Dass im Augustafelsen Zwerge wohnen, das weiß doch jedes Kind.
Schließlich sieht man das ja schon an den Höhleneingängen im Stein.
Es empfiehlt sich jedoch nicht, den Gängen zu folgen.
Erstens sind die Zwerge so winzig, dass sie durch kleinste Ritzen schlüpfen können, wo kein Mensch - nicht einmal ein kleines Kind – durch kriechen könnte. Zweitens aber haben sie es gar nicht gern, in ihrer Wohnung gestört zu werden und reagieren darauf mehr als zornig.
Zwergenforscher berichten sogar von Fallgruben und Speerfallen mit vergifteten Pfeilen. Ob das für die Zwerge im Augustafelsen zutrifft, bezweifle ich allerdings sehr.
Denn nach allen (unbestätigten) Berichten sind unsere Grüber Zwerge äußerst friedlich gestimmt. Das liegt wohl auch daran, dass immer das gemacht wird, was die Großmutter sagt - das ist Zwergengesetz.
Die Großmutter unserer Grüber Zwergenfamilie heißt Augusta. Sie wohnt mit ihrem Mann August seit vielen Menschengenerationen unter dem Augustafelsen. Zur Familie gehört auch noch ihre Tochter Augustine, die vor etwas mehr als 100 Jahren den aus den Dolomiten zugewanderten Zwerg A`o`gusto heiratete.
Das jüngste Mitglied der Familie heißt zwar, wie bei Zwergen üblich, nach dem Großvater, also August. Da Mutter Augustine ihren Sprössling aber für etwas ganz besonderes hält - wie es ja bei vielen Zwergenmüttern vorkommen soll - spricht sie seinen Namen französisch aus und nennt ihn liebevoll "Oo-schüst" (mit einem weichen "schsch").Manchmal sagt sie auch "Oschi" zu ihm -übrigens unter Protest von Großvater August, der dadurch seinen Namen verunglimpft fühlt.
Den Augustafelsenzwergen fehlt es an nichts. Tief unter dem Felsen ist es immer schön gleichmäßig warm - nun ja, wir Menschen würden vielleicht eher "gleichmäßig kalt" sagen. Aber Zwerge fühlen sich bei Temperaturen um 10 Grad durchaus wohl.
Für die Beleuchtung sorgen funkelnde Steine, die August vor vielen Jahrhunderten tief unter dem Felsen entdeckte, mühsam aus dem Felsen brach, zugehauen und geschliffen hat. Den schönsten Stein steuerte allerdings A`o`gusto bei - gewissermaßen als Mitgift – nämlich einen Bergkristall aus seiner Heimat.
In den letzten Jahren fällt es der Augustafamilie wieder leicht, sich im Sommer mit Walderdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren und Pilzen für die kalte Jahreszeit einzudecken. Früher waren die Menschen oft schneller und hatten alles abgeerntet. Das waren harte Wintermonate für die Augusts! Aber heute scheinen die Großen, wie die Zwerge die Grüber – übrigens auch die Kinder - zu nennen pflegen, kein Interesse mehr an den Waldfrüchten zu haben. Die Zwerge freut es!
Augusta bereitet aus den Beeren köstliches Mus oder Dörrobst für den Wintervorrat. Wenn das Korn reif ist, klaut sich - ääh pardon - erntet August einige Ähren. Daraus brennt er dann nach altem Hausrezept einen kräftigen Doppelkorn. "Für die kalten Tage", wie er zu sagen pflegt. Nebenbei bemerkt: Das hält ihn aber nicht davon ab, auch im Sommer ein Tröpfchen zu nippen - solange der Vorrat reicht. Natürlich nur, "um zu prüfen, ob das Getränk noch genießbar ist", wie er Auguste stets versichert.
Es ist wieder einmal November. Durch die Buchenzweige blitzt die Morgensonne. Im Tal des Füllbachs liegt Nebel. In der Nacht hat es erstmals gefroren. Raureif hängt an verblühten Dolden und bedeckt die herabgefallenen Blätter.
Oschi darf mit Genehmigung von Großmutter Augusta ein wenig an die frische Luft gehen, natürlich nicht bevor ihm Oma einen warmen Schal umgebunden hat. Der kleine Zwerg hüpft fröhlich umher, rutscht gleich auf einem vereisten Blatt aus, fällt auf den Hosenboden, steht lachend wieder auf und klopft sich den Hintern ab. Er sucht unter den Blättern nach Käfern, die er im Sommer auf seiner Nase tanzen ließ. Das kitzelte immer so schön. Er findet aber nichts Lebendiges, mit dem er spielen könnte.
Unten im Tal glitzert der Bach. Das leise Plätschern des Helenenbrunnens hört er bis hier herauf zum Augustafelsen. Gerade spielt er mit einigen Eicheln Fußball und juchzt, wenn sie ins Tal kullern. Da rutscht er auf einem Blatt aus und plumpst unsanft auf den Hintern. Während er seinen Allerwertesten massiert, kommt ihm eine Idee:
Er nimmt ein großes Ahornblatt, das vom Raureif mit glitzernden Eiskristallen bedeckt ist, dreht es um, stellt sich darauf und – schwupps liegt er auf der Nase.
(Snowboarding für Zwerge ist schließlich noch nicht erfunden.)
