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Politische Korrespondenz.

Kriegsgefahr

Die Kriegsbesorgnis, die schon längere Zeit zwar nicht eigentlich die öffentliche Meinung, aber doch die feinfühligeren Politiker in Europa erfüllte, ist im Laufe des Dezember allmählich etwas zurückgetreten. Oesterreich hat sich Rußland gegenüber in der Frage der Balkankonferenz entgegenkommend gezeigt und ebenso hat die österreichisch-türkische Spannung, die in dem Boykott der österreichischen Waren einen so markanten Ausdruck fand, etwas nachgelassen.

Aber wenn man näher zusteht, so ist es doch sehr fraglich, ob es sich um viel mehr als um einen Zuckerbäcker-Frieden handelt. Die Gefahr eines österreichisch-türkischen Krieges war doch wohl tatsächlich nie vorhanden. Die Türken können sich nicht einbilden, Bosnien zurückzuerobern; denn selbst angenommen, es gelänge ihnen, die Österreicher hinauszutreiben, so würde Serbien, und nicht die Türkei das Land gewinnen. Die Sache ist so klar, daß es nicht ganz leicht ist zu verstehen, weshalb die Türken sich überhaupt gegen Oesterreich aufgeregt haben, und wie es den politischen Führern gelungen ist, die Massen mit einer solchen Animosität gegen Oesterreich zu erfüllen. Gerade wir Deutschen wissen ja, wie schwer selbst bei flink erregten politischen Leidenschaften ein nationaler Boykott durchzuführen ist: die Polen, wie die Dänen haben ihn mehrfach gegen uns versucht und er ist stets mißlungen. Wie hat man die türkischen Lastträger bis nach Sinnen hin dazu vermocht, österreichische Waren zu verschmähen wegen einer staatsrechtlichen Veränderung in Bosnien, die praktisch in keinerlei Weise in die Erscheinung trat und sogar vermöge der Räumung Novi-Bazars mit einer Abrundung des türkischen Gebietes verbunden war?

Der Zusammenhang dürfte dieser sein. Die Verfassungsbewegung in der Türkei, die dem unerträglichen Mißregiment ein Ende zu machen bestimmt ist, rechnet und muß rechnen mit der Vorstellung, daß in der künftigen freien Türkei die verschiedenen Völkerschaften und Religionen

friedlich und freundlich im Genusse ihrer Menschenrechte miteinander leben werden. Allgemeine Gleichheit, gegenseitige Toleranz, wirtschaftliches Gedeihen, Recht und Ordnung verheißt den türkischen Reformern die Zukunft {s. 164} Eine bloße Erweiterung dieses Gedankens ist der Balkanbund. Wenn Bulgaren und Griechen, Türken und Armenier sich im türkischen Reich und türkischen Parlament mit einander vertragen, so können auch Türken und Griechen, Bulgaren, Serben und Albanesen zusammen die Selbständigkeit der Balkanhalbinsel gegen ehrgeizige Nachbarn verteidigen und hüten. Was für unmögliche Illusionen! sind wir geneigt auszurufen. Was für ein freundliches, neckisches Schäferspiel spielen doch die Tschechen und Deutschen miteinander in Prag und Wien, verglichen mit dem Kampf, den alle diese Jahre hindurch die Bulgaren und Griechen, Serben und Albanesen in Macedonien und Umgegend miteinander geführt haben. Die Tschechen begnügen sich, auf die Deutschen zu spucken, die Bulgaren werfen auf ihre Gegner mit Bomben. Nur durch die realpolitische Verständigkeit der Sozialdemokraten hat das österreichische Parlament noch eben in Gang gehalten werden können, wie sollen wir uns da einen aktionsfähigen Balkanbund vorstellen? Revolutionäre sind stets in hohem Grade illusionsfähig. aber selbst die Illusionen der Jungtürken waren wohl nicht so weit gediehen, wenn sie nicht planmäßig von London und Paris aus genährt, auch wohl im materiellen Sinne genährt worden wären. Die Jungtürken sind in die Bewegung eingetreten in der Vorstellung, daß sie ihre natürliche Anlehnung bei den liberalen Westmächten zu suchen hätten, und in England hat man sieh beeilt, aus der türken-feindlichen Haltung, die man in den letzten Jahrzehnten eingenommen, zu einer türken-freundlichen überzugehen. Mit wohl-berechneter Absicht ist man von London aus deshalb der antiösterreichischen Bewegung zu Hilfe gekommen, aber daß die Türken sich hätten bis zu einem Kriege gegen Oesterreich fortreißen lassen können, scheint doch ausgeschlossen und jetzt, wo das türkische Parlament eröffnet ist, werden dort vermutlich bald genug Szenen und Nöte entstehen, die die erste russische Duma und den österreichischen Reichsrat in Schatten stellen und jeden Gedanken an auswärtige Aktionen ausschließen.

Die wahre Kriegsgefahr dürfte deshalb an dieser Stelle nie bestanden haben: sie ist an einem andern Punkt zu suchen, nämlich bei Serbien. Was wollen denn diese Serben eigentlich? pflegt man bei uns zu fragen. Was haben sie denn für Ansprüche, sei es historischer, sei es völkerrechtlicher, sei es moralischer Art? Sie haben einst tapfer um ihre Freiheit gegen die Türken gefochten, aber das Königreich umfaßt doch nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Nationalität, deren Hauptmasse unter habsburgischem Szepter lebt und in jeder Beziehung, auch innerlich, politisch wie kulturell, der überlegene Teil ist. Wenn aber noch irgend eine Sympathie in der zivilisierten Welt für das Königreich vorhanden war, so ist sie durch den grauenhaften Königsmord sicher für immer vernichtet.

Damit man versteht, wie trotz alledem die Serben den Gedanken eines Krieges gegen Oesterreich haben fassen können und was für Ziele sie dabei im Auge haben, will ich hier teils auszugsweise, teils wörtlich einrücken, was jüngst im „Russischen Invaliden“, einer offiziösen Zeitschrift, die {s. 165} ungefähr unserm Militär-Wochenblatt entspricht, zu lesen stand und mir von einem unserer Mitarbeiter (T. v. T.) zugestellt worden ist.

Der "Russische Invalide" also schreibt: „Die jungtürkische Bewegung, die Frage der rumelischen Bahnen, die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens, die Angliederung von Kreta an Griechenland, die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina von Seiten Lesterreichs, die Gärung in Serbien, die Gerüchte über die Einverleibung Ägyptens von Seiten Englands, über Unabhängigkeitsbestrebungen der Albanesen und über die von verschiedenen Machten beanspruchten Kompensationen — alles dies folgt sich mit schwindelerregender Schnelligkeit, und augenscheinlich ist der Moment gekommen, der — sei es auf dem Wege eines Kongresses oder durch Eisen und Blut — die Entscheidung über die Frage des Nahen Ostens herbeiführt.

Eine Betrachtung dieser Sachlage hat zunächst drei Fragen zu beantworten:

1. Weshalb ist die Frage des Nahm Ostens — die Balkanfrage — gerade jetzt reif geworden?

2. Weshalb war gerade Oesterreich auf diese Entscheidung vorbereitet?

3. Worin besteht das Wesen der Orientfrage?

Weshalb gerade jetzt die Frage reif geworden zur Entscheidung.

Der russisch-japanische Krieg hat den Schwerpunkt der Weltpolitik auf die Balkan-Halbinsel verlegt.

Weshalb? Das liest man aus zahllosen Äußerungen der ausländischen Presse heraus: weil wir aus jenem Kriege geschwächt und zerrüttet hervorgingen.

Das mächtige Rußland, das seit 1878 ohne das Schwert zu ziehen seine Kräfte sammelte zur Entscheidung zahlreicher Weltfragen, war seinen Gegnern ein Dorn im Auge.

England hegte Befürchtungen wegen Indien und betrachtete argwöhnisch das Anwachsen unserer Flotte; Oesterreich und Deutschland fühlten sich durch uns auf der Balkan-Halbinsel und in Kleinasien behindert. Je weiter wir über den Ural hinaus nach Osten gingen, zu je gefährlicheren Feinden für uns sich Japan und China entwickelten, um so schadenfroher wurden die Auslassungen unserer „Freunde“.

