Übersetzung des Artikels

Ist Ungarisch eine schwierige Sprache?

Oswald GSCHNITZER (Tárogató, Vancouver, März 2001)

Wenn meine deutschen Freunde hören, dass ich Ungarisch gelernt habe, wundern sie sich gewöhnlich. Sie glauben ja zu wissen, dass dies eine fürchterlich schwierige Sprache sei. Sie hat nichts mit der deutschen Sprache gemein, und sie hat mehr als 30 grammatikalische Fälle! (Hier hat wahrscheinlich ein übereifriger Sprachwissenschaftler die Hauptwortendungen zusammengezählt, von ládába „in die Kiste” bis zu pávává „zu einem Pfau”.) Dann beruhige ich sie, das in diesen „grammatikalischen Fällen die Präpositionen* auch schon enthalten sind. Welches ist schwieriger zu erlernen, das -ba, -be oder das in + Akkusativ? Was jedoch die Verwandtschaft anbetrifft, ist es wahr, dass ungarische und deutsche Worte, von einigen Ausnahmen abgesehen, sich einander nicht ähneln. Die zusammengesetzten Wörter und die festen Ausdrücke aber schon! Derjenige, der irgendwann mal versucht hatte, sich in England verständlich zu machen, in dem er das deutsche Wort „Sackgasse” wortwörtlich mit „sack alley” übersetzt hat, der wird das ungarische Wort zsákutca wahrlich schätzen. Ähnlich ist die Übersetzung von kézenfekvő „auf der Hand liegend.” Ansonsten, pflege ich dann zu sagen, gibt es im Ungarischen nur drei Zeiten für die Verben, es gibt keine Geschlechter (ein Paradies für Feministen!), und die Rechtschreibung ist fantastisch einfach.

Soviel zur Reklame! Unter uns gesagt, ist das Erlernen vom Ungarischen doch nicht so einfach. Ist es zum Beispiel wahr, dass es nur drei Zeiten für die Verben gibt? Wenn lovastul („mitsamt dem Pferd”) und karácsonykor („zu Weihnachten”) getrennte Kasus bei den Hauptwörtern sind, dann sind kotorászik („herumwühlen”), olvasgat („ab und zu lesen”) und zuhog („prasseln”) alle getrennte Zeiten bei den Tätigkeitswörtern. Und zwar deswegen, weil das Ungarische damit ähnliche Aspekte ausdrückt, wie das Französische mit seinem berüchtigten Imparfait (unvollendete Tätigkeit) und das Englische mit seinem Stammeln der Art von I will have been, having been, having had!

Für denjenigen, der Ungarisch lernt, sind besonders die stimmungsbeschreibenden Worte ein Leckerbissen. Ihre unzählige Armee schlendert (ballag), spaziert langsam (baktat) oder wogt (hömpölyög) sogar durch das Reich der ungarischen Sprache. (Weniger fein ausgedrückt könnte ich auch sagen: es wimmelt dort davon.) Diese Wörter sind in meinem ungarisch-deutschen Wörterbuch zum größten Teil nicht auffindbar, offensichtlich deswegen, weil es zu viele davon gibt. Also suchen wir Hilfe im Kleinen ungarischen Wörterbuch. Dort wird zum Beispiel das Wort retyerutya folgendermaßen erklärt: cókmók („der Kram”), motyó („die sieben Sachen”). Schon die stimmungsbeschreibenden Verwandte, Freunde und Geschäftspartner von menni, járni (einmalig bzw. wiederholt „gehen”) würden für sich genommen ein ganzes Wörterbuch füllen. So ausgerüstet können wir in einem einzigen Wort die Gangart von jemandem beschreiben, und gleichzeitig viele interessante Sachen über das Alter der Person, ihren körperlichen und seelischen Zustand, über ihr momentanes Befinden und den Grund dafür erzählen. Und mit ein wenig Sprachgefühl und ein Quäntchen Bösartigkeit können wir sogar auf die Treue seiner Ehefrau anspielen.

Die sogenannten Zwillingswörter haben eine ähnliche Ausdrucksstärke. So eines ist zum Beispiel neben retyerutya und cókmók auch huzavona. Schlagen wir doch in unserer eben erwähnten Quelle nach: „Beim Erledigen einer Sache wegen Berücksichtigung gegensätzlichen Ansichten zustande gekommene wiederholte Verschiebung.” An und für sich ist es wunderbar, dass der Ungar das eine oder andere Grimm-Märchen in einem einzigen Wort erzählen kann, obgleich die Aufgabe der Ungarisch lernenden hiermit kaum erleichtert wird.