Oschi aber ist hart im Nehmen, bei seiner Größe (oder sollte man sagen Kleine?) fällt er ja auch nicht tief. Lachend und jauchzend gibt er nicht auf. Er kümmert sich nicht einmal um ein Eichhörnchen, das sich gerade aus seiner Vorratskammer ein paar Nüsse ausbuddeln wollte. Das hüpft schimpfend in seinen Kobel zurück. Immer wieder sucht sich Oschi glatte Blätter, setzt oder stellt sich darauf und rutscht wie auf einem Schlitten mit ihnen bergab. Immer länger wird seine Schlittenbahn, immer weiter traut er sich den Hang hinunter.
Schließlich hat er sich eine Bahn gebaut, die an einer dicken Buche endet. Der alte Baum hat an seinem Wurzelstock Moos angesetzt, das den Aufprall von Oschis Abfahrten wunderbar abfedert. Oschi juchzt jedes Mal laut, wenn er dagegen bummst.
Wieder und wieder rutscht Oschi seine Schlittenbahn hinunter, wird übermütig und immer übermütiger. So ist es kein Wunder, dass er einmal sein Ziel, den dicken Buchenstamm verfehlt, daran vorbei schießt und – ja, von nun an gings bergab. Krampfhaft hält sich Oschi an den Spitzen des Ahornblattes, das sein Schlitten ist, fest. Er quietscht und schreit. Mehrmals überschlägt er sich, kommt wieder ins Rutschen und zischt zum Schluss direkt auf den dicken Stein des Helenenbrunnens zu. Zum Glück hatte der Herbstwind genügend altes Laub zusammengeweht, um den Aufprall zu dämpfen.
Prustend und schnaufend schüttelt Oschi die Blätter von Kleidung und Kapuze ab und schaut sich um. So weit von zu Hause entfernt war er noch nie gewesen. Zwar hatte er den Stein und die Quelle schon oft von oben aus gesehen und von seinem Großvater August wusste er auch, dass die Großen (also die Menschen) sie Helenenquelle nennen, aber jetzt erschien ihm der Stein riesengroß und das Plätschern der Quelle erklang in seinen Ohren wie Donner. Und weit, weit oben liegt seine Heimat, der Augustafelsen.
Er bekommt ein wenig Angst und – wie das bei dieser Gelegenheit oft passiert - muss er dringend pinkeln. So geht er um den Quellstein der Helenenquelle herum, stellt sich oben auf die Steinplatte und schaut auf die sprudelnde Quelle. Plötzlich schmunzelt er in sich hinein und fühlt sich wieder mutig. „Mal sehen, ob ich weiter spritzen kann als du, du dumme Quelle !“ ruft er über das Plätschern des Wassers hinweg.
Kaum hat er seine Hose geöffnet, hört er ein drohendes Murmeln. „Wer wagt es, meine Quelle zu beschmutzen ?“ raunt da eine leise, dunkle und sehr, sehr langsame Stimme. Vor Schreck setzt sich Oschi erst mal wieder einmal auf den Hosenboden, macht hastig seinen Hosenladen zu und schaut sich ängstlich um. Aber beim besten Willen kann er niemanden entdecken, der gesprochen haben könnte. Kein Mensch und kein Zwerg ist in der Nähe. Nur der große Quellstein ragt vor ihm auf. Hat sich da jemand versteckt ?
Nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hat, umrundet er den Stein, einmal, zweimal, ein halbes mal links herum, bleibt stehen, dann ein halbes mal recht herum. Nichts – niemand ist zu sehen.
„Hallo, wer ist da ?“ ruft Oschi. Als er keine Antwort erhält, versucht er es erneut und ruft: „ Haaloo ! Ist da jemand ?“ Noch einmal und noch einmal und immer mutiger und lauter schreit er.
Oschi will sich schon abwenden, als eine tiefe Stimme unheimlich langsam sagt : „ Man nennt mich Steinheinz. Ich bin der Hüter der Quelle.“ Wieder zuckt Oschi vor Schreck zusammen und zieht sich vorsichtshalber hinter den nächsten Baum zurück. Weil er von Geburt an aber sehr neugierig ist (das habe er von seinem italienischen Vater geerbt, brummelt Großvater August häufig), fasst er sich rasch wieder, geht vorsichtig auf den Stein zu und als sich nichts bewegt, hopst er tanzend um ihn herum. „Wer bist du ? Wo versteckst du dich ? Zeig dich doch endlich ?“ ruft er halb übermütig, halb ärgerlich.
Nachdem er wohl zehnmal und mehr um den Stein des Helenenbrunnens herumgerannt ist, mal linksrum, mal rechtsrum, bleibt er schnaufend am Fuß eines Baumes liegen. Er schaut zum Stein und staunt. Der Stein hat Augen! Oschi blinzelt und schaut genauer hin. Ein Gesicht, da ist ein Gesicht im Stein. „Warst du es, der mit mir gesprochen hat?“ fragt Oschi verblüfft. „Ich, Steinheinz, Hüter der Quelle, war so frei.“ grummelte der Stein, wieder mit sehr tiefer Stimme und ungeheuer langsam.
Oschi geht noch ein paar Mal um den Stein herum, vorsichtig fasst er ihn an. Da nichts passiert, wird er immer übermütiger. Er patscht auf den Felsen, klettert hoch und hopst darauf herum. Steinheinz lässt sich offenbar alles gefallen.
Oschi wird immer mutiger und beginnt den Hüter des Brunnens zu verspotten. „Steinheinz, Kleinheinz,“ er sucht sich ein Stöckchen und schlägt auf den Felsen.ein
„Steinheinz, Steinholz ich mach aus dir Kleinholz !“ Mit seinen kleinen Stiefelchen stampft er auf den Stein, schlägt mit der Stiefelspitze dagegen, dass ihm fast die Zehen weh tun.
