500 Jahre Bauernkrieg 1525
Tanja - eine kurze Erzählung
1) Schweigend sitzen die beiden Männer an diesem herbstlichen Abend vor dem knisternden Feuer des Kamins. Sie sind beide nicht mehr jung - und doch noch keine alten Männer; sie stehen im Frühherbst ihres Lebens. Schulfreunde sind sie, kennen sich fast eine Ewigkeit. Haben sich nie aus den Augen verloren, wenn der Kontakt doch auch einige Male stiller gewesen war, nicht so wie früher, wo sie beinahe täglich miteinander etwas unternahmen, sich lange Briefe schrieben.
Die beiden Freunde schauen gedankenverloren in das Feuer. Es ist, als würden sie jeweils ihre eigene Welt jenseits der Flammen suchen.
Endlich fängt Friedrich an, das Schweigen zu brechen. Seine Stimme ist ein wenig knorrig. "Dein Telegramm hat mich erreicht. Ich kam, so schnell ich konnte. Ich wußte, daß es so ausgehen würde - mit dieser russischen Tänzerin, dieser Tanja."
Karl räuspert sich. "Ich bin dir dankbar, daß du schnell den Weg zu mir gefunden hast. Du mit deinem "ich wußte es". Klar war es nie, daß Tanja, die Tänzerin - nein, sie war ja nicht Tänzerin, sie war Tanzlehrerin - solch einen Lebensweg haben würde." Er schweigt und fügt tonlos an: "Ich habe sie geliebt."
"Was meint denn: "Habe sie geliebt", Karl?", antwortet Friedrich. "Du liebst sie doch immer noch. Oder nicht?"
Gegenfragend Karl: "Was verstehst du schon von Liebe?! Natürlich liebte ich sie immer, aber sie ließ mir nie eine Chance."
Die Holzscheite im Kamin fallen krachend zusammen. Im weiten Bogen stieben die Funken auf den gekachelten Fußboden.
"Hmmmh. Mit der Chance hast du unrecht. Du hast dir deinen Weg selbst verbaut. Du wolltest Freundschaft, Freundschaft, Freundschaft, sagtest du damals und immer wieder, und doch wolltest du wohl eigentlich Liebe. Du trägst selbst die Verantwortung."
Karl schaut den Freund nicht an: "Damals erschien mir das aus meiner Gedankenwelt heraus der einzig richtige Weg. Sie hat mich fasziniert. Ich fand sie umwerfend, entzückend, jugendlich - und auch abstoßend zugleich. Ich wollte sie völlig verstehen."
"Abstoßend?", fragt Friedrich.
"Ja, Tanja war für mich zu dominierend. Sie dominierte ja auch ihren gesamten Freundeskreis. Sie umgarnte mich, wie eine es auch eine häßliche, dicke Spinne tut. Wie eine "Schwarze Witwe". Und dann diese Affären: Heute hier ein Mann, morgen der nächste. Sie war damals sehr lebenslustig. War ja auch eine verdammt attraktive Frau. Warum zieht eine Frau mit verschieden Männern herum? Weil sie nicht glücklich ist! Und dann fehlte ihr auch irgendwie die Organisation."
"Ja, die Selbstorganisation fehlte ihr, aber sie hatte ja auch immer jemanden, der dies für sie bereitwillig übernahm. Die Männer fraßen ihr geradezu aus der Hand."
"So war ich auch eine Zeit, so dumm war ich, bis ich ihr auf die Schliche kam. Ich habe auch deswegen die Freundschaft zu ihr gebrochen, habe sie aus den Augen verlieren wollen. Freundschaft heißt Geben und Nehmen. Es war ein bewußter Bruch - und tat mir damals doch weh, sehr weh. - Menschsein beginnt für mich, wenn wir unsere animalischen Triebe überwinden."
"Und warum dann jetzt dein Schreiben, Karl?"
"Ich wollte, daß du...." Karl beendet den Satz nicht. "Es ist jetzt spät, laß uns zu Bett gehen."
Sie grüßen sich knapp und doch einverständlich zur Nacht und gehen auf ihre Zimmer.
2) Beim Frühstück treffen sich Friedrich und Karl wieder. Wieder sitzen sie schweigend da. Der Herbstwind pfeift um das Dach.
Karl: "Ich wollte, daß du mitkommst zu Tanja. Natürlich habe ich sie nicht aus den Augen verloren. In der Zeitung stand ja schließlich auch einiges über sie, immer wieder. Ihre Skandalphotos, ihre Scheidungen. Wie häufig wurde ich an sie erinnert. Immer wieder."
