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Der beste Prophet der vorigen Mals

Im Februar 1914 - also ungefähr ein halbes Jahr vor Ausbruch des Weltkrieges - wurde dem Zaren Nikolaus vom ehemaligen Innenminister und Mitglied des Staatsrates Peter Durnowo ein vertrauliches Memorandum überreicht. Durnowo galt unter den Räten als der ausgeprägteste Vertreter der deutschfreundlichen Richtung.

Dieses Memorandum - das Nicholas II verlangt hatte - ist im Jahre 1923 unter der Papieren des ehemaligen Zaren gefunden worden. Es wurde in der Tageszeitung "Dni" publiziert. Es erregte in Russland ungeheures Aufsehen, — um so mehr, als Durnowo niemals als eine Leuchte unter den kaiserlichen Ratgebern gegolten hatte. Er war zwar als gründlicher, ja pedantischer Kenner der inner- und ausserrussischen Verhältnisse, als lebend-wandelndes Archiv anerkannt gewesen, - das war aber auch alles. Um so unbegreiflicher, dass dieser Beamte mit solcher Sicherheit die Ereignisse hatte voraussehen können. Seine Prophezeiung ist fast beispiellos in der Geschichte.

Er ist hier nicht der Raum, von jedem einzelnen Punkt des Memorandum zu berichten. Es argwöhnt, dass Deutschland verheerender gerüstet sei, als man ahne, sieht weittragende Geschütze von Krupp und die Unterseebootunternehmung gegen England voraus und analysiert die Gruppierung der Allianzen auch den Abfall Italiens vom Dreibund:

"Italien, wenn es seine Interessen wohl begreift, wird nicht auf der Seite von Deutschland rangieren. Oekonomische und politische Gründe zwingen es zu einer Erweiterung seines Territoriums. Diese Erweiterung kann nur auf Kosten Österreichs einerseits, und der Türkei andrerseits realisiert werden. Es ist also natürlich, dass Italien sich nicht auf die Seite derjenigen stellt, die die territoriale Integrität grade der grade der Staaten schützen wollen, auf deren Kosten es seine Forderungen erfüllt sehen möchte: sogar die Möglichkeit einer Aktion Italiens auf der Seite der antideutschen Koalition ist nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt, dass diese Koalition Chancen auf Erfolg hat. In dieser Hinsicht schliesst die Stellungnahme Italiens die eventuelle Stellungnahme Rumäniens ein..."

Auf die Frage des Zaren, ob Russland für einen europäischen Krieg bereit sei, antwortet Durnowo ohne Zögern: Nein.

„Wir besitzen nicht in genügender Quantität schwere Artillerie, deren Wichtigkeit durch die Erfahrungen des Krieges mit Japan bewiesen ist. Wir haben zu wenig Maschinengewehre. Die Organisation unseres Festungssystems hat beinahe noch nicht begonnen. Das strategische Eisenbahnnetz ist ungenügend, und wir besitzen an Material gründe fand so viel, um den Anforderungen des Friedens. Endlich darf man nicht vergessen, das in dem Krieg, der kommt, die zivilisiertesten est en und in technischer Hinsicht am besten gerüsteten Nationen kämpfen werden.

Wie also wird das Abenteuer für Russland ausgehn? Durnowo weiss nur eine einzige Antwort, eine Antwort die, dem Zaren gegenüber ausrusprechen eine urstaunlichen Mut erfordert.