Da ertönt plötzlich ein ärgerliches „Rocky, fass !“ – eigentlich klingt es eher wie „R ...ooa..i ,f...aaa...s“ , doch bevor sich Oschi von seiner Überraschung erholt hat, steckt sein Stiefel in einer winzigen Felsspalte fest. So sehr er auch zieht und zerrt, er bekommt den Fuß nicht frei. Im Gegenteil: Der junge Zwerg spürt, wie sich der Spalt im Stein immer fester um seinen Knöchel schließt, je mehr er zappelt und zerrt. Schließlich ist er so erschöpft, dass er sich auf den Rücken legt und schwer atmend zum Stein aufblickt.
Zuerst will er nicht glauben, was er sieht. Er schließt die Augen, blinzelt, schließt sie erneut und reibt sie mit den Händen blank. Es ändert nichts an dem, was er sieht. Sein Fuß steckt nicht in einem einfachen Felsenspalt – nein – das steinerne Maul eines Hundes hält ihn gefangen.
„Rocky“, erklärt das steinerne Gesicht würdiger Gelassenheit, „Wachhund der Quelle ist so frei und bedient sich.“
Nachdem sich Oschi vom ersten Schreck erholt hat, bittet er Steinheinz, ihn frei zu lassen. Der Stein bleibt stumm. Er bittet Rocky. Der Steinhund bleibt ebenfalls stumm. Schließlich bettelt er um Entschuldigung für sein freches Verhalten. Der Stein brummt vor sich hin. Oschi fängt an, von seinem Leben im Augustafelsen zu erzählen, dass sich seine Eltern Sorgen machen und dass sein Großvater August sicher schon nach ihm sucht.
Bei der Nennung des Namens seines Großvaters „August“ scheinen die Augen im Stein kurz zu blinken, nach einigen Minuten hört Oschi ein lang gezogenes „aauu...sss ..thh “. Der Spalt im Stein wird langsam weiter und gibt seinen Stiefel wieder frei.
Oschi reibt seinen Knöchel, springt auf und hüpft ein paar Mal auf der Stelle. Gott sei Dank, alles noch heil. Er will sich gerade auf den Heimweg machen, kehrt aber nach wenigen Schritten um, stellt sich vor den Stein, verbeugt sich in Zwergenmanier und sagt: „ Entschuldige, Steinheinz.“ Vor ihm liegt der Stein des Augustafelsens, ein Stein wie viele andere. Er umkreist ihn und sucht das Gesicht, den Steinhund Rocky – sieht aber nur einen ganz normalen Felsbrocken – und kommt sich ziemlich dumm vor, dass er sich vor einem Stein verbeugt hat.
Da hört er von weit oben die Stimme seines Großvaters rufen: „Oschi, was machst du so weit unten und lass Heinz in Ruh !“
An diesem Abend hat Großvater August seinem Enkel viel zu erzählen.Zum ersten Mal erfährt der junge Zwerg von den vielen Lebewesen, die im Tal, im Bach und im Wald leben. August erzählt von Dryaden, Nymphen und auch vom Baumhirten Börn Haarth.
Aber das ist eine andere Geschichte.
„Immer mehr Menschen kamen zum Helenenbrunnen. Sie kamen in ganzen Scharen und sahen alle gleich aus. Braune Hemden trugen sie und so eine komische Armbinde hatten sie auch alle.“
Opa August hat es schon lange bereut, dass er den Namen „Börn Haarth“ erwähnt hatte. „Oschi ist neugierig wie eine Spitzmaus,“ pflegte Oma Augusta immer zu sagen. Und das stimmt wohl auch.
Schließlich konnte also Opa August dem ständigen Nörgeln des Enkels nicht mehr widerstehen.
So sitzen sie nun zusammen auf einer mit Moos ausgepolsterten Wurzel vor einer glühenden Kohle, die August eigenhändig aus dem Berg geholt hat.August zieht an seiner Pfeife, sorgfältig geschnitzt aus einer Eichel und einem Holunderzweig. Oschi lutscht an einem mit Löwenzahnsirup getränktem Blättchen.
„Erzähl mir von Börn Haarth“, hatte Oschi immer wieder gebettelt. Wieder ärgerte sich Opa August, den Namen in der Aufregung mit Steinheinz in den Mund genommen zu haben. Nun wollte Oschi aber unbedingt mehr wissen über die Wesen im Augustafelsenwald – und vor allem über Börn Haarth.
„Er hat es nicht gern, wenn man über ihn spricht“, brummte Opa August immer wieder. Und auch Oma Augusta stimmte einmal ausnahmsweise ihrem Mann zu und meinte, Oschi sei mit seinen knapp 100 Jahren noch zu jung für solche Sachen.Aber das machte die Sache natürlich erst recht spannend – ist ja klar.
Also konnte Opa August dem ständigen Drängen seines Lieblingsenkels – es war ja auch der einzige - nicht mehr widerstehen. Draußen trommelte der Regen auf den Augustafelsen, drinnen saßen Großvater und Enkel gemütlich auf ihrer bemoosten Wurzel.
„Du warst noch sehr jung, vielleicht um die 50 und deine Großmutter Augusta hat sehr darauf geachtet, dass du in der Wohnung bleibst.“ Großvater August nippt an seinem Löwenzahnwein und fährt fort: „Zu der Zeit wurde es am Helenenbrunnen immer lauter. Immer häufiger waren Gesänge zu hören und Geräusche aus Blechgeräten, die Menschen wohl als angenehm empfinden. Die Leute dort sahen alle gleich aus, hatten braune Hemden an und Armbänder. Immer mehr wurden es und immer mehr Bäume am Helenenbrunnen haben sie umgemacht, weil sie mehr Platz haben wollten.“
August sog gedankenverloren an seiner Pfeife.