Ich hoffe, ich habe das Wort „kaum” (aligha) richtig verwendet. Mit solchen Wörtern habe ich immer Probleme. Stellen wir doch ein kleines Wörterbuch zusammen: de = ja, dehogy = nein, dehogynem = ja. Streng genommen ist es einfach: minus mal minus ergibt plus. Nur ist es ein wenig schwierig, beim sprechen all das durchzudenken. »Nemde? Hogyisne!« („Nicht wahr? Freilich!”), würde der Leser jetzt wahrscheinlich (alighanem) verächtlich sagen.

Man sagt gewöhnlich, dass es zu wenig Ungarn gäbe. Ich würde nicht das selbe von den ungarischen Verbalaffixen sagen. Nehmen wir zum Beispiel die Großfamilie des Verbs „waschen”: mosni, megmosni, elmosni, felmosni, lemosni, kimosni, bemosni… und das sind nur die Blutsverwandten; es schließen sich an das eingeheiratete mosogatni sowie mosdatni, mit all ihren Verwandten. Vor allem die Zwillinge meg-/el- verwechsele ich oft, obwohl ich den Eindruck habe, dass ich eher von ihnen getäuscht werde. Das ist an sich ein sehr rüder Scherz, weil zum Beispiel megpatkolni („ein Pferd beschlagen”) nicht unbedingt das gleiche ist wie elpatkolni („abkratzen”).

Un wenn einer endlich elhatározza („beschließt”) oder meghatározza („bestimmt”), welches Verbalaffix denn zu verwenden wäre, muss noch über seine Position entschieden werden: el kell dönteni, eldönteni kell oder kell eldönteni? Dass der liebe Leser es selber entscheide (döntse el)! Und damit sind wir auch gleich auf die nächste Schwierigkeit gestoßen.

Das am strengsten gehütete Geheimnis der ungarischen Sprache ist die Wortfolge. Nicht mal meine Frau hat es mir verraten. Sie sagte, dass die ungarische Wortfolge frei sei. In meinem Lehrbuch hatte ich eine einzige einfache Regel gelesen. Es ist nur merkwürdig, dass ich damit die richtige Wortfolge nicht öfters erraten habe, als wenn ich sie nicht gelesen hätte. Die Ausnahmen waren nämlich nicht in dem Buch drin, weil sie zu kompliziert sind. Und in der ungarischen sprachpflegerischen Literatur sind sie deswegen nicht aufzufinden, weil die Wortfolge einem Ungarn sowieso keine Schwierigkeit bereitet.

Dann fiel mir in einer Bibliothek endlich eine ungarische Grammatik für Deutsche (damals natürlich noch für Ostdeutsche) in die Hände. Gegen das Ende jenes Buches waren die Ausnahmen dort auf zwei Seiten ohne Hervorhebung zusammengepfercht. Seitdem habe ich das Buch nicht mehr gesehen. Offensichtlich hat der ungarische Geheimdienst diesen Verrat entdeckt und das Buch entfernt…

Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte fast vergessen, mich über die Aussprache zu beklagen. Ein indogermanischer Sprecher spricht nur die betonten Silben lang aus, und die anderen verschluckt er mehr oder weniger. Deswegen ist er natürlich genervt: der Ungar besteht darauf, dass alle Silben klar und deutlich auszusprechen sind. Manchmal ist es gerade die erste, betonte Silbe kurz, während die anderen lang sind. Solche Wörter würde ich umgekehrt nennen, zum Beispiel fehér, kerék („weiß, das Rad”). Dann gibt es noch die Maschinengewehr-Wörter wie elengedhetetlen („unerlässlich”), die Bremswörter wie hólapátolás („das Schneeschippen”). Selbstverständlich gibt es noch viele andere harte Nüsse, zum Beispiel die objektive Konjugation, das Benutzen vom Singular nach den Zahlen, die Aussprache vom ny und ty, und so weiter. Und das ist auch gut so, weil das, was die ungarische Sprache so interessant und anziehend macht, ist ausgerechnet ihr Formenreichtum und ihre Exotik, mit anderen Worten: ihre Schwierigkeit.

Diese Übersetzung ist teilweise während unseres Kurses entstanden.

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* Anmerkung des Übersetzers:

Diese Fälle sind tatsächlich adverbiale Bestimmungen, für die man in anderen Sprachen eher Präpositionen verwendet (vgl. Deklinationstabellen).

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