Als wir Port Arthur in Besitz genommen, hieß es in einem österreichischen Blatte: „Die ganze zivilisierte Welt muß sich gemeinsam freuen, daß Rußland sich so tief in die Angelegenheiten des Fernen Ostens eingelassen hat, wodurch Europa und besonders die Balkanfrage auf lange von

feinem harten und hochmütigen Einfluß befreit sind.“

Dies war im allgemeinen die Stimmung des Westens. England hatte mit unserm Blut die Sicherheit Indiens erkauft, Oesterreich die Aktions- {s. 166} freiheit auf der Balkan-Halbinsel, Deutschland Ellenbogenfreiheit für seine Bestrebungen aus der Balkan-Halbinsel und in Kleinasien. Alle waren an der Arbeit, jeder in seinem Interesse.

Da platzte die jungtürkische Bewegung herein, durch welche die Jungtürken ihrem Lande Größe, Glück und Ruhe verschaffen wollten — und diese Bewegung wurde die zweite Ursache, welche die Frage des Raben Ostens zu schnellerer Reise brachte.

Weshalb war gerade Lesterreich aus die Entscheidung vorbereitet?

Oesterreich war weitsichtiger als alle andern; es richtete seine Bemühungen nicht aus die Stärkung der Türkei — in welchen Fehler Deutschland verfiel —, sondern aus die Zertrümmerung des Türkenreiches.

Seit den Zeiten des Prinzen Eugen hatte Oesterreich seine Waffen nach Bosnien und Serbien hineingetragen; Österreichs ganzes Staatswesen ist gewissermaßen erblich belastet mit dem ,.Drang nach dem Süden“, nach der Balkan-Halbinsel, mit dem Aegäischen Meer und Saloniki im Hintergrund. Dieses Ziel erschien für Osterreich jetzt um so leichter zu erreichen, weil Deutschland bereit war, seinem Freunde und Verbündeten jetzt im voraus den Lohn zu gewähren für die künftige Verwirklichung des Pangermanismus.

Worin besteht das Wesen der Orientfrage?

Diese Gesamtfrage zerfällt in die slavische Frage (welche die mazedonische, die serbische und die bosnische Frage in sich einschließt und in die Frage der Meerengen.

Durch die erste wird Rußland nur im allgemeinen berührt, durch die letzte aber in seinen wichtigsten geschichtlichen Ausgaben. Die allgemeine slavische Frage aus der Balkan-Halbinsel in ihrer jetzigen Gestalt ist ein Ergebnis des Befreiungskrieges von 1877-78 und der darauf folgenden Einmischung Westeuropas.

Der Vertrag von S. Stefano, der tatsächlich dem Kriege ein Ende machte, setzte die Unabhängigkeit von Serbien und Montenegro fest und für beide Länder einen nicht bedeutenden Gebietszuwachs. — Der Hauptgedanke des Vertrages war aber, zwischen der Donau und der Türkei ein kräftiges, nominell dem Sultan unterstelltes Fürstentum zu schaffen, wie es jetzt unter dem Namen »Das Bulgarien von S. Stefano in der Geschichte und in den Träumen der Bulgaren benannt wird.

Dieses Bulgarien umfaßte das spätere Fürstentum mit Ostrumelien, sowie den größten Teil von Mazedonien.

Mangelhafte Kenntnis über Mazedonien und seine Bevölkerung - die Rolle der Bulgaren in dem eben beendeten Kriege — die traditionelle Unzuverlässigkeit der serbischen Politik — die allgemeine Stimmung in Russland — schließlich der politische Vorteil, der sich unzweifelhaft für {s. 167} Rußland ergab, wenn zwischen der Türkei und Oesterreich eine starke, mit Rußland befreundete und ihm zu ewigem Dank verpflichten slavische Macht geschaffen wurde — alle diese Gründe rechtfertigten damals allerdings die unzweifelhafte Parteilichkeit des Vertrages von S. Stefano für die Bulgaren zum Nachteil der Serben.

Die durch die Schaffung eines Groß-Bulgariens für Rußland sich ergebenden politischen Vorteile erweckten die Mißgunst unserer politischen Gegner, und der Berliner Kongreß zerstörte die Grundzüge des Vertrages von S. Stefano. Er bestätigte allerdings die Unabhängigkeit Serbiens und Montenegros, beschränkte aber den ihnen zugedachten Gebietszuwachs und zerschlug das geplante Groß-Bulgarien in das Fürstentum Bulgarien und in die autonome türkische Provinz Ostrumelien, während Mazedonien ganz unter türkischer Herrschaft verblieb.

Gleichzeitig wurde Oesterreich mit der „Verwaltung“ der alten serbischen Länder Bosnien und Herzegowina betraut und erhielt außerdem das Recht der militärischen Besatzung im Sandschak Nowibasar, der Serbien von Montenegro trennt.

Sämtliche Bestimmungen des Berliner Kongresses ließen deutlich die Absicht erkennen: die Slaven zu trennen und zu schwächen, den Einfluß Rußlands auf der Balkan-Halbinsel zu schwächen, Oesterreich dort festzusetzen und hierdurch das Vordringen des Deutschtums nach dem Aegäischen Meer und nach Kleinasien zu erleichtern. Das Schlagwort: ,.Die Balkan-Halbinsel ist nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert!“ war nur bestimmt, die wahren Absichten Bismarcks zu verhüllen. Die warme Unterstützung der Ansprüche Österreichs auf Bosnien und Herzegowina gab schon damals den Schlüssel zum Verständnis der Ziele des „ehrlichen Maklers“: Deutschland sollte auf seinem zukünftigen Wege nach Kleinasien und dem persischen Meerbusen nicht aus selbständige slavische Staatengebilde stoßen, sondern nur aus Slaven, die Oesterreich unter seiner eisernen Faust hielt.

Oesterreich wurde von Berlin aus auf die Balkan-Halbinsel angewiesen; die Slaven wurden ihm als Entschädigung angeboten für den Verlust der führenden Stellung in der alldeutschen Welt.

Das beschnittene und zerstückelte Bulgarien konnte sich natürlich nicht zufrieden geben mit dem gewaltigen Unterschied zwischen den Festsetzungen von S. Stefano und von Berlin: Die Ereignisse des Jahres 1885 führten zur Vereinigung des Türkentums Bulgarien mit Ostrumelien; das unter König Milans Führung stehende Serbien hatte vergeblich die Vereinigung zu hindern versucht.

Mazedonien blieb unter der Türkenherrschaft, und das „Bulgarien von S. Stefano“ erschien als heiliger Traum des bulgarischen Volkes und seiner Regierung.

Als Vorbereitung zur Verwirklichung dieses Traumes haben die Bulgaren große Anstrengungen gemacht: ausschließlich in diesem Sinne ver- {s. 168} teidigen sie so hartnäckig das 1870 gegründete bulgarische Exarchat (Einsetzung eines von dem griechischen Patriarchen in Konstantinopel unabhängigen bulgarischen Kirchenfürsten mit dem Titel Exarch); in diesem Sinne arbeitet, dem Schein nach auf eigene Faust, tatsächlich mit Wissen und Billigung der bulgarischen Regierung das sogenannte „Mazedonische Komitee“.

Bulgariens Ansprüche auf Mazedonien, Serbiens Opposition gegen diese Ansprüche, dazu die Stellung des griechischen und albanischen Elementes in Mazedonien und die Beziehungen der europäischen Mächte zu Mazedonien. — Alles dies zusammen bildet die mazedonische Frage.

Fassen wir die Lage der Slaven auf der Balkan-Halbinsel kurz zusammen, wie sie sich seit dem Berliner Kongreß gestaltet und bis zu den allerneuesten Veränderungen behauptet hat.