„Ja, aber was ist denn jetzt mit Börn Haarth“, dachte Oschi und legte sich das Blatt mit dem ausgelutschten Löwenzahnsaft um den Arm.
Oschi zuckte zusammen, als sein Großvater seine „Armbinde“ packte und auf den Boden warf. Großvaters Gesicht war plötzlich so anders – es dauerte aber nur Sekunden und August strahlte wieder die heitere Gelassenheit aus, die Augustafelsenzwerge seit Jahrhunderten auszeichnet. Er drückte seinen Enkel an sich, schnaufte einmal tief durch und meinte:
„Also gut, ich will dir erzählen, was ich damals erlebt habe.
Du musst wissen“, sagte er sanft, „diese Menschen mit den Armbinden waren böse Menschen.
Eines Tages – es war im Frühjahr – holte ich Wasser vom Helenenbrunnen. Im Frühling ist es besonders kostbar. Damals war ich etwas spät dran, denn es wurde schon dunkel. Auf halber Strecke zurück zum Augustafelsen hörte ich zwei Große kommen. Sie hatten braune Hemden an, trugen Armbinden mit einem seltsamen Abzeichen und hatten zwei viereckige Behälter dabei. Ich versteckte mich hinter einem dicken Baumstamm und sah von dort, wie sie aus ihren Kannen stinkendes Wasser ausschütteten. Sie gossen es auf die dürren Schilfhalme. Dann zündeten sie ein Streichholz an und warfen es in das Gras. Sofort gab es ein großes Feuer, das ganze Schilfgebiet brannte. Die zwei Braunen hüpften herum vor Freude und rannten dann in Richtung Zeickhorn davon.
Ich aber erschrak so sehr, dass ich hinter meinem Baumstamm aufsprang und so schnell wie möglich unsere sichere Höhle erreichen wollte. Doch glitschige Blätter kamen mir unter die Füße, ich fiel hin und rutschte, rutschte, rutschte – bis ich am Füllbachufer landete.
Die Flammen hatten schon die ersten Bäume erreicht, Funken prasselten auf mich herab. Das Schlimmste aber war der Qualm. Ich bekam kaum noch Luft und habe schon gedacht, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.
Da erschien ER !
Ein riesiger Schatten schritt durch den Rauch und durch das Feuer im Bachlauf immer näher auf mich zu – langsam, ganz langsam aber irgendwie unaufhaltsam. Auch das Feuer konnte dem Baumriesen offenbar nichts anhaben. An der Helenenquelle neigte der Koloss seine Baumkrone, tauchte seine Zweige in das Wasser des Füllbachs, ließ die Äste zurückschnellen und mit ihrer Wasserfracht löschte er die Flammen. Immer wieder und immer wieder verbeugte sich der Baum und kämpfte mit seinen wasserspeienden Zweigen gegen die Flammen.Es qualmte und zischte fürchterlich. Schließlich wurde ich ohnmächtig.
Als ich wieder zu mir kam war alles schwarz. Die Wiese: abgebrannt, viele Äste: verbrannt. Einige Bäume haben sich von ihren Brandwunden nicht mehr erholt. Aber der Wald am Augustafelsen war gerettet – gerettet von einem einzigen Baum.
„Opa, wo ist der jetzt ?“ Oschi liegt auf den Knien des Großvaters und ist schon sehr, sehr müde.Er hört kaum noch, dass ihm August von einer Nyrade erzählt, die ihm gesagt hat, dass der Retter des Waldes den Namen Börn Haarth hat und immer noch die Bäume um den Augustafelsen behütet.
„ Börn Haarth“, denkt Oschi noch, "morgen, morgen such ich dich“ – und schläft ein.
Jedes Jahr, wenn der Mond im August ganz rund am Himmel steht, feiern die Grüber Zwerge ihr größtes Fest: das Augustafest.
Die meisten Vorräte für den Winter sind in der gemütlichen Höhle des Augustafelsens schon wohl verstaut. Ein paar Nüsse und Brombeeren werden noch hinzu kommen.
Jetzt ist wieder ein wenig Zeit und Muße für die Zwergenfamilie, um das große Fest vorzubereiten.
Schon seit Tagen laufen die Vorbereitungen. Oma Augusta und Mama Augustine kochen und backen fast den ganzen Tag lang. In der Speisekammer liegen Teigtaschen mit würziger, pfeffriger Füllung, Kräuterbällchen, gebrannte Honigkügelchen im Blütenstaubmantel und es kommen täglich neue Köstlichkeiten hinzu.
Opa August und Papa A`o`gusto haben mittlerweile auf der kleinen Wiese, die sich oben auf dem Gipfel des Augustafelsens befindet, den Festplatz hergerichtet.
Zum Festplatz führt ein „Trampelpfad“ hinauf – so denken die Menschen. Würden sie ein wenig nachdenken, müssten sie sich fragen, wohin denn der Weg führt. Oben auf dem Augustafelsen ist nämlich – nichts.
In Wahrheit ist der „Trampelpfad“, wie ihn die Großen nennen, nämlich Oschis Sommerrodelbahn. Fast jeden Tag während des Sommers setzt er sich in seinen Schlitten aus einer alten Kokosnussschale, die Opa August irgendwann einmal gefunden hatte und mit nach Hause schleppte. Dann saust er stundenlang immer wieder den Augustafelsen in der ausgefahrenen Rinne hinunter und juchzt vor Freude, wenn es über die steinernen Sprungschanzen holpert.
