Der Zwolb vom Reichenbach-

haus

Der Zwolb vom Reichenbachhaus

Eine wahrhaftig erfundene Heimatsage

von

Klaus Kempf

Mysteriöse Ereignisse

Bei der Renovierung des Reichenbachhauses ereigneten sich seltsame Dinge, die von mehreren Personen glaubhaft bezeugt werden:

- Eine Maurerkelle, die sorgfältig am Freitag Abend zu den anderen Werkzeugen gelegt wurde, war in der nächsten Woche verschwunden. Wochen später wurde sie im Stall wieder gefunden.

- Ein Dreieckschleifer war weg, das ganze Haus wurde bei der Suche nahezu auf den Kopf gestellt. Die schlimmsten Verdächtigungen machten die Runde. Schließlich fand man ihn auf dem Dachboden in einem Pappkarton wieder.

- Der einzige Elektroanschluss für den Kühlschrank befindet sich im sogenannten „Technikraum“. Mindestens zehnmal befand sich das Gerät – der Kühlschrank - in einem anderen Zimmer und musste mühsam zurück geschleppt werden.

- Im WC stank es wochenlang bestialisch. Von einen Tag auf den anderen war die Belästigung weg, ohne dass jemand an der Installation etwas verändert hatte.

- Häufig brannte Licht im Keller, obwohl glaubhaft versichert wird, dass es vorher zuverlässig ausgeschaltet worden war.

Man bat mich, eine Erklärung für diese seltsamen Begebenheiten zu finden, doch auch ich war zunächst ratlos.

Obskurtilogie

Schließlich führten viele Zufälle und meine Studien in der Obskurtilogie zur Lösung des Rätsels.

Obskurtilogie ist übrigens eine nahezu vergessene Wissenschaft, die sich mit der Suche nach den „seltsamen“ (obskuren) „Kleinen“ (Kurti) beschäftigt. Die bekanntesten Spezies bei uns sind Zwerge, Heinzelmännchen, Kobolde, Klabauter und Wichtel.

Es würde zu weit führen, wenn ich all meine Studien im Einzelnen darlegen würde. Ich will im Folgenden daher lediglich die Ergebnisse meiner Forschungen schildern.

Zwolbe

Aus den eigenartigen Vorkommnissen im Reichenbachhaus war der Schluss naheliegend, dass es sich bei den Verursachern um arbeitsame Wesen handeln musste. Zwerge oder Heinzelmännchen kämen dafür in Frage, aber irgendwie passten die Ereignisse nicht zu den Lebensgewohnheiten dieser Wesen.

Da stieß ich in der amerikanischen Literatur zur Obskurtilogie – eher zufällig – auf den Begriff „Dwarfley“. Es wäre falsch, dieses Wort mit „Zwerglein“ zu übersetzen. Dwarfleys haben zwar durchaus Ähnlichkeiten mit den uns bekannten Zwergen, unterscheiden sich aber äußerlich und in ihren Lebensgewohnheiten deutlich von diesen.

Gemeinsam sind den beiden Arten z.B. die kleine Statur und der Beruf, der zum Lebensinhalt wurde: Die Suche nach Schätzen unter der Erde. Große Unterschiede gibt es jedoch im Erscheinungsbild. Während ein Zwerg wie ein klein gewachsener, alter Mensch aussieht und auf Kleidung angewiesen ist, wird der Dwarfley durch seinen Pelz, der übrigens ganz unterschiedliche Farbe annehmen kann, gegen Kälte und Nässe ausgezeichnet geschützt.

Der größte Unterschied zwischen beiden Spezies besteht jedoch, zumindest aus menschlicher Sicht, darin, dass Zwerge für den Menschen grundsätzlich sichtbar sind.

Dwarfleys dagegen können nur unter ganz speziellen Voraussetzungen vom menschlichen Auge erfasst werden. Sie gehören damit eher in die Gruppe der Koboldwesen.

Da es diese Wesen, die Dwarfleys, in der europäischen Literatur nicht gibt, habe ich für sie den wissenschaftlichen Namen „Zwolb“ gewählt. Dabei handelt es sich um eine Verbindung von „Zwerg“ und „Kobold“, wobei die Bezeichnung „Zwold“ durchaus auch zutreffen würde. Da Kobolde selbst aber „b“ und „d“ ständig verwechseln, macht der letzte Buchstabe keinen Unterschied.