Bulgarien, seit 1885 mit Ostrumelien vereinigt, war nominell allerdings von der Türkei abhängig, tatsächlich so gut wie unabhängig. Der Grundzug seiner Politik ist ohne Zweifel die Gewinnung der Grenzen des Bulgariens von S. Stefano.

Serbien erhielt die Unabhängigkeit, aber seine Hoffnungen auf Bereinigung des ganzen serbischen Volkes oder wenigstens die Vereinigung Alt-Serbiens mit dem Königreich war nicht verwirklicht.

Aus drei Seiten von Oesterreich umfaßt, in wirtschaftlicher Beziehung von dem deutsch-österreichischen Druck erstickt. und vom Meer abgeschnitten, ist Serbien nach langem mühevollen Wege zu der Überzeugung gelangt, von der Notwendigkeit der russischen Freundschaft, und auf diese gestützt, hofft es endlich sein Ziel zu erreichen: Schaffung eines großen serbisch-kroatischen Reiches mit dem Wege zum Meer.

Montenegro war in territorialer Beziehung ebenfalls nicht gut gefahren: auf drei Seiten von Österreich umfaßt, dem außerdem die Überwachung der Uferstrecke innerhalb der montenegrinischen Grenzen zugestanden war.

Bosnien und die Herzegowina (1 600 000 Seelen, fast ausschließlich serbisch-kroatischer Abstammung, teils orthodox, teils muhamedanisch) und sogar ein Teil von Alt-Serbien war von Österreich ,,okkupiert“ aber Lesterreich beschränkte sich nicht auf die einfache Okkupation, sondern eignete sich diese alt-serbischen Länder völlig an. Die Tätigkeit der österreichischen Verwaltung war darauf gerichtet, in der Bevölkerung den orthodoxen Glauben und das Bewußtsein der 8ugehörigkeit zum Slavenstamm zu er-töten. Glücklicherweise hat diese Politik nur negative Resultate gezeitigt: Die Bevölkerung ist allmählich zu nationalem Bewußtsein erwacht und nach dem Urteil zahlreicher Landeskenner gewinnt der Gedanke an die Notwendigkeit der Vereinigung aller Serben und Kroaten zu einem Reich unter Abschüttelung des österreichischen Jochs von Jahr zu Jahr an straft. Serbien seinerseits sieht Bosnien und Herzegowina nicht für sich als ver- {s. 169} loren an: die aufgeklärten serbischen Kreise machen für diesen Gedanken nicht nur innerhalb Serbiens, sondern auch in Bosnien und der Herzegowina Propaganda.

Mazedonien und Alt-Serbien (3 000 000 Seelen) sind vom Berliner Kongreß unter türkischer Herrschaft belassen. Die Nationalität der Bewohner, ob Bulgaren oder Serben, ist im Hinblick auf die zahlreichen mehr oder weniger verwandten und verschiedenen lokalen Dialekte und auf das allgemeine Durcheinander des Nationalitäten - Gemisches nur schmerzt: bestimmen. Außerdem hat das ebenfalls in Mazedonien ansässige albanesische Element auf Kosten der benachbarten slavischen Bevölkerung eine solche Stellung gewonnen, daß sogar die persönliche Sicherheit der diplomatischen Vertreter der europäischen Mächte in Mazedonien und Alt-Serbien, „unter dem Schutze“, d. h. mit andern Worten „in der Gewalt“ der Albanesen stehen.

Ob nun bulgarisch oder serbisch — jedenfalls müssen Mazedonien und Alt-Serbien slavische Länder bleiben; die Haupt-Schwierigkeit der Lösung der mazedonischen Frage besteht darin, die Ansprüche zu bewerten, die von den verschiedenen Interessenten an diesen gewichtigen Teil der türkischen Erbschaft erhoben werden.

Der Vertrag von S. Stefano, der Berliner Kongreß, die Okkupation Bosniens, die Ereignisse von 1885, das bulgarische Exarchat und die bulgarische Propaganda haben in diese slavische Frage Leidenschaft und Verwirrung hineingetragen, und die neusten Ereignisse haben sie noch komplizierter gestaltet.

Die Bulgaren gründen ihre Ansprüche auf Mazedonien: auf den Vertrag von S. Stefano, auf die Geschichte, auf die Ethnographie, auf ihre dreißigjährigen Bemühungen, die Masse der mazedonischen Bevölkerung zur Erkenntnis ihrer Lage aufzurütteln. Dabei gehen die Bulgaren von der Annahme aus, Mazedonien sei fast ausschließlich von Bulgaren bevölkert — und in dem glühenden Wunsch, dies zu beweisen, schrecken sie vor Fälschungen und Täuschungen nicht zurück Jedenfalls macht auf die Masse der Bevölkerung es einen nicht zu verkennenden Eindruck, wenn fortwährend der im Vertrage von S. Stefano zum Ausdruck gekommene Wunsch Rußlands betont wird.

Die Serben, von Oesterreich umklammert und abgeschlossen vom Meer, baden das brennende Verlangen, sich zu diesem einen Zugang zu verschaffen, und gleichzeitig in erweiterten Grenzen volle ökonomische und politische Unabhängigkeit zu erlangen.

Nachdem der Zugang zum Meere durch Bosnien und die Herzegowina in fremde Hände gefallen, war es natürlich, daß Aufmerksamkeit und Hoffnung der Serben sich auf den Weg zum Aegäischen Meer richtete, der durch Mazedonien führt, das einst einen Teil des großen serbischen Reiches bildete. In ihren wissenschaftlichen Begründungen blieben auch die Serben nicht bei der Wahrheit; auch sie behaupten steif und fest, Mazedonien sei {s. 170} fast ausschließlich von Serben bevölkert — und bei dem Beweise für diese Behauptung nehmen sie ebenso gut wie die Bulgaren zu Täuschungen und Fälschungen ihre Zuflucht.

Auf welchem Wege kann nun die mazedonische Frage entschieden werden im Interesse der Gerechtigkeit, der geschichtlichen Wahrheit, endlich im Interesse des Allgemeinwohls der ganzen Slaven-Welt?

Zur Beantwortung dieser Frage werden nur drei Möglichkeiten eingehend besprochen.

Erster Vorschlag. — Mazedonien erhält die Autonomie. Dies wäre keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung der Lösung, denn schließlich müßte in diesem Falle Mazedonien doch entweder den Österreichern zufallen oder den Bulgaren, denen die dreißigjährige Wirksamkeit des bulgarischen Exarchats und die Propaganda der mazedonischen Komitees zugunsten kommen würden.

Zweiter Vorschlag. — Mazedonien wird meridional geteilt, indem man sich an die sprachliche Dialekt-Grenze und an die sogenannte „natürliche Sphäre der Anziehungskraft“ hält.

Den Serben und Bulgaren wird in diesem Falle der Weg zum Aegäischen Meere geöffnet, dabei aber, um Zwiespalt zu verhindern, der Hafenplatz Saloniki und die dorthin führende Eisenbahn neutralisiert.

Bei dieser Methode würden sich aber Serben und Bulgaren aus ihren Wegen kreuzen, und Saloniki, dem Namen nach Freihafen und neutral, würde tatsächlich in den Händen der Österreicher sein.

Gegen eine solche rein ethnographische Teilung spricht außerdem das Gesetz der Geschichte: Die Länder gehören heute nicht den Stammen sondern den von der Geschichte herausgearbeiteten Nationen.

Allerdings war die Balkan-Halbinsel früher der Wohnplatz zahlreicher slavischer Stämme, fest aber ist sie das Land zweier geschichtlicher Kulturnationen, der Serbo-Kroaten und der Bulgaren; zwischen ihnen muß das slavische Gebiet Südeuropas geteilt werden.

Dritter Vorschlag. — Den Serben wird durch Bosnien und Herzegowina der Weg zum Adriatischen Meer geöffnet: den Bulgaren, welche Mazedonien mit Saloniki erhalten, der zum Aegäischen Meer.

Außerdem ist es notwendig, die ruhige Entwick1ung der zukünftigen abgerundeten slavischen Staaten zu sichern durch Zurückweisung der Albanesen in ihre gesetzlichen Grenzen.