Auf der Kuppe des Felsens hatten die Zwergenmänner die Gräser gerodet. Aus glatten Steinen bauten sie einen ebenen Tisch, um den sie als Sitzbänke kleine Stämmchen legten.
Ein echtes Kunstwerk gelang ihnen aber beim Bau einer Schaukel, die sie aus Spinnweben flochten und an zwei Zweigen aufhängten.
Oschi hatte sie als erster ausprobieren dürfen. Dann setzten sich aber auch die alten Zwerge hinein, schubsten sich gegenseitig an, bis die Schaukel umzuschlagen drohte. Ihr Gelächter veranlasste Oma Augusta aus dem obersten Loch des Felsens nach dem Rechten zu sehen.
„Diese alten Kindsköpfe,“ kicherte sie, als sie die Ursache des Spektakels sah und ihr Kopf verschwand wieder im Kamin.
Für Oschi war das Augustafest jedes Jahr etwas ganz besonderes. Nicht nur, dass da groß gefeiert wurde. Oh nein !
Das Besondere war, dass er an diesem Tag so lange aufbleiben durfte, wie er wollte. Das war Zwergengesetz.
Als der Vollmond am Horizont auftauchte und die kleine Wiese auf dem Gipfel des Augustafelsens in blasses Licht tauchte, begann das Fest.
Die Feierlichkeiten verliefen jedes Jahr nach den gleichen, seit Jahrzehnten geltenden Zwergenregeln:
Sie begannen mit dem Festschmaus. Alle Köstlichkeiten, die Augusta und ihre Tochter in den vergangenen Tagen vorbereitet hatten, wurden auf dem steinernen Tisch aufgetragen. Dazu gab es den ersten halbvergorenen Most aus Beerensaft und für Oschi Holunderblütensekt.
Dann ging die Festgemeinschaft zum musikalischen Teil über.
A`o`gusto hatte in seiner südländischen Heimat gelernt, wie man unterschiedlich lange Strohhalme mit Baumharz zusammen kleben kann. Auf dieser winzigen Panflöte konnte er wunderbare Melodien pfeifen.
Kaum hatte er das erste Lied beendet, stellten sich weitere Musikanten ein. Eine ganze Schar von Heuschrecken schwirrte heran und begann auf Flügeln und Schenkeln zu hohe Töne zu erzeugen. Ein grelles Zirpkonzert begann.
Opa August brummte: „Ein Schrecken, diese Schrecken! Kein Gefühl für Rhythmus.“ Er verschwand kurz in der Höhle und kam dann schnaufend wieder empor, um den Bauch hatte er eine Trommel gebunden. Er hatte sie aus einem Kürbis geschnitzt, dem er ein Fell aus einem in Wachs getauchtes Blatt überzog.
Bumm, bumm, bubumm – August, A`o`gusto und die Heuschrecken fanden nach und nach einen gemeinsamen Rhythmus.
Nach einem kräftigen Happen vom Augustasteinbüffet begann der traditionelle Augustentanz. Die Zwergenfamilie stellte sich im Kreis auf, jeder verbeugte sich artig, dann fasste man sich an den Schultern. Die Zwerge stampften mit den Füßen, schwangen die Beine in die Luft und drehten sich dabei immer schneller – bis Opa August so außer Puste geriet, dass er sich ächzend auf die Hängematte nieder ließ. Oma Augusta setzte sich dazu und Oschi sah, wie sie zärtlich ihren Kopf an den immer noch schnaufenden August schmiegte.
„Es wird Zeit,“ sagte Augusta sanft zu ihrem Gatten, der gerade erste Schnarchzeichen von sich gab. August schreckte auf, brummelte zuerst etwa vor sich hin, was Oschi nicht verstand und brüllte dann: „Jetzt kommt das Brillantfeuerwerk !“
Plötzlich war er wieder hell wach. Er flitzte um den kleinen Festplatz und Oschi sah, wie er aus einem kleinen Beutel überall auf die umstehenden Gräser etwas ausschüttete. „Setzt euch hin und seid still,“ flüsterte Opa. Nichts geschah. Oschi wurde schon ungeduldig.
Plötzlich – wie auf ein geheimes Kommando – schwirrten 10, 20 und noch mehr Glühwürmchen heran. Sie flitzten von einer Seite der kleinen Wiese zur anderen und hinterließen leuchtende Spuren im dunklen Himmel. Oschi juchzte vor Begeisterung. „Schreibt mal „August“ in die Luft,“ rief er. Aber das war nun doch etwas zu viel verlangt. Schließlich hat noch niemand etwas von einem Glühwürmchen gehört, das schreiben kann.
Als der Feuerzauber langsam nachließ, hörte Oschi seine Großmutter bewundernd fragen: „Wie machst du das?“ Opa August grinste breit und brummelte dann etwas widerwillig zurück: „Weibliche Hormone.“ Damit konnte Oschi nichts anfangen.
Es war spät geworden, Zeit um das Fest mit dem traditionellen Augustafelsen - Zwergenlied zu beenden. „Glück auf, Glück auf, der August kommt“ sang die Zwergenfamilie voller Inbrunst. Die Spechte und Eichhörnchen in der Nähe erwachten verblüfft aus ihrem Schlaf.