Zwolbe, Dwarfleys, sind in Europa, der sogenannten „Alten Welt“ unbekannt. Überliefert ist ihre Existenz lediglich in alten indianischen Erzählungen aus Nordamerika.

Nun mag man sich fragen, was ein Zwolb, den es in Deutschland gar nicht gibt, mit den mysteriösen Ereignissen im Reichenbachhaus zu tun haben könnte. Dazu kommen wir gleich.

Flickschneider Reichenbach

Bei meinen heimatkundlichen Forschungen über Auswanderer aus Grub am Forst stieß ich auch auf den Namen Reichenbach. Mitte des 19. Jahrhunderts war ein lediger Schneidergeselle diesen Namens aus Grub am Forst von Bord des Seglers „Very much Nepp“ in New York angekommen und wollte nach Michigan weiterreisen. Dort hatte sich am Muskegon-River bereits eine kleine Grüber Kolonie gebildet.

Sein Glück scheint er in der „Neuen Welt“ nicht gefunden zu haben, denn etwa 20 Jahre später kehrte er nach Grub zurück. Er lebte von da an im Reichenbachhaus, das er von einem Verwandten geerbt hatte, und versuchte, sich seinen Lebensunterhalt durch Flickschneiderei zu verdienen. Dies gelang ihm mehr schlecht als recht, denn bald hatte er so viele Schulden, dass sein Häuschen, das Reichenbachhaus, zur Versteigerung anstand.

Und nun kommt das nahezu Unglaubliche: Von einem Tag auf den anderen konnte der Schneider seine Schulden bezahlen und lebte bis zu seinem Lebensende zwar nicht in Reichtum aber ohne finanzielle Not. Bei den neidischen Grübern brachte ihm dies den Spitznamen „Reich-am-Bach“ ein, was dem Schneider aber nur ein wohlwollendes Grinsen entlockte. Mancher behauptete aber, der Reichenbach habe in bierseliger Laune so etwas von sich gegeben wie „So a Brockn“. War da vielleicht ein Klumpen Gold gemeint, den er in Amerika gefunden hatte ? Aber warum musste er dann nach seiner Rückkehr erst so viel Schulden machen, gar die Versteigerung seines Hauses riskieren ?

Nein, der Reichtum muss ihm erst später zugefallen sein, auch wenn er ihn – wie ich gleich darlegen werde – wirklich aus den USA mitgebracht hat.

Eine alte Indianerlegende

Von meinen Erzählungen angeregt, machte sich eine entfernte Verwandte in Michigan auf die Suche nach Spuren. Bei einem uralten Medizinmann der Potawatomy-Indianer mit Namen Pontiac wurde sie schließlich fündig. Er berichtete von kleinwüchsigen, normalerweise unsichtbaren Wesen, die man in seiner Sprache „Shoa-brokh-l“ nennt. „Brokh“ ist in der Sprache der Potawatomys die Bezeichnung für Biber. Der ganze Name könnte etwa übersetzt werden mit „Der mit den Bibern gräbt“. Die Indianer gaben dem Wesen diesen Namen, da es sich nahezu ausschließlich bei Biberdämmen aufhält. Pontiac wusste zu berichten, dass „Shoa-brokh-l“ nahezu ununterbrochen damit beschäftigt sei, am Biberbau Gänge in das Flussufer zu treiben, um darin nach Schätzen zu suchen. Biberdämme scheinen hierzu besonders geeignet zu sein, weil das Wasser auch jede Menge Wertvolles hier anschwemmt.

Und noch etwas wusste der alte Indianer: „Shoah-brokh-l“ konnte für Menschen sichtbar werden. Dazu musste man zu einer ganz bestimmten Zeit dreimal hintereinander seinen Namen rufen. Zu welcher Zeit – das wusste er allerdings nicht zu sagen. Wenn er es wüsste, müsste er nicht dieses armselige Leben führen, meinte er verschmitzt durch seine drei gelben Zähne grinsend. Denn wenn der Zwolb einmal sichtbar geworden sei, müsse er einen Teil seiner gefundenen Schätze an seinen „Meister“ abgeben.

Puzzleteile fügen sich zusammen

So muss es sich zugetragen haben:

Um 1850 wanderte ein Schneidergeselle namens Reichenbach nach Amerika aus. 20 Jahre später kam er zurück, weil er von einem Onkel das Reichenbachhaus erbte.

In seinem Gepäck befand sich, ohne dass er es wusste, unbemerkt, ein Zwolb. Zwolbe sind normalerweise unsichtbar. Sie suchen normalerweise in der Nähe von Biberbauten an Uferrändern nach Schätzen. In der Sprache der Indianer heißen sie Shoah-brokh-l.

