drnv1918

Ein Warner Nikolaus II. vor dem Bruch mit Deutschland. // Hamburgischer Correspondent und Neue Hamburgische Börsen-Halle. Hamburg, 1918. №385, Abend-Ausgabe, 30. Juli, s. 1-2

Das Echo. Wochenzeitung für Politik, Literatur und deutsche Ausfuhr-Interessen. Berlin, 1918. 37. jahrgang. №1876 (33), 15. August, s. 916-917

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Ein Warner Nikolaus II. vor dem Bruch mit Deutschland.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die dem verhängnisvollen Jahr 1914 vorangegangene Periode eine Zeit der beständig wachsenden Gefahr des Weltkriegsausbruches war. Die internationale Lage war, besonders seit der Einkreisungspolitik König Edwards, nachgerade so kriegsschwanger geworden, daß es sich im Grunde nicht mehr um die Frage handelte, ob der Weltkrieg ausbrechen würde, sondern nur darum, wann die Katastrophe zu erwarten sei.

In dieser schwülen Zeit — im Frühjahr 1914 — über-reichte der russische Staatsmann Durnowo, Führer der Rechten im einstigen Reichsrat, dem Zaren Nikolaus eine persönlich für den Monarchen bestimmte vertrauliche Denkschrift über die internationale Lage. Diese Denkschrift ist unter den Wirren der russischen Revolution zur Kenntnis gewisser Kreise der russischen Gesellschaft gelangt. Sie ist es wert, als interessantes historisches Dokument in Deutschland bekannt zu werden.

Der Inhalt der Darlegungen Durnowos gipfelt in der an den Zaren gerichteten Mahnung, das russische Staatsschiff nicht auf Kosten der guten Beziehungen zu Deutschland zu sehr in das Fahrwasser der Entente zu lenken. Die Ausführungen Durnowos über den mutmaßlichen Verlauf des drohenden Weltkrieges sind stellenweise mit geradezu prophetischer Feder geschrieben. Sie enthalten in der Hauptsache folgende Gesichtspunkte:

Für den die gegebenen Verhältnisse nüchtern einschätzenden russischen Staatsmann besteht kein Zweifel, daß der drohende Weltkrieg im Kern durch den deutsch-englischen Gegensatz bedingt werde. Die derzeitige Gruppierung der Mächte erwecke zwar den Anschein, für die Entente günstig zu sein, um so mehr, als Deutschland sich nicht auf Italiens Bündnistreue verlassen könne. Italien werde mindestens neutral bleiben, vielleicht sogar sich kämpfend auf die Seite der Entente stellen. Dennoch sei nicht zu bezweifeln, daß den Bundesgenossen Englands bei diesem Ringen, je länger desto mehr, die Rolle von Trabanten des insularen Königsreichs zufallen werde. Für Rußland bestünde hierbei um so weniger die Notwendigkeit, gegen Deutschland das Schwert zu ziehen, als zwischen beiden Nachbarreichen tatsächlich keinerlei Gegensätze der Lebensinteressen vorhanden seien. Ostpreußen sei kein Objekt, um als etwaiger russischer Siegespreis das enorme Wagnis eines Feldzugs gegen Deutschland zu rechtfertigen. Rußland habe schon genug mit "Fremdstämmigen" in seinem eigenen Gebiet zu tun. Überdies sei der Sieg Rußlands, selbst unter der Voraussetzung der englisch-französischen Bundesgenossenschaft, keineswegs sicher. Wenn schon alles, was über Deutschlands gewaltige Kriegsbereitschaft bekannt sei, genüge, um den Krieg gegen dies Reich als schweres Risiko anzusehen — wie viel mehr sei das der Fall, wenn man erwägt, daß die Vervollkommnung und Erfindung mancher neuer Kampfmittel zweifellos geheimgehalten werde. Daher sei auch die Möglichkeit eines für Rußland unbefriedigenden und ungünstigen Kriegsverlaufes in Betracht zu ziehen. Ein solcher würde, wie Durnowo warnend andeutet, für die russische Monarchie unübersehbare katastrophale Folgen nach sich ziehen.

Die Stärke Deutschlands werde andererseits auch England und Frankreich mindestens sehr hart zusetzen. Eine deutsche Landung in England sei zwar, so lange des letzteren Flotte kampffähig sei, nicht anzunehmen, umgekehrt würde Deutschland aber, nach Durnowos Ansicht, einer etwaigen Kontinentalsperre seitens Englands sehr wohl standzuhalten in der Lage sein. Parallel hiermit könnte Deutschland seinerseits, dank seiner hochstehenden Schiffbautechnik, im U-Boot-Krieg England in schwere Ungelegenheiten bringen.

Bestände also zwischen dem Deutschen Reich und Rußland kein Gegensatz in den Lebensinteressen, so lasse sich andererseits durchaus nicht ohne weiteres dasselbe {s. 917} von Rußland und England sagen. Der Rußland nötige freie Zugang zu den Südmeeren — Persischer Golf — stelle ein Problem dar, dessen Lösung England sicher ernsten Widerstand entgegensetzen werde.

Aus diesen kurzen Andeutungen über den Inhalt der Denkschrift erhellt, wie richtig Durnowo, der keineswegs ein sogenannter Deutschenfreund war‚ die tatsächlichen Kräfte- und lnteressenverhältnisse der Mächte erfaßte.

Wenn die objektive Geschichtsforschung sich einst der Frage nach den schuldigen Urhebern der blutigen Weltkatastrophe zuwendet, wird sie an der Tatsache nicht vorübergehen können, daß Nikolaus II. rechtzeitig vor dem Bruch mit Deutschland gewarnt worden war.