A`o`gusto ließ es sich nicht nehmen, ein Lied für seine geliebte Augustine anzufügen, dessen Melodie er aus seiner Heimat in Erinnerung hatte. Und so sang er mit für Zwerge unüblicher wohlklingender Tenorstimme:
„Kennst du die Perle
vom Grüber Land
die Augustine,
die ich hier fand ...“
Nach dieser künstlerischen Einlage, die Augustine einige Tränchen der Rührung aus den Augen drückte, machten sich die Zwerge zufrieden auf den Weg in ihre Schlafhöhlen.
Bis auf Oschi – denn wie gesagt, es ist ja altes Zwergengesetz, dass der jüngste Zwerg in dieser Nacht aufbleiben darf, so lange er will. Und das tat er natürlich auch.
Nachdem die alten Zwerge nach vielen Ermahnungen, dass er nichts Dummes anstellen soll, endlich im Felseninneren verschwunden waren, legte sich Oschi aufatmend in die Hängematte.
Wie still es auf einmal war.
Der Vollmond war hinter den Baumwipfeln verschwunden.Oschi wollte es sich gerade in der Hängematte gemütlich machen, da sirrte eine Stechmücke um ihn herum. Er schlug nach ihr, sie war weg, er legte sich wieder hin, sie war wieder da, wieder und immer wieder. Oschi konnte sie einfach nicht erwischen.
Plötzlich huschte ein Schatten heran, schnell wie ein Pfeil. Kohlschwarze Flügel, zwei nadelspitze Zähne, rotglühende Augen rasten auf ihn zu ----- und an ihm vorbei. Hörte er da hinter sich ein leises Knacken ? Oschi drehte sich um. An einem kleinen Zweig hing ein schwarzes Wesen, das offenbar genüsslich eine Schnake verspeiste.
Oschi plumpste unsanft von der Hängematte und versuchte, sich notdürftig dahinter zu verstecken. Glühendrote Augen starrten ihn an. „Ich kann Zwergenkarate,“ stotterte er mutig.
„Und ich kann Dschula-bin,“ zirpte das schwarze Ungeheuer. Hatte es dabei gekichert ?
Schließlich siegte die Neugier bei beiden über die Angst. „Wer bist du?“ fragte Oschi und kroch vorsichtig hinter seiner Hängematte hervor. „Mein Name ist Walpurga. Ich bin eine Zwergfledermaus und wohne im Mühlenkeller.“
Oschi verbeugte sich nach alter Zwergenmanier und wollte sich vorstellen. „Ich bin ...“ weiter kam er nicht.
„Pass auf, Gefahr !“ kreischte Walpurga schrill.
Oschi warf sich herum – zwei gelb glühende Augen kamen auf ihn zu. Er kannte diese Augen, er hasste diese Augen ! Jeder Zwerg hasste diese Augen !
Eine Katze !
Eine Katze, der größte Feind aller Zwerge!
Oschi war starr vor Schrecken – und die glühenden Augen kamen näher und näher. Oschi war starr vor Angst, unfähig, sich zu bewegen.
Da zischte ein schwarzer Schatten am Kopf der Katze vorbei, er kam von rechts, von links, von allen Seiten, immerund immer wieder. Wütend schlug die Katze nach ihm und drehte Oschi nun den Rücken zu. Mit ihrer Tatze schlug sie nach dem Störenfried, konnte ihn aber nicht erwischen.
Der schwarze Schatten – natürlich war es Walpurga – ärgerte die Katze so sehr, dass diese sogar mit großen Sprüngen versuchte, die kleine Fledermaus zu fangen.
Oschi schaute gebannt zu.
Klatsch – ohne dass er eine Bewegung machen konnte, wurde Oschi von einem schwarzen Mantel eingeschlossen. „Bleib liegen, beweg dich nicht !“ zischte der Mantel. Walpurga hatte ihn mit ihren schwarzen Fledermausschwingen zugedeckt.
Oschi blinzelte über Walpurgas rechten Flügel. Die Katze drehte sich suchend im Kreis, kam drohend auf sie zu – er sah ihre stechenden Augen – sie kamen näher und näher. Er hörte ihr drohendes Knurren. Plötzlich brummte die Katze ärgerlich, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Die Gefahr war vorbei.
Walpurga hing wieder an ihrem Zweig, Kopf nach unten, die weißen Zähne gebleckt, als ob sie grinsen würde. Oschi wollte sie fragen, ob er sie einmal besuchen könne, aber bevor er ein Wort herausbrachte, schoss die Fledermaus auf ihn zu, grub ihre nadelspitzen Zähne in seinen Oberarm, blitzschnell immer wieder und immer wieder. Für Oschi war es ein Gefühl halb wie Kitzeln und halb wie Pieksen.
Mit einem hohen Quieken – oder war es ein Kichern ?- verschwand Walpurga in die Nacht.
Am nächsten Tag entdeckte Opa August das seltsame, bläulich-violett gefärbte Muster auf Oschis Oberarm. Einen Augenblick sah er seinen Enkel nachdenklich an, dann schmunzelte er verstehend und voller offensichtlicher Anerkennung: „Aha, Vampirbruder!“
So weit war der junge Zwerg noch nie von seinem geliebten Augustafelsen entfernt gewesen.
An einem Herbstmorgen war er auf dem Trampelpfad, den er zusammen mit Opa August zur Helenenquelle ausgetreten hatte, ins Tal gegangen. Bei Steinheinz blieb er respektvoll stehen und verbeugte sich tief nach Zwergenmanier. Er glaubte, ein leises Grummeln als Antwort gehört zu haben und machte sich erleichtert in Richtung Zeickhorner Mühle weiter auf den Weg. Zuerst war der Buchenwald noch licht. Eichhörnchen vergruben Bucheckern im weichen Waldboden und huschten in den mächtigen Buchen durch die Äste als ob sie Fangen spielen würden.