Die Ausführung dieses Vorschlages würde sich nun gestalten wie folgt:

1. Bosnien und die nördliche Herzegowina fallen an Serbien, dem der Weg zum Adriatischen Meer geöffnet wird, entweder über Dalmatien oder über das serbische Dibra auf der Küstenstrecke südlich der montenegrinischen Grenze bis zum Schkumb. Serbien erhält außerdem ganz Alt-Serbien und das Uferland mit Alessio (Liesch), Dulcigno (Uljzin) und Durazzo (Dracsch).

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2. Die Bulgaren erhalten das ganze weiter südlich liegende Gebiet mit Saloniki.

3. Montenegro erhält den Sandschak Nowibasar und den südlichen Teil der Herzegowina mit dem anliegenden Teil von Dalmatien.

4. Die Albanesen müssen Dulcigno räumen, bilden dafür aber ein unabhängiges Fürstentum in den geschichtlichen Grenzen des Bezirkes von Berat zwischen Schkumb, Ochrida-See und Adriatisches Meer.

Die hier vorgeschlagene Teilung Mazedoniens hat auch den Vorteil, daß er die künftig sicher in Aussicht stehende Vereinigung von Serbien und Montenegro zu einem starken serbischen Reich vorbereitet, dem später dann auch Kroatien anzugliedern ist.

Die Betrachtungen des ,,Russischen Invaliden“ gehen nun über zur Meerengenfrage.

Die sehr interessante geschichtliche Entwicklung dieser Frage, welche bis aus die Zeit Peters des Großen zurückgeht, wollen wir hier, als zu weit führend, übergehen, um uns den Betrachtungen zuzuwenden, welche an die Meerengenfrage geknüpft werden.

Das, was man die orientalische Frage und die Frage der Meerengen nennt. ist nichts anderes als die Frage zwischen Rußland und dem übrigen Europa.

England ist uns immer und überall in den Weg getreten aus Furcht für Indien: an diesem Verhältnis hat sich kaum etwas geändert durch die allerneueste „Entente“.

„Brot und Salz zusammen, aber Tabak besonders“ — dieses Sprichwort gilt nicht nur bei uns in Rußland.

Nach Indien kommen für England dann die Fragen wegen Sicherheit des Suezkanals (Gründung des Staates „Afrika von Kairo bis zur Kap“) — der Transit über Arabien nach Indien, endlich die Rivalität mit Deutschland und Nordamerika inbetreff des Seehandels — alles Fragen, bei denen es nicht in Englands Interesse liegt, unsere Flotte aus dem Schwarzen Meer herauszulassen.

Oesterreich ist ein ungarisch-slavisches Reich geworden, das bereits Bosnien und die Herzegowina an sich gerissen und das später vielleicht auch nach Polen seine Hände ausstreckt — dafür die ganze deutsche Welt dem Deutschen Reich überlassend.

Italien ist durch die historische Vergangenheit, durch Stammesverwandtschaft mit den Rumänen, durch dynastische Verwandtschaft mit Montenegro, durch Glaubensverwandtschaft mit Albanesen und Dalmatinern darauf hingewiesen, am östlichen Ufer der Adria sich festzusetzen und durch Dalmatien, Albanien und Montenegro zur Donau und zum Schwarzen Meere vorzudringen, hierbei die Bahn von Adrianopel nach Rumänien in seine Hand zu bringen und so ein Gegengewicht zu erhalten gegen die nach Süden gerichtete deutsch-österreichische Bahnlinie.

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Frankreich ist uns in allen Fragen des Nahen Ostens stets feindlich entgegengetreten; es war stets gegen irgendwelche Hegemonie aus der Balkan-Halbinsel, vielmehr für die Bildung kleiner — also schwacher — unabhängiger Staaten.

Deutschland ist beschäftigt, Kleinasien seinem Einfluß zu erschließen durch Überschwemmung mit seinen Waren, durch Bezug von Getreide dorther und durch Teilnahme am indisch-europäischen Transit zusammen mit England unter Ausschluß von Rußland.

Unzweifelhaft ist es Deutschlands Wunsch, Rußland möglichst wenig im Westen und möglichst stark im Fernen Osten engagiert zu sehen, um auf Rußlands Kosten die Pangermanische Aufgabe leichter durchführen zu können.

Die Bahnlinie durch die ganze Balkan-Halbinsel mit der Brücke über den Bosporus zur Verbindung mit der Bagdadbahn — das ist eines der Mittel, um uns den Weg zu sperren und Ketten anzulegen.

Für Rußland besteht der Kern der orientalischen Frage in der moralischen Oberherrschaft über die Slavenvölker der Balkan-Halbinsel und in der freien Durchfahrt durch die Meerengen.

Was die Diplomaten aus der in Aussicht genommenen Konferenz — falls eine solche zustande kommt — tun werden, ist ihre Sache. Hoffentlich denken sie an Rußland, an seine wahren Aufgaben, hoffentlich bewahren sie die unserm Herzen so nahe stehenden jungen Balkanstaaten vor unnötigen Erschütterungen.

Wir wollen daran erinnern, daß Oesterreich 1891 bereit war, für Bosnien und die Herzegowina uns das östliche Galizien abzutreten.

Jetzt, gestützt durch den Rückhalt in Berlin, hat Oesterreich allen Beteiligten den Erisapfel zugeworfen, reibt sich ruhig die Hände und wartet, seines Spieles sicher, die Entwicklung der Dinge ab.

In dieser Lage haben wir bei der bevorstehenden Liquidation der Balkanfrage nur einen Gedanken, nur eine Hoffnung:

Möge uns das Schicksal verschonen mit privaten Kompensationen für das Unglück des Slaventums im allgemeinen;

mögen wir verschont bleiben von einem vorzeitigen Kriegsungewitter, das nur Anderen Nutzen, uns selbst nur Schaden bringen würde;

mögen die Kräfte unseres schwer leidenden geliebten Vaterlandes aufgespart werden bis zu dem historischen Moment, wenn unsere Hauptgegner vom Kampfe erschöpft sind, und wenn wir imstande sind, das entscheidende Wort zu sprechen für das Glück der uns stammverwandten Balkan-Slaven und für ihre Entwicklung unter der Schußherrlichkeit Rußlands, der Vormacht der Balkan-Halbinsel!"

Soweit der „Russische Invalide“. Keine Frage, daß die amtliche russische Diplomatie solche Pläne durchaus ableugnen würde, bekannt aber auch aus der andern Seite, daß fast die ganze russische Presse in {s. 173} einem noch viel leidenschaftlicheren Ton mit mehr oder weniger starker panslavistischer Nuancierung gegen Oesterreich und Deutschland hetzt. Von diesem Hintergrund aus muß man die serbischen Aspirationen zu verstehen suchen und lassen sie sich auch verstehen. Wie soll ein solches Völkchen ruhig bleiben, wenn ihm auf der einen Seite vor Augen steht, daß es seht, durch Österreich-Ungarn von zwei Seiten umklammert und definitiv vom Meer abgeschnitten, allmählich in völlige Abhängigkeit von dieser Großmacht geraten muß, auf der andern ein Volk wie das russische ihm seine Hilfe in Aussicht stellt, um einmal mit Bosnien zusammen auch Dalmatien und die Küste der Adria, zukünftig vielleicht auch einmal Kroatien zu erwerben und ein haltbares serbisches Großreich zu errichten, während der bisherige Rival, Bulgarien, durch die 8uweisung der anderen Meeresküste, der ägäischen, befriedigt wird?

Noch viel realistischer aber werden uns die serbischen Ideale erscheinen, wenn wir sie nun auch in ihrer Beziehung zur italienischen und englischen Politik betrachten.

