4 Keltsch, J., in: Protokoll Nr.l1 des Ausschusses für Frauen und Jugend vom 9.10.1991 zur Jugendsektenanhörung, Bonn 1991
5 Bundesverfassungsgericht NJW 1989, 3269; die Entscheidung betraf Gesundheitsgefahren durch die Trainingspraxis bei der Transzendentalen Meditation.
6 Zum Begriff des Neuen Menschen als Schlüsselbegriff der Moderne vgl. Küenzlen, G., Der Neue Mensch, Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994
7 Ruesch, J., Bateson, G., Kommunikation, Die soziale Matrix der Psychatrie, Heidelberg 1995; Watzlawick, P., Beavin, J.H., Jackson, D.D., Menschliche Kommunikation, Bern, Stuttgart, Toronto 1993; Lay, R., Philosophie für Manager, Düsseldorf, Wien, New York 1991
8 Wir gebrauchen den Begriff der Selbstsorge nicht im Sinne Heideggers als ontologisches Existenzial, sondern im Sinne Michel Foucaults als tatsächliche Praxis der Selbstveränderung (vgl. Foucault, M., u.a., Technologien des Selbst, F.a.M. 1993)
9 "Transpersonal" ist der Schlüsselbegriff einer auf Bewusstseinserweiterung ausgerichteten spirituellen Psychotherapie der Humanistischen Psychologie (vgl. Wilber, K., u.a., Psychologie der Befreiung, Bern, München, Wien 1988).
10 Aus der Sicht des therapeutischen Seelsorgers vgl. Lemke, H., Personenzentrierte Beratung in der Seelsorge, Stuttgart, Berlin, Köln 1995; Sons, R., Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie, Stuttgart 1995; Biser, E., Der inwendige Lehrer, Der Weg zur Selbstfindung und Heilung, München 1994; aus der Sicht des seelsorgenden Therapeuten vgl. Wilber, K., a.a. O., Frankl, E.F., Der unbewusste Gott, München 1988
11 P-R. Hofstätter hat auf den unauflösbaren Zusammenhang von Therapie und Kult hingewiesen (Psychologie zwischen Kenntnis und Kult, München 1984.)
12 Erstveröffentlichung 1960 in WORT UND WAHRHEIT, Monatsschrift für Religion und Kultur; Wiederveröffentlichung Akademie für politische Bildung Tutzing, Vorträge und Aufsätze, Heft 3, 1985
13 Zur politischen Dimension von Scientology: Junge Union Rheinland Pfalz (Hg.), Das 2.Wormser Scientology Tribunal 17. und 18. September 1994, Mainz 1995; Jaschke, H.-G., Gutachten: Auswirkungen der Anwendung scientologischen Gedankenguts auf eine pluralistische Gesellschaft oder Teile von ihr in einem freiheitlich demokratisch verfassten Rechtsstaat, Frankfurt 1995
14 Zu weiteren Gruppierungen mit radikalem politischen Anspruch vgl. Gandow, T., in: Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus (Hg.), 20 Jahre Elterninitiative, München 1995
15 Potthof. N.J., Der WISE-Report, Krefeld 1994 2.Aufl., S.31
16 Einen guten Überblick über den rücksichtslosen Technizismus von Scientology gibt die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 22.3.1995 (5 AZB 21/94), abgedruckt in NJW 1996, 143ff. Ein umfassendes Bild über das System von Scientology gibt die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 24.4.1986 (115 Js 4298/84).
17 Die protofaschistischen Elemente im Gedankengut Nietzsches wurden bekanntlich vom Faschismus und Nationalsozialismus benutzt (Vgl. Taureck, B.H.F., Nietzsche und der Faschismus, Hamburg 1989). Er dürfte auch Ideengeber für den rationalistischen Satanismus gewesen sein.
18 Zum Begriff des rationalistischen Satanismus als biologischer Machtkult vgl. Introvigne in Introvigne, M., Türk, E., Satanismus, Freiburg, Basel, Wien 1995, S.162ff.