"Wann müssen wir los, Karl?"
"Wir haben noch Zeit, viel Zeit."
"Erzähle mir von ihr. Damals, als du sie kennenlerntest, war sie Mitte 20. Ja ich kann mich noch ganz genau an ihre Art erinnern. Ein wirklich nettes, gepflegtes Persönchen."
"Natürlich war sie nett, Friedrich. Aber sie hat mir das Herz gebrochen. Ohne mich zu verabschieden ging ich damals weg. Das Schicksal wollte es so. Es war so etwas wie Krise in meinem Leben. Und auch Müdigkeit, nach diesem Mißerfolg bei ihr. Ich hatte damals eine rechte Beule im Gemüt, war verwundet durch ihre Art. Und ich habe diese Verwundung nie wirklich ausgeheilt. - Ich ging in den Krieg, bei Ypern war ich eingesetzt, dort wurde ich zweimal schwer körperlich verwundet, du weißt es. Aber die Schmerzen dadurch waren nie so schlimm, wie die Schmerzen meines Herzens. Wäre ich doch im Krieg geblieben!
Ich glaube, sie ging damals dann sofort ins Ausland. Südamerika. Vielleicht wollte sie nur ihren Tango verbessern? Zufällig hörte ich über einen Geschäftsfreund, daß sie dort geheiratet hatte. Aber die Beziehung hielt nicht lange. Sie trennte sich bald. Ich glaube, daß sie zu echter Liebe unfähig war, damals. - Dann, wohl achtzehn Jahre nach unserem Scheiden, las ich in der "New York Times" über sie. Ihr zweiter Mann hatte sich von ihr scheiden lassen. Die ganze Schicki-Micki-Gesellschaft aus ihren Tänzerkreisen hatte ihn wohl gestört. Vor allem, da sie mit jedem tanzte - nur nicht mit ihm. Fünf Liebhaber an jedem Finger! Bise rechts, Bise links."
"Ich erinnere mich, du sprachst schon einmal davon."
"Und dann, kurz darauf schon, wurde sie krank. Sehr krank. Die Ärzte hatten keine Hoffnung mehr für sie. Sie ging dorthin zurück, wo ihre eigentliche Heimat war, sie kam vor sechs Monaten zurück hier in unser geruhsames Städtchen, zu ihrer Zwillingsschwester, die mit Tanja und der Mutter aus Rußland gekommen war, damals nach der Bolschewikenrevolution."
"Hast du sie noch mal gesehen?"
"Ich wollte es, habe viele Stunden vor dem Haus verbracht, in dem sie lebte. Aber sie kam nie heraus. Die Vorhänge waren immer zugezogen. Es war ein Geisterhaus. Und vorgestern stand dann im Kreisblättchen, daß sie gestorben ist." Brüchig ist die Stimme von Karl. "Sie ist gestorben, ohne daß ich sie wiedersah."
Nach einer langen Pause spricht Karl weiter: "Warum muß ein Mensch eigentlich einen anderen Menschen lieben? Und was ist Liebe?"
3) Die Beerdigungsgesellschaft hat sich in der winzigen, kalten Kapelle versammelt. Es sind nur einige aus der Familie und einige wenige Klageweiber gekommen. Karl und Friedrich waren langsam, ja geradezu zögerlich, zum Friedhof gegangen.
Und dort liegt sie, seine Liebe, seine Tanja, der er lange hinterhergelaufen war - und die er nicht gefunden hatte. Ihre Haare waren grauer geworden, aber sie sah immer noch so liebreizend aus wie an dem Tag, an dem er sie erstmals vor neunzehn Jahren gesehen hatte.
Karl stellt sich betend an den geöffneten, aufgebockten Sarg. Es ist ein seltsames Gebet, das er da still und ergriffen vor sich hinmurmelt.
"Ich wollte deine Freundschaft, ich wollte deine Liebe. Und ich verriet die Freundschaft. Eine Entschuldigung kommt jetzt zu spät. Aber vielleicht hörst du mich doch? Schlafe wohl, meine Tanja, mein Herz, meine Rose."
Die Trauerfeier ist schnell vorbei. Der Sarg wird in die Tiefe gelassen. Karl grüßt noch einmal, wirft gedankenverloren Blumen und Erde.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
4) Die beiden Männer sitzen wieder schweigend am Kaminfeuer, das durch den Herbstwind gut zieht. Bald wird es Winter werden. Das Feuer flackert weiter.
ã Erich Mann (Pseudonymus), 1966