Die Italiener sind von einer wütenden Eifersucht auf die österreich-ungarische Balkanpolitik erfüllt. Schon im Mittelalter haben Venedig und Ungarn immer von neuem um die Herrschaft über die Ostküste des Adriatischen Meeres gerungen. Wenn Oesterreich heute Dalmatien zu seinen Provinzen zahlt, so ist das das letzte ihm verbliebene Stück aus dem Erbe Venedigs, das ihm 1797 zufiel. Diese traditionelle Gegnerschaft multipliziert sich jetzt mit dem italienischen Irridentismus, dem Wunsch der Italiener, die italienischen Landschaften Österreichs, Trient und Triest, ihrem Nationalstaat einzuverleiben. Diese natürlichen Reibungen zwischen Oesterreich und Italien sind so stark, daß, wie der Fürst Bülow neulich aus dem Munde des italienischen Staatsmannes Nigra wiederholt hat, diese beiden Großmächte nur entweder verbündet oder verfeindet sein können. Kein Zweifel, daß die italienische Volksstimmung wahrhaft brennt auf einen Kampf mit Oesterreich. Die deutsche Presse hat sich bemüht, die jüngste, große Rede des Ministers Tittoni als Friedensrede aufzufassen, weil sie schloß mit der Versicherung. daß Italien am Dreibunde festhalte. Aber diese Verf1cherung erwuchs leider keineswegs mit organischer Notwendigkeit aus dem gesamten Inhalt der Rede, sondern war nur ein äußerlich angefügtes Anhängsel. Ohne diesen Schluß wäre die Rede eine unverblümte Kriegsdrohung gewesen. Tittoni legte dar, daß der Dreibund den Frieden sichere

— ganz recht. Aber er fügte ausdrücklich hinzu, daß Italien wohl den Frieden wolle, aber nur den Frieden mit Ehren, und sagte nicht, daß wenn es nun doch zum Kriege komme, Italien auch dann auf der Seite des Dreibundes stehn und an ihm festhalten werde. In den Augen des italienischen Ministers ist also der Dreibund sozusagen nur ein Friedens-aber kein Kriegsbund und hat deshalb Italien auch nicht verhindert, gewisse Abmachungen auch mit den derzeitigen Gegnern des Bandes, England und Rußland, zu treffen. Tittoni verlangt von Oesterreich, daß es als Kompen- {s. 174} sation für die definitive Annexion Bosniens auf gewisse Rechte, die ihm der Berliner Vertrag von 1878 bezüglich der montenegrinischen Eisenbahnen und Küstenpolizei gewährt, verzichte. Es ist doch sehr fraglich, ob Oesterreich geneigt ist, das zu tun, nachdem es schon durch den Verzicht aus Novi-Bazar der Türkei eine sehr anständige Kompensation für die staats- und völkerrechtliche Abwandlung gewährt hat. Aber selbst wenn Oesterreich bereit sein sollte, hier noch ein Stück entgegenzukommen, für die Vorstellungen der Serben und Montenegriner von ihrer nationalen Zukunft ist das ganz irrelevant, wenn Oesterreich Bosnien behält, und wenn sie dieser halb den Kampf mit Oesterreich beginnen, so wird auch die öffentliche Meinung in Italien sich sicherlich nicht begnügen, ihnen zuzurufen: Ihr hättet Euch doch mit der Modifikation der Paragraphen so und so des Berliner Vertrages zufrieden geben sollen.

Noch wichtiger aber ist die Stellung Englands. Der Artikel im „Russischen Invaliden“ richtet sich nicht bloß gegen Oesterreich und Deutschland, sondern auch gegen England, und England könnte in Balkanfragen ganz gewiß eher mit Oesterreich zusammengehen als mit Rußland. Aber England sieht heute als seinen eigentlichen Gegner und Rivalen das Deutsche Reich an, und es gibt aus der Insel eine Partei, die es für nötig hält, um zukünftigen Gefahren vorzubeugen, schon heute den Waffengang mit Deutschland zu wagen und zu provozieren. Wie einst der Siebenjährige Krieg erzeugt wurde nicht aus dem einfachen Gegensatz Preußens und Österreichs im Deutschen Reich, sondern aus der Komplikation dieses Gegensatzes mit dem Kampf der Engländer und Franzosen um den Besitz von Nordamerika. so gewinnt heute die Balkanfrage ihre eigentümliche Gestalt erst dadurch, daß sie sich kompliziert mit der an sich ganz fern-liegenden Rivalität zwischen England und Deutschland zu See. Seit Jahren wirbt König Eduard rings um uns herum um Bundesgenossen; er ist bereits weit genug gelangt mit seiner Einkreisung, aber doch nicht weit genug, um uns wirklich zu Leibe gehen zu können. In diesem Sommer schien es, als ob er den Zaren, den er in Reval persönlich aussuchte, hätte hinter sich herziehen wollen, daß ihm das mißglückt sei, und daß die persönliche Zusammenkunst, die er daraus mit unserm Kaiser in Cronberg hatte, vorläufig wieder Ruhe verbürgte. Da brachen die Balken-Witten aus und plötzlich ist alles verändert. Unzweifelhaft hat weder der Zur Nikolaus noch einer der Staatsmänner, die ihn umgeben, die Neigung, noch den Wunsch, in den schweren Waffengang mit Deutschland einzutreten, aber wie, wenn man sie dazu zwingen könnte? Wenn die Serben und Montenegriner in wilder Leidenschaft den Krieg gegen Oesterreich beginnen und, wie zu erwarten, von der Übermacht besiegt werden, werden die nationalen Instinkte in Italien und Rußland dann nicht aufwogen wie ein vom Sturm gepeitschtes Meer? Kann Oesterreich, wenn es Serbien einmal besiegt hat, das Land überhaupt wieder verlassen, um sich in einiger Zeit einer ähnlichen Attacke auszu- {s. 175} setzen, und können Italien und Rußland zugeben, daß Oesterreich sich so immer weiter in die Balkanhalbinsel hineinfrisst? Ist nicht Nikolaus II. ein schwacher, bestimmbarer Herr und ist nicht auch einst Alexander II. wider seinen Willen durch die stärker und stärker anschwellende panslavistische Bewegung in den Türkenkrieg hineingezogen worden? Wie leicht ist es, solchen Volksbewegungen auch von außen mit Geld und etwas geschickter Preßmache zu Hilfe zu kommen, und wenn nun die Volkswut erst genügend aufgestachelt ist, so daß die Minister und Monarchen sich geschoben, gedrängt und bedroht fühlen, und das englische Ministerium dann mit einem Bündnis- und Subsidien- Anerbieten an sie herantritt? Ist es nicht deutlich, daß Herrn v. Iswolskis Politik schon heute unter dem Zeichen der Furcht vor den Panslavisten steht? Deutschland kann aber nicht dulden, daß Oesterreich etwa von Rußland und Italien gemeinsam angegriffen und erdrückt werde. Das leidet weder unsre Vertragstreue noch unser politisches und nationales Interesse. Es wäre die definitive Ausschließung des deutschen Einflusses vom Orient, denn trotz der großen Majorität seiner Slaven, Magyaren und Rumänen ist das deutsche Element in Österreich-Ungarn immer noch das stärkste, und eine Niederlage Lesterreichs gegen Rußland oder Italien schließt deshalb auch unter allen Umständen eine Niederlage des Deutschtums ein. Für die deutsche Politik gibt es kein höheres Gesetz als die Treue zu Oesterreich. Grade weil uns das Schicksal gezwungen hat, die deutschen Brüder in Lesterreich im Jahre 1866 vom Deutschen Reiche auszuschließen, sind wir um so mehr verpflichtet, für sie im internationalen Wettkampf einzustehen und ihnen den Rücken zu decken. Unsere eigene nationale Zukunft hängt an Oesterreich mit seinem Deutschtum. Treten also Rußland und Italien für Serbien gegen Oesterreich in die Schranken, so stehen wir neben Oesterreich. und in demselben Augenblick gehen nach Bismarcks Ausdruck die Gewehre in Frankreich von selber los, England aber schließt uns die Küsten und hat seinen Willen erreicht. Das allgemeine Bündnis gegen Deutschland ist da: vier Großmächte stehen gegen zwei.