Er prophezeit die siegreiche Revolution, den vollständigen Umsturz. Er setzt es auseinander, Punkt für Punkt, und schließt: „Jede revolutionäre Bewegung in Russland wird sich in eine sozialistische verwandeln. Sie entspricht dem Sozialismus der breiten Schicht. Der russische Bauer träumt von nichts anderem, als sich den Boden des andern anzueignen, ohne Entschädigung zu zahlen; der Arbeiter denkt nur daran, sich des Kapitals und der Einnahmen seines Brotgebers zu bemächtigen. Wenn man diese Schlagworte unter der Bevölkerung breit aussät, wenn die regierende Macht derartige Aspirationen duldet, wird Russland ganz sicher in Anarchie geworfen werden. Ein Krieg mit Deutschland wird Bedingungen schaffen, die für ein derartige Propaganda besonders günstig sind. Zuerst werden die antirussischen Gefühle der Muselmanen explodieren, sowohl in Turkestan wie im Kaukasus; dann werden peinliche Komplikationen mit Finnland kommen. Was aber speziell Polen anbetrifft, so muss man annehmen, dass wir es verlieren werden.

"Und dann werden die militärischen Misserfolge kommen ; sie sind nicht zu vermeiden; ebenso nicht zu vermeiden sind die Fehler in unserer Verproviantierung. Nehmen wir als gegeben an: die exzeptionelle Nervosität unsere' Gesellschaft, ihren Geist der Opposition, — so weiss man, dass Regierung es sein wird, der man für alles die Schuld geben wird. Mit einem Wort: im Falle eines Misserfolges, diesen Wahrscheinlichkeit im Kampf mit einem Gegner wie Deutschland unbedingt bejaht werden muss, ist eine soziale Revolution, und zwar mit ihren extremsten Manifestationen, unausweichlich."

Durnowo geht in seiner Clairvoyance unendlich weit ; er ist imstande, die Entwicklung der revolutionären Ereignisse zu schildern: "Es wird damit beginnen, dass sämtliche Fehlschlage Schuld der Regierung sein werden. In den legislativen Körperschaften wird man gegen sie eine heftige Kampagne fuhren, zur Förderung der Kampagne werden umstürzlerische Elemente sozialistische Aufrufe verbreiten, unter deren Forderungen sich die breiten Schichten der Bevölkerung erheben und einigen werden: zuerst Aufteilung des Bodens, dann Aufteilung sämtlicher Güter und Besitztümer. Die besiegte und ihrer sichersten Kader beraubte Armee — denn der Krieg vernichtet ihre Substanz — wird zu desorganisiert sein, als dass sie als Bollwerk dar Legalität und Ordnung wurde dienen können. In den legislativen Institutionen und die aus Intellektuellen zusammengesetzten Oppositions-Parteien werden in den Angen

des Volkes jeder wirklichen Autorität beraubt sein. Sie werden sich als ohnmächtig erweisen, wenn es darum gehn wird, die Stürme, die sie entfesselt haben, wieder zur Ruhe zu bringen. So wird Russland in eine finstere Anarchie geworfen sein, deren Ausgang ich Jeder Voraussicht entzieht."

Wie hat der Zar dieses so freimütige, überraschende und vor allem erschreckende Dokument aufgenommen?

Darüber hat jene Veröffentlichung der Tageszeitung "Dni" nichts verlautbart. Seitdem sind freilich Archive und Privatmappen noch viel gründlicher geöffnet worden; auch Gespräche mit Durnowo in den letzten Wochen vor dem Krieg wurden bekannt.

Seinem Neffen, Wladimir M., der in London im diplomatischen Dienst tätig war und zur Berichterstattung im Juni 1914 nach Petersburg kam, erzählte Durnowo, dass der Zar sich durch Wochen nicht geäussert habe; das unangenehme Memorandum sei versiegelt und in seinem Privatschreibtisch versperrt worden.

Erst Ende April (1914) habe der Zar ganz kurz davon gesprochen und hinzugefügt: „Ich hoffe, Sie sehn beute sei bat ein, dass Sie ein unverbesserlicher Schwarzseher sind".

Und als Durnowo noch die richtige Antwort gesucht habe, habe der Zar ziemlich brüsk abgeschlossen: „Unmöglich. Ausgeschlossen. Ein noch grösseres Deutschland — das wäre ja das Ende..."

Otto Zoff