Im Kellerloch des Reichenbachhauses fand der Zwolb eine ideale Wohnstube. Im Bachbett des damals noch nicht durch Betonwände eingezwängten Füllbachs konnte er seiner Arbeit nachgehen: Gänge graben, manchmal den Bach anstauen und nach Schätzen suchen.

Eines Tages muss es dem Schneider gelungen sein, den Zwolb durch das dreimalige Rufen seines Namens sichtbar zu machen. Von da an musste Shoah-brokh-l einen Teil seiner Funde an seinen Meister abgeben, was diesem seinen Lebensunterhalt sehr erleichtert hat.

Nach dem Tod des Schneiders arbeitet der Zwolb weiter im Bachbett. Allerdings wird seine Suche nach Schätzen immer schwieriger, denn die Ufer des Füllbachs werden in Betonwände gepresst. Deshalb probiert Shoah-brokh-l nunmehr die verschiedensten Werkzeuge aus, um seine Gänge im Bachbett gut begehbar zu halten: Die Kelle, um Risse zuzustreichen, die Schleifmaschine um Grate und Kanten zu beseitigen, usw.

Shoah-brokh-l ist kein Dieb, er bringt alle Werkzeuge nach Gebrauch wieder zurück. Er hat sich natürlich nicht gemerkt, an welcher Stelle er sich die Sachen ausgeborgt hat. Gelegentlich bedankt er sich sogar für die Ausleihe durch eine gute Tat.

Es dürfte allerdings schwierig sein, ihn zu Gesicht zu bekommen. Man weiß zwar, dass man dreimal seinen Namen, also „Shoah-brokh-l“, rufen muss, aber wann der richtige Zeitpunkt ist, um ihn hervorzulocken, das weiß keiner.

So bleibt nur übrig, es immer wieder zu versuchen – am besten beim Kellerloch des Reichenbachhauses: Shoah-brokh-l !!!

Fehlende Puzzleteile

Trotz des insgesamt stimmigen Bildes bleiben doch noch einige Fragen offen, die auch ich noch nicht endgültig beantworten kann.

  1. Wie gelang es dem Schneider, den Zwolb sichtbar werden zu lassen ?

Von dem alten Indianer wissen wir, dass Shoah-brokh-l sichtbar wird, wenn zu einer gewissen Zeit dreimal sein Name gerufen wird.

Dies könnte sich folgendermaßen zugetragen haben:

Zu des Schneiders Lebzeiten war es üblich, dass bei Hausschlachtungen den Nachbarn, besonders den armen, eine warme Wurstsuppe mit mehr oder weniger Inhalt geliefert wurde. Meistens befanden sich darin die Reste aufgeplatzter Würste. Nun könnte es sein, dass unser Schneider eine Wurstsuppe mit einer besonders großen aufgeplatzten Wurst erhielt. Wohl gemerkt, sein Haus stand zur Versteigerung an, er selbst nagte am Hungertuch. Könnte er nicht da vielleicht aus lauter Freude über die große Wurst in den Ruf ausgebrochen sein:

So a Brockn

So a Brockn

So a Brockn

Und er hatte Shoah-brokh-l zum richtigen Zeitpunkt erwischt. Der Zwolb glaubte, seinen Namen zu hören, dreimal gerufen, wurde sichtbar und musste von da an dem Schneider dienen.

  1. Hat Shoah-brokh-l mit den jahrelangen Wasserverlusten der Gemeinde zu tun ?

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn der Zwolb benötigt natürlich immer einen gewissen Wasserstand im Bach, um seinem Handwerk nachzugehen. Hat eigentlich schon jemand überprüft, ob Wasser aus der Wasserleitung in den Bach abgeleitet wird ?

2. Warum hat seit dem alten Reichenbach noch niemand Shoah.brokh-l gesehen?

Das hat wohl zwei Ursachen: Zum einen gibt es den Brauch mit der Wurstsuppe nicht mehr, zum zweiten wissen wir immer noch nicht den richtigen Zeitpunkt, wann Shoah-brokh-l auf den Ruf seines Namens hören muss.

So bleibt uns nichts anderes übrig, als es immer und immer wieder zu versuchen – und in das Kellerloch dreimal seinen Namen zu rufen

Shoah-broh-l

Shoah-broh-l

Shoah-brokh-l !