Sind Anzeichen vorhanden, daß man in England wirklich aus ein solches Ziel hinarbeitet? Woher kommt denn der wahnwitzige, so unglaublich zähe Boykott der österreichischen Waren in der Türkei? Woher kommt die Zuversicht, mit der das kleine Serbenvolk das gewaltige Oesterreich

herausfordert? Woher kommt das Geld für die serbischen Rüstungen? Weshalb verspricht man den Serben fortwährend Kompensationen, ohne daß doch jemand zu sagen wagt oder weiß, worin diese Kompensationen bestehen sollen oder können? Woher kommt es, daß die größten englischen Tagesblätter gerade seht wieder voll sind von den wildesten Hetzartikeln gegen Deutschland, und die Phantasie der englischen Journalisten einen unerschöpflichen Strom von Geschichtchen über das Land ergießt, die den Visiten die Größe und Nähe der deutschen Gefahr, die Tücke des deutschen Charakters, die Unersättlichkeit der deutschen Begierden und Absichten vor {s. 176} Augen führen? Alle die vielfältigen gegenseitigen deutsch-englischen Besuche haben nur vorübergehenden Erfolg gehabt, und ohne daß von unserer Seite irgend etwas feindseliges geschehen oder gesagt wäre, speit die englische Presse Gift und Galle gegen Deutschland.

Wenn man so berichten hört, wie der kleine Serbe gegen Lesterreich die Zähne blökt, ist man geneigt, zu lachen über den Gernegroß, aber wer die europäische Situation sorgsamer ins Auge gefaßt hat, dem vergeht der Sarkasmus, und er fragt sich, in einem welchen Zustand leben wir, daß der Friede der Welt in die Hand dieses Häufleins eben erst aus der Barbarei aufgetauchter Toll-köpfe gegeben ist?

Als man in Oesterreich ich, wie unbequem und gefährlich die Lage nach der Annexion Bosniens wurde, fingen die guten Leute an, nach alter, wohl-bewährter Methode auf Herrn von Aehrenthal zu schimpfen, und fanden den Fehler bei ihm, dem sie zuerst zugejubelt hatten. Aber wie hatte Herr von Aehrenthal diese Entwicklung vermeiden können? Man sagt, Oesterreich hätte schon die Zeit des japanischen Krieges wahrnehmen sollen und die Annexion aussprechen, als Rußland unfähig war, sich zu widersetzen. Eine sehr verkehrte Ansicht, denn wenn Rußland auch im Augenblick nichts hätte tun können, so hätte Lesterreich damals doch jedes Grundes für die Vertragsverletzung ermangelt und es wäre der Rache für die Heimtücke nicht entgangen. Ein Bandenkrieg läßt sich von Serbien aus in Bosnien zu jeder Zeit organisieren. Heute kann Oesterreich mit Fug behaupten, daß die Verfassungsänderung in der Türkei eine Änderung in Bosnien notwendig nach sich ziehen mußte. Hatte Herr v. Aehrenthal damit gewartet, bis das türkische Parlament zusammengetreten war, oder hätte er sich durch Verhandlungen so lange hinziehen lassen, so ist es klar, daß ein unentwirrbarer Konflikt entstanden wäre. Auf Grund der formalen Souveränität des Sultans in Bosnien hätten die eifrigen türkischen Patrioten verlangen können, daß auch die dortige Bevölkerung wähle, was Österreich-Ungarn niemals zugestehen konnte. Kaiser Franz Joseph war also tatsächlich in einer Zwangslage: die beste Entschuldigung, die es für eine einseitige Verfassungsänderung gibt. Hatten die österreichischen Staatsmänner nicht rechtzeitig gehandelt und ein klares Verhältnis geschaffen, so hätten sie den europäischen Frieden in noch viel höherem Maße gefährdet, als es fest der Fall ist.

Ist denn aber die Gefahr, die über unsern Häuptern schwebt, wirklich, so groß? Suchen wir uns auch alle die Momente, die den Ausdruck verhindern, das Gewitter wieder zerstreuen können, vor die Augen zu führen. Zunächst ist es klar, daß nur, wenn die vier andern Großmächte gegen Deutschland und Oesterreich zusammenstellen, sie den Krieg wagen könnten; versagt sich nur eine von ihnen, z. B. Italien, so sind die drei andern nicht stark genug, uns niederzuzwingen. Prüfen wir sie also alle nach der Reihe.

Zunächst Frankreich. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das fran- {s. 177} zösische Volk in feiner ungeheuren Majorität keinerlei Neigung zu einem Waffengang mit Deutschland hat. Der Revanchegedanke ist so weit zurückgetreten, daß man vor zehn Jahren sogar nicht abgeneigt war, mit uns zusammen gegen England vorzugehen. Dazu ist Frankreich der Bankier Europas; fein Volkswohlstand beruht auf den Zinseingängen für die russischen, österreichischen, türkischen, u. u. Anleihen. Ein allgemeiner europäischer Krieg könnte eine große Zahlungs-Einstellung zur Folge haben, die Frankreich aufs allerschwerste treffen würde. Die Marokko-Differenzen sind viel zu unbedeutend, um so große Nationen wie die französische und deutsche gegeneinander in Krieg zu treiben. Aber wenn sich die Möglichkeit böte, in einer allem Anschein nach weit überlegenen europäischen Koalition Deutschlands Übermacht für alle Zeit zu brechen und Frankreich durch die Rückeroberung des Elsaß wieder auf die gleiche Höhe mit Deutschland zu bringen — einer solchen Versuchung würde das französische Volk doch sicherlich nicht widerstehen.

Rußland hat nirgends einen direkten Reibungspunkt mit Deutschland; aber im russischen Volk lebt ein geradezu fanatischer Deutschenhaß. Man haßt in uns die geistige und wirtschaftliche Überlegenheit, von der man sich emanzipieren will, und den Bundesgenossen Österreichs, das die Sammlung aller slawischen Völker unter der russischen Hegemonie verhindert. Das Motiv ist nicht stark genug, direkt zu einem Kriege zu treiben. Es kommt hinzu, daß die russische Armee noch immer recht desorganisiert ist und die revolutionäre Stimmung im Lande, nur äußerlich beruhigt, unter der Decke fort und fort brodelt. Aber wenn die Engländer das nötige Geld geben, ist Rußland noch immer imstande, mit ungeheuren Heeren ins Feld zu rücken. Was etwa von Geschützen, Waffen, Munition und sonstiger Ausrüstung seit dem japanischen Kriege noch nicht wieder ergänzt ist oder sonst fehlt, können die englischen Fabriken in kürzefter Frist liefern. Die Türkei und das türkische Heer war im Jahre 1876, Frankreich in den Jahren 1792—1794 in noch viel höherem Grade desorganisiert und von revolutionären Bewegungen zerrüttet, und wie viel haben diese Staaten trotz allem noch im Kriege geleistet! Man vergesse auch nicht zu bedenken, daß die Einführung der Verfassung in Rußland die Kriegstendenz in hohem Maße gesteigert hat. Der naive Liberalismus glaubte wohl gar, daß mit der Einführung einer Volksvertretung selbstverständlich die Herrschaft friedlicher Gesinnungen in Russland gegeben sei. Ob das eingetreten wäre bei einem wirklich freien Wahlrecht, mag dahingestellt bleiben; jetzt aber tagt in Petersburg jedenfalls eine Duma, in der die nationalistische Richtung die Überhand hat und den Ton angibt. Wenn der Panslawismus schon im Jahre 1876 durch bloße Agitation so viel zum Ausdruck) des Krieges beigetragen hat, so besitzt er setzt in der Diana ein Organ, das sich noch ganz anders geltend machen wird. Kommt es zu einer Krisis, so wird diese Duma, deren Präsident Chomjakofs ein wilder Moskowiter ist, ganz gewiß nicht ein hemmendes, sondern {s. 178} ein treibendes Element darstellen und das ihrige dazu beitragen, daß nicht rationelle politische Berechnung, sondern Leidenschaft der russischen Politik die Richtung gibt. Die große Masse des russischen Volkes mag ebenso friedlich gesinnt sein, wie die des französischen und des deutschen, eine Sicherung gewährt uns das nicht.