19 A. Crowley und LaVey waren führende rationalistische Satanisten (vgl. Introvigne a.a.0.)
20 Die Qualifizierung von Scientology lediglich als Geistesmagie (Thiede, W., Scientology - Religion oder Geistesmagie?, Konstanz 1992) unterschätzt die systemische Psycho- und Sozialtechnik.
21 Meier, H., Die Lehre Carl Schmitts, Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie, Stuttgart, Weimar 1994
22 Beinert, W., (Hg.), „Katholischer" Fundamentalismus - Häretische Gruppen in der Kirche?, Regensburg 1991; Kienzler, K., (Hg.), Kath. Akademie in Bayern, Rettung oder Gefahr für Gesellschaft und Religion? Der Neue Fundamentalismus, München 1990
23 Vgl. den Tendenzroman von Maier, O., Der Beauftragte, Kisslegg 1995 (2.Aufl.)
24 Vgl. hierzu Lübbe, H., in: Kleger, H., Müller, A., (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986
25 Zur Verwendung therapeutischer Methoden in der Seelsorge vgl. Lemke und Sons, Anm.10 a.a.0.
26 Naisbitt,J., Aburdene, P., Megatrends 2000, Düsseldorf, Wien 1991
27 Postman, N., Das Technopol, F.a.M. 1992, vgl. auch Ritzer, G., Die McDonaldisierung der Gesellschaft, F.a.M. 1995
28 BVerfG NJW 1989, 3269
29 Schwarz, D., Gutachten vom 16.4.1980 über die Auswirkungen des Trainings nach „Earth Play" im Verfahren der Staatsanwaltschaft München I - 115 Js 4614/78. Das Trainingsprogramm knüpfte an Techniken von Werner Erhard (EST) und von L.Ron Hubbard (Scientology) an (a.a.0. S.14).
30 Mende, W., Nedopil, N., Nervenärztliches Gutachten zu den Wirkungen des Auditing vom 21.12.1984, Materialdienst AGPF Bonn
31 Dittrich, A., Ätiologie - unabhängige Strukturen veränderter Wachbewusstseinszustände, Stuttgart 1985, S.61, 90, 203
32 Ellis, A., Die rational-emotive Therapie, München 1993, 5.161, 278ff.
33 Giese, E., Kleiber, D., (Hg.), Das Risiko Therapie, Weinheim, Basel 1984; Schmitt-Lellek, Chj., Heimannsberg, B. (Hg.), Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, Köln 1995; Kramer, J., Alstad, D., Die Guru Papers, Masken der Macht, Zweitausendeins 1995
34 Wiener, N., Kybernetik, Reinbek 1986; zu Wieners eigenen Bedenken hinsichtlich des möglichen Missbrauchs seiner Ideen als manipulative Sozialtechnologie vgl. Wiener, N., Mensch und Menschmaschine, Berlin 1958
35 Skinner, B.V., Futurum Zwei „Walden Two", Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft, Reinbek 1972
36 Keltsch, J., Reichen die Gesetze aus, um den Konsumenten auf dem Psychomarkt zu schützen? in: SPD Landtagsfraktion BadenWürttemberg (Hg.), Scientology - In den Fängen eines totalitären Psychokonzerns 1994
37 Keltsch, J., Konzept für eine gesetzliche Regelung der Dienstleistungen gewerblicher Lebensbewältigungsangebote (Psychomarktrecht), in: Junge Union Rheinland-Pfalz (Hg.), Das 2.Wormser Scientology Tribunal 17.-18.September 1994
38 Den politischen Parteien in Deutschland, die überwiegend staatliche Sektenbeauftragte fordern, fällt es bis heute schwer, den Wechsel von der „Sektenpolitik" zur „Psychomarktpolitik" zu vollziehen. Zu bekämpfen sind nicht Personen und Gruppen, sondern zu warnen ist vor missbräuchlicher Verwendung von Psycho- und Sozialtechnologie!