Bald aber war der lichte Laubwald zu Ende und Oschi stand vor einer dunklen Wand aus eng zusammenstehenden jungen Fichten. Mit seiner Zwergennase entdeckte er aber bald dass ein fast geradliniger Pfad durch das Gehölz führte. Manches Menschenkind wäre wohl vor der Dunkelheit der Allee und den wie drohend dicht an beiden Seiten stehenden Nadelbäumen zurückgeschreckt und umgekehrt.
Oschi machte die Enge und die Dunkelheit nichts aus. Er war dies ja schließlich aus seiner Zwergenbehausung gewohnt. Dabei war er – zwergisch gerechnet – auch noch ein Kind. Oschi hatte nämlich vor kurzem seinen 100sten Geburtstag gefeiert und das ist genau das Alter, wo Zwerge in die Schule kommen und ihre Zipfeltüte bekommen.
Nun gibt es zwar im Ort eine Zwergschule, aber die ABC-Schützen hätten wohl nicht nur ein bisschen gestaunt, wenn ein Zwerg mit zugegeben noch recht lichtem Bartwuchs zu ihren Klassenkameraden gehört hätte. Auch die organisatorischen Probleme wären wohl unüberwindlich gewesen: Wer hätte das spezielle Mobiliar besorgt, die Schulwegbeförderung zum Augustafelsen finanziert?
Im Familienrat sprach Opa August ein Machtwort und bestimmte: „Wir bleiben unter uns!“ Ausnahmsweise stimmte ihm sein Schwiegersohn Auguste mit einem überzeugtem „Basta“ zu.
Damit war die Schullaufbahn des jungen Zwergs entschieden und Mama Auguste übernahm die Schulausbildung.
Oschi hatte jeden Tag außer an Zwergenfeiertagen – und davon gibt es ungefähr 200 – eine Stunde Unterricht bei seiner Mutter. Anfangs war sie sehr streng und gab ihm jeden Tag Hausaufgaben auf. Eine Zeit lang wunderte sie sich, dass Oschi fast jedes Mal zu Beginn der Unterrichtsstunde ein gewisses Bedürfnis empfand und auf dem Plumpsklo verschwand. Bis sie nach einigen Tagen einen Blick durch das ausgesägte Herzchen in der Toilettentür riskierte, was sie eigentlich sonst nie tat. Was sie da sah, brachte sie so in Rage, dass sie die Tür aufbrach und ihrem Sohn zwei kräftige Ohrfeigen verpasste. Das war übrigens das erste und bis jetzt auch das letzte Mal. Und warum? Ihr könnt es euch wohl denken: Oschi wollte ein wenig Zeit sparen und seine Hausaufgaben während der Schulzeit auf einem vermeintlich sicheren Örtchen erledigen.
Eine Zeit lang wurde er darauf hin von den Familienmitgliedern mit Verachtung gestraft, denn Unehrlichkeit ist schließlich etwas, was man Zwergen noch nie vorgeworfen hat, und so wurde er vom gemeinsamen Esstisch verbannt. Oma Augusta versorgte ihn aber auch am Nebentisch bestens mit Leckereien und Getränken.
Oschi musste ein wenig schmunzeln, als er sich daran erinnerte. Die Strafe war erträglich gewesen. Und deswegen sorgte er sich auch nicht um heute. Er war so weit weg von zu Hause, dass er es zur nächsten Unterrichtsstunde sowieso wieder einmal nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. „Was soll`s?“ sagte er sich und trat aus dem düsteren Tunnel der Nadelbäume hinaus, einem neuen Abenteuer entgegen.
Der abenteuerlustige Zwerg trat in ein graues, feuchtes Zwielicht, das er von seiner Felsenheimat nicht kannte. Hätte er in seiner Zwergenschule besser aufgepasst, dann wüsste er, dass die Menschen das „Nebel“ nennen. Schwer waberte der graue, feuchte Schleier über dem Grund. Oschi sah zum Himmel auf, an dem eine milchige Scheibe zunehmend heller wurde. Er stieg an der Hangwiese, die rechts von ihm in die Höhe ragte, ein Stückchen hinauf, setzte sich auf einen mit Gras überzogenen Stein und wartete.
Zwerge haben viel Geduld. Das hängt wohl mit ihrer langen Lebenserwartung zusammen. So erlebte der neugierige Zwerg, wie die weiße, fast unsichtbare feuchte Masse immer mehr zum Bach hin absank. Oschi stand jetzt an seiner erhöhten Position im hellem Sonnenlicht während aus der Nebeldecke unter ihm langsam die Spitzen von Erlen und Weiden zum Vorschein kamen.
Wie riesige silberne Schwerter schnitten Sonnenstrahlen durch die fast kahlen Äste der Bäume am Bach.
Auf einmal hörte Oschi Geräusche, wundervolle Flötenklänge, die er noch nie vorher in seinem Leben gehört hatte. Sie schienen aus dem Füllbachgrund zu kommen. Neugierig, wie er nun mal war, konnte er nicht widerstehen und wollte wissen, woher die wundervolle Musik kam. Vorsichtig, so wie es ihn sein Opa August gelehrt hatte, stieg er zum Bachbett hinab.
Immer deutlicher, aber auch schöner wurde die Flötenmusik. Und als Oschi am Ufer angekommen war, erblickte er ein seltsames Wesen, das an einem Baumstamm lehnte und auf einem seltsamen Holz die wundersame Musik machte.