Auch die große Masse des englischen Volkes wünscht ganz gewiß den Krieg nicht. ist aber doch erfüllt von Furcht und Abneigung gegen Deutschland, und aus der Furcht sind von den großen Kriegen der Weltgeschichte vielleicht die allermeisten entstanden. Nun ist, wie vielfältig und auch in diesen Jahrbüchern (Novemberheft) nachgewiesen. die Furcht tatsächlich unbegründet; sowohl durch seinen Besitz an Schiffen, wie durch seine Mittel solche zu bauen, wie auch namentlich durch die Fähigkeit, viel schneller zu bauen als wir, ist England vollauf gesichert. Aber nicht nur quält sich die patriotische Phantasie mit der Vorstellung von Kombinationen und Zufällen, die diese Sicherheit doch eines Tages aufheben könnten, sondern vor allem empfindet der englische Steuerzahler unsere Rivalität schon heute sehr peinlich an seinem Geldbeutel. Wenn Deutschland keine Kriegsschiffe baute, könnte auch England sich daraus beschränken, seinen jetzigen Bestand zu erhalten, und brauchte nicht die ungeheuren Geldmittel aufzuwenden, die jetzt nötig sind für die Steigerung. Wir fangen es ja seht selber an zu merken, wie kostbar es ist, sich eine Flotte zu halten, und wer sich recht in Eifer geredet hat gegen irgend eine unsrer neuen Steuervorlagen, sei es Erbschafts-, Vier-, Tabak-, Elektrizitäts- oder Gesellschaftssteuer, der möge diese Stimmung aus den englischen Staatsbürger übertragen, um dessen Abneigung gegen uns zu verstehen: denn unsertwegen, so lehren ihn tagtäglich seine Zeitungen, werden solche Forderungen an ihn gestellt. Kommt nun eine europäische Kombination, die, wie es scheint, England erlaubt, mit Sicherheit und ohne gar zu große Kosten die deutsche Seemacht zu knicken, so ist doch wohl zu besorgen, daß auch die Masse des englischen Volkes sich zu solcher Politik fortreißen lassen würde. Freilich würde England damit auch seinen eigenen Handel sehr wesentlich schädigen, denn mit Einrechnung der Kolonien geht über ein Sechstel seines Exports (über 1800 Mill. Mark) nach Deutschland. Aber dieser Verlust würde wettgemacht werden dadurch, daß der große Export, den Deutschland heute an Industrieprodukten hat, dann wesentlich auf England übergehen würde. Schließlich ist in jüngster Zeit ein neues Moment aufgetaucht, das leicht England ebensowohl zum Kriege treiben, wie auch davon abhalten kann. Das ist die offenbar immer lauter sich anmeldende Gefahr eines großen Ausstandes in Indien. Schon ist man genötigt gewesen, Ausnahmemaßregeln in großem Stile zu treffen, Verhaftungen und Exilirrungen zu verfügen. Die „Nineteenth Century“ hat über diese Verhältnisse aus der Feder eines ehemaligen hohen Polizei-beamten in Bombay, Sir Edmund C. Cox, einen höchst instruktiven Artikel gebracht, aus dein ich anhangsweise hier einen Auszug anfingen werde, und der die Gefahr so groß wie nahe erscheinen lässt. Die einmütige Gesinnung {s. 179} Indiens läßt sich nach Cox etwa so charakterisieren, wie einst die Lombardo-Venetianer sich zur Herrschaft Österreichs stellten: wir wollen nicht, daß Oesterreich uns besser regiere, sondern daß es gehe. Bricht nun der Ausstand schon in allernächster Zeit aus, so ist es klar, daß England alles tun wird, um gleichzeitige europäische Konflikte zu vermeiden: ist man aber in England der Überzeugung, daß man den Zustand in Indien noch einige Jahre hinziehen kann, so kann man leicht den Schluß ziehen, daß es in Englands Interesse liegt, den europäischen Konflikt so schnell wie möglich zu provozieren, um später den Rücken frei zu haben für die Bändigung der Inder.

In eben diesem Heft habe ich eine neue Auflage der Napoleon-Biographie von Lenz besprochen und dabei namentlich betont, wie eigentlich Napoleon in seine Welteroberungsrolle hineingetrieben worden ist: nicht er ist es gewesen, der diese Politik beschlossen und gewollt hat, sondern England war es, das ihn dazu gezwungen hat, weil es sah, daß er im Begriff war, die alte französische See- und Kolonial-Politik wieder aufzunehmen. Gewiß nimmt Deutschland heute nicht entfernt die übermächtige Stellung ein, die Frankreich im Jahre 1803 besaß, ebenso wenig trägt es sich mit solchen Bestrebungen — aber, verhehlen wir es uns nicht: sie werden uns zugeschrieben. Bald in Dänemark, bald in Holland, bald in der Schweiz erhebt sich eine Stimme, die das eigene Volk und ganz Europa vor unserem Ehrgeiz warnt. Solche Stimmungen sind der gefährlichste Nährboden für einen Kriegsentschluß, den es gibt.

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf Italien, so ist hier wohl im Volke die Kriegsneigung stärker als irgendwo anders und wird nur zurückgehalten einerseits durch das Gefühl der Schwäche, anderseits durch die politischen Erwägungen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, in welchem Bündnis Italien mehr zu riskieren oder mehr zu gewinnen hätte.

In diesen politischen Berechnungen dürfte schließlich überhaupt noch unsere beste Friedensgarantie liegen. Denn die Quadrupelallianz, wenn sie sich auch gern zur Niederdrückung Deutschland-Österreichs vereinigte, geht in ihren einzelnen Bestrebungen doch gar zu weit auseinander, um sich so leicht zusammenzufinden. Die Engländer wollen vor allem die deutsche Seemacht brechen, aber die Franzosen und Rassen müssen im Gegenteil sogar wünschen, daß Deutschland England gegenüber als Seemacht seinen Platz behaupte.

Rußland möchte Oesterreich und mit ihm auch den deutschen Einfluß aus der Balkanhalbinsel verdrängen, aber für England könnte es nichts unerwünschteres geben, als wenn hier an die Stelle Deutschlands und Österreichs allein Rußland träte. England ist es, das Rußland die so sehr begehrte Ausfahrt aus dem Schwarzen Meer verschließt. Deutschland und Oesterreich können dem Zaren in diesem Punkt sehr weit entgegenkommen. Unser Interesse geht nicht weiter, als daß die Sicherheit von Konstantinopel nicht bedroht wird. Was sollten wir also dagegen haben, wenn z. B. be- {s. 180} stimmt wird, daß die russischen Kriegsschisse, denen seht die Fahrt völlig untersagt ist, einzeln durchfahren können mit der Maßgabe, daß das zweite Schiff erst in den Bosporus einfahren darf, wenn das erste die Dardanellen wieder verlassen hat und umgekehrt?

Überhaupt stehen in allen Fragen des türkischen Reiches, sei es des Einflusses, sei es bei einer etwaigen Aufteilung, die Interessen jeder Macht gegen jede andere, und es ist leicht möglich, daß der junge türkische Konstitutionalismus, statt das Reich zu starken, es binnen kurzem in Anarchie stürzt und auseinander sprengt, so daß neue Probleme auftauchen, die die eben geschlossenen Verbindungen zwischen Frankreich und England, England und Rußland, Rußland und Italien wieder zerreißen.

Diese inneren Diskrepanzen innerhalb der zu fürchtenden Quadrupelallianz würden auch dann noch für uns eine starke Hilfskraft sei, wenn es wirklich zum Kriege kommen sollte. Verbündete wirken nie ganz harmonisch zusammen und desto weniger, je mehr es sind. Wie stark wurde selbst in der Not der Franzosenherrschaft unter Napoleon das Zusammenwirken der Russen, Preußen, Österreicher und Engländer durch ihren gegenseitigen Argwohn und innere Zwistigkeiten gehemmt! Addiert man einfach die militärischen Kräfte des vorausgesetzten Vierbundes zusammen, so ist es klar, daß sie denen des Zweibundes weit überlegen sind, wenn schon Marokko den Franzosen vielleicht einen unangenehmen Nebenkrieg macht. Die Friedens-Präsenz der Russen beträgt 1 305 000, der Franzosen 563 000, der Italiener 273 000, zusammen 2 141 000; die Friedenspräsenz der Deutschen beträgt 585 000, der Österreicher-Ungarn 379 000, zusammen 964 000. Die österreichische Armee würde durch Italien, Serbien und Montenegro nahezu absorbiert sein, und Deutschland hätte fast allein gegen die von den Engländern unterstützten Franzosen aus der einen und die Russen auf der andern Seite zu fechten. Daß wir Frankreich schnell überrennen könnten, davon kann gar keine Rede sein; dazu gehört eine Überlegenheit, die wir überhaupt kaum besitzen und am wenigsten, wenn wir die halbe Armee gegen die Russen schicken müssen. Überdies ist Frankreich durch sein gewaltiges System von Sperrforts, Grenzfestungen und Lagerfestungen von der Nordsee bis zu den Alpen auf eine fast undurchdringliche Weise gepanzert. Die artilleristische Überwindung jedes einzelnen Sperrsorts ist ein Stück Arbeit, und ehe sie vollendet ist, kann die französische Feldarmee schon wieder Gegenmaßregeln getroffen haben, um den Durchbruch oder die Umgehung an diesem Punkt doch noch zu verhindern. Bricht man schließlich durch und sucht die Entscheidung im freien Felde, so vergeht darüber doch immerhin eine ziemliche Zeit, und noch mehr Zeit vergeht, wenn man nach dem ersten Siege vor den großen Lagerfestungen zum Stehen kommt, und mittlerweile nahen die ungeheuren Massen der Russen und beanspruchen Gegenarmeen, so daß die Franzosen uns gegenüber die große numerische Überlegenheit gewinnen. Weiter als bis zu einer glücklichen Verteidigung unserer eigenen Grenzen würden wir {s. 181} es auch im besten Falle schwerlich bringen können — vielleicht, daß wir gleich im Beginn die Chance eines Sieges über die Russen in Polen hätten, ehe diese ihre Mobilmachung vollendet haben. Es wäre äußerst verkehrt, sich etwa in nationaler Selbstverblendung über dieses Kräfteverhältnis Täuschungen hinzugeben. Die Sache ist so ernst wie nur möglich. Zu fürchten haben wir nichts; wir sind mit Aufgebot des Landsturms stark genug, den Strauß zu bestehen. Die Aussichten auf einen schließlichen glücklichen Ausgang aber liegen in der Politik; sie liegen darin, daß wir sicher sein dürfen, daß der Vierbund unter keinen Umständen wirklich bis zum Ende zusammenhält, und weil man das heute schon mit Sicherheit voraussehen kann, brauchen wir auch nicht die Hoffnung aufzugeben, daß er überhaupt nicht zustande kommt. Nur wenn Deutschland und Österreich völlig niedergekämpft würden, hätten Frankreich, Rußland und Italien Aussicht, ihre Zwecke zu erreichen. Käme es dagegen wie beim Siebenjährigen Kriege so, daß beide Teile endlich vor Ermattung vom weiteren Kämpfen abstehen und alle Grenzen unverändert bleiben, so ist der ganze Kontinent ruiniert und England der alleinige Gewinner. Ja, England würde von dem Augenblick an, wo Deutschlands Seewesen und Wohlstand genügend geschwächt sind, überhaupt an der Fortsetzung des Kampfes kein Interesse mehr haben. Man darf annehmen, daß man sich in Paris wie in Petersburg über diese Verhältnisse nicht im unklaren ist und keinerlei Neigung verspürt, vielleicht mit ungeheuren Opfern bloß für England zu arbeiten. Hinge also die Politik bloß von den Diplomaten ab, so könnten wir gewiß ruhig schlafen, aber wir müssen zu unserm Ausgangspunkt zurückkehren, zu den Volksleidenschaften, die in dieses ganze Getriebe hineinspielen und alle Berechnungen zuschanden machen können. Beginnen die Serben den Kampf mit Oesterreich, so steht alle Hoffnung auf Erhaltung des Weltfriedens auf der Mäßigung Österreichs. Schon jetzt ist es ja nichts Geringes, daß eine Großmacht wie dieses Kaisertum ruhig zusteht, wie an seiner Grenze das Völkchen der Serben droht, rüstet und hetzt. Schreiten die Serben mit den Montenegrinern wirklich zum Eingriff, so müßte man im Interesse des europäischen Friedens von Lesterreich verlangen, daß es womöglich die feindlichen Grenzen gar nicht überschreitet, sondern sich begnügt, die Truppen, die herüberkommen, abzufangen und unschädlich zu machen, oder, falls das militärisch unausführbar ist, daß sie das Land, sobald der militärische Zweck erfüllt ist, sofort wieder verlassen. So haben es die Franzosen zweimal gemacht, als sie in Belgien intervenierten und die Holländer hinaustrieben, 1831 und 1832, und unter dem Verdacht standen, das Land für sich behalten zu wollen. Freilich zwischen Serbien und Lesterreich würde die Sache immerhin noch etwas anders stehen. Lesterreich ist der angegriffene Teil und es ist eine starke Zumutung für eine Großmacht, sich von einem Kleinstaat anfallen zu lassen und ihn bloß abzuwehren, ohne ihm für alle Zeit Wiederholungen unmöglich zu machen. Aber hinter Serbien und Montenegro {s. 182} stehen Rußland und Italien und hinter Russland und Italien steht heute England und an England hängt Frankreich. Die Gefahr ist groß: möge es der Weisheit der Staatsmänner gelingen, sie doch noch zu beschwören.

***

Während so die schwersten Gewitterwolken den Himmel Europas über ziehen, haben die deutschen Reichsboten Reden über Reden gehalten, wie wohl soviel Beiträge von den Reichsbürgern eingezogen werden könnten, daß das Deutsche Reich im Frieden sein Dasein fristen kann ohne Schulden zu machen. Mit Freuden darf man sagen, daß in den großen Verfassungsdebatten der Reichstag sich so wacker wie verständig gehalten und dadurch das Ansehen des Reiches im Ausland wieder gehoben hat. Aber dieses Lob verschwindet völlig, wenn man zu den Verhandlungen über die Finanzreform übergeht. Der krasse Geiz bei den Besitzenden, die die Nachlaßsteuer nicht bewilligen wollen, und die kleinlichsten Wahlrücksichten auf die verschiedenen Gewerbe, die bei den indirekten Steuern in Mitleidenschaft gezogen werden, beherrschten die Diskussion. Der Gesamteindruck war wahrhaft kläglich. Große gesetzgeberische Reformen von weittragender ethischer Bedeutung, Reform des Strafrechts und des Strafprozesses, Witwen- und Waisenversicherungen, Reorganisation des Klassenwesens, in Preußen die Wahlreform, harren der Lösung, und die Volksvertretungen verbrauchen ihre Arbeitskraft und werden sie, wenn es so weiter geht, noch lange ausschließlich gebrauchen für die Fragen der Verteilung der Steuer last. Selbst der Kredit Deutschlands, den wir im Kriegsfall so nötig haben, leidet unter dieser Zerfahrenheit und unter dieser, jede höhere Verantwortlichkeit verleugnenden Selbstsucht der Parteien.

23. 12. 08.

Nachschrift.

Die Rede Iswolskis mit den Verhandlungen in der russischen Duma haben die Situation nicht verändert. Von allen Seiten hat man den Serben abgewinkt, denn das offizielle Russland wünscht den Krieg nicht.

Aber was für tatsächliche Kompensationen die Serben beruhigen sollen, hat der russische Minister auch jetzt nicht gesagt, und die Frage bleibt offen, ob andere Mächte nicht dort noch die Serben zur Aktion treiben mit dem Hinweis, daß Rußland und Italien sie auf keinen Fall im Stich

lassen können, wenn der Kampf nur erst begonnen hat.

28. 12. 08. Delbrück.