Der Mensch – wenn es denn einer war – hatte einen nackten Oberkörper. Aus seinen gelockten dunklen Haaren konnte Oschi zwei spitze Hörner herausstehen sehen, so wie bei einer jungen Ziege. Das Seltsamste aber waren seine Beine. Sie schienen mit Fell bedeckt und in Hufen zu enden.
Fasziniert beobachtete der junge Zwerg dieses Wesen. Angezogen durch die Flötenmusik, die wohl noch nie ein Zwerg vor ihm gehört hatte (dachte Oschi), taumelte er immer näher an das Bachufer heran. Auf der anderen Seite des Wassers erklang verlockend die wundervolle Musik weiter.
„Wer bist du?“ wagte der junge Zwerg zaghaft zu rufen. Sein Gegenüber schien ein wenig zu kichern. „Ich bin ein Faun, du kannst mir traun!“ kam vom anderen Bachufer zurück. „Deine Musik gefällt mir,“ meinte Oschi. „Ja?“ kicherte der Faun, „dann komm zu mir, ich zeig dir, wie man sie macht.“ Und schon setzte er seine Flöte wieder an die Lippen. Oschi war entzückt und fühlte sich von der Musik wie verzaubert.
Wenn es etwas gibt, was Zwerge nicht können, dann ist es das Schwimmen. Dafür sind sie viel zu schwer. Oschi wusste das und rief deshalb zum Faun hinüber: „Ich kann aber nicht schwimmen!“ „Das Wasser ist doch nicht tief,“ kam die beruhigende Antwort vom anderen Ufer. „Du musst doch nur durchwaten!“ Wieder stimmte er eine verlockende Melodie mit seiner Flöte an.
Oschi zögerte. Der Bach vor ihm war wirklich nicht sehr tief, aber konnte er als Nichtschwimmer das beurteilen? Deshalb rief er zurück: „Bist du sicher, dass das Wasser nicht tief ist?“ Das Wesen auf der anderen Seite des Wasserlaufs kicherte, setzte seine Flöte an und spietle eine kleine Melodie. Nach der gleichen Melodie sang er danach: „Ich bin ein Faun, du kannst mir traun.“
Der neugierige, junge Zwerg konnte der magischen Verlockung nicht widerstehen. Mutig stapfte er in das Bachbett, das offensichtlich nur knietief (von Menschen aus gesehen) gefüllt war. Drei oder vier Schritte hatte Oschi hinter sich als er bemerkte, dass der Boden unter ihm nach gab. Immer tiefer versank er in der Sandbank des Flusses. Verzweifelt kämpfte er sich weiter an das andere Ufer. Unter riesigen Anstrengungen schaffte er es bis zur Flussmitte. Die Wassertiefe wäre für einen Menschen kein Problem gewesen. Aber ein kleiner Zwerg, kaum größer als ein Schullineal, säuft darin ab. Und so geschah es auch. Das Letzte, was Oschi noch mit bekam, waren die fröhlichen Flötentöne des Fauns, der in einem Weidenbaum sitzend mit spötischem Gesichtsausdruck auf ihn herunter sah.
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„Dummer kleiner Zwerg,“ hörte Oschi eine sanfte Frauenstimme sagen. Eine schöne, nackte Frau mit graumetallisch schimmernder Haut kniete neben ihm. „So sieht also der Zwergenhimmel aus,“ dachte sich der Zwerg und merkte gar nicht, dass er die etwas geöffneten Augen wieder schloss. Ein heftiger Stoß auf seinen Brustkorb ließ ihn Wasser ausspucken, so viel wie ein ganzer Zwergenbecher fasst. Oschi musste husten und öffnete nun richtig wieder die Augen. Die Frau kniete immer noch neben ihm und lächelte ihn an. „Du dummer, kleiner Zwerg,“ sagte sie geradezu zärtlich zu ihm. „Los jetzt, geh nach Hause, du bist ja völlig durchnässt“. „Aber nimm diesmal die Brücke über den Bach, das ist für Zwerge gesünder“, fügte sie schmunzelnd hinzu und verschwand im Dunst des Auengrundes.
Das wunderbare Wesen, das ihm das Leben gerettet hatte, war – wie er später von Opa August erfuhr – eine Nymphe.
Zuerst etwas unsicher auf den Beinen, dann aber so schnell, wie ihn seine kleinen Zwergenbeine tragen konnten, machte er sich auf den Weg zur Brücke bei Steinheinz. Er vergaß nicht, ihn auch diesmal zu grüßen, hastete aber dann so schnell er konnte den Hang zum häuslichen Augustafelsen hinauf.
Was war das für eine Aufregung in der Zwergenfamilie, als der völlig durchnässte und erschöpfte Oschi die heimische Höhle erreicht hatte !
Vater und Opa heizten gleich eine kleine Höhlenkammer mit trockenem Holz ein, Oma Auguste gab Kräuter aus ihrer Apotheke dazu, und dann wurde Oschi nackig ein paar Minuten in diese Hitze geschickt. „Das muss jetzt die Zwergenhölle sein,“ kam es dem vor Schweiß triefenden Zwerg in den Sinn. Aber in Erinnerung an sein Abenteuer musste er selbst ein wenig schmunzeln und wartete geduldig, bis Oma Augusta ihn von der Hitzequal erlöste und mit trockenem, duftenden Heu trocken rieb. „Das musste sein, damit du nicht krank wirst,“ erklärte sie ihm.