5.3 Bocholt im Jahre 1794

Aktualisierung 26.02.2019

Bocholt im Jahre 1794 - Erinnerungen des Abbé Baston

Vorbemerkung:

Guillaume-André-René Baston wurde am 29.11.1741 in Rouen geboren. Nach dem Studium in Paris lehrte er in Angers Philosophie. Im Jahr 1766 zum Priester geweiht, wurde er 1788 Domkapitular in Rouen. Die französische Revolution riß Baston aus Heimat und Lehrtätigkeit. 1792 ging er nach London ins Exil. Sein Weg führte ihn dann nach Maastricht. Von dort fuhr er 1794 über Bocholt nach Coesfeld, wo er bis 1803 blieb. Nach Aufhebung der Verbannung wurde Baston 1811 Bischof von Séez und 1822 Generalvikar in Rouen, wo er am 26.09.1825 starb. Sein Bericht bringt uns das Leben in Bocholt um das Jahr 1800 näher.

"Endlich betraten wir westfälischen Boden. Bocholt nahm uns in seinen Mauern auf. Alle Leute unserer Karawane außer mir saßen auf einem Haufen von Möbeln aller Art, waren mit Stricken festgebunden, um nicht unter die Räder zu geraten, und halbtot vor Kälte. Wenn es eine sträfliche Schuld war - die Nachwelt wird dies allerdings kaum annehmen -, Frankreich zu verlassen, weil es seine Tyrannen so wollten und weil man sein Leben vor der drohenden Gefahr, seine Seele vor grausamen Beunruhigungen, deren es immer wieder neue gab, schützen mußte: die unsäglichen Qualen der Emigration haben diese Schuld gesühnt, und mehr als das.

Die Reise von Doesborg nach Bocholt hat mir keine erwähnenswerte Beobachtung geliefert. Ich sah fast nur unbebaute Ödflächen, weite Heidestrecken, die man hier und dort abträgt, um im Boden nach Heiztorf zu graben, ferner einige Häuser, so arm wie die ganze Gegend, in weiten Abständen voneinander. [...]

In Bocholt hatte ich nur Gelegenheit, viel zu leiden. Wenig konnte ich selbst beobachten, manches habe ich vom Hörensagen. Die Stadt ist schrecklich, von äußerster Unsauberkeit. Nichts darin ist schön, und wenn die Nächstenliebe es mir nicht verböte, würde ich vielleicht sagen, daß darin auch nichts gut sei. Das würde jedoch nur bedeuten, daß es nicht zu meiner Kenntnis gekommen ist, wenn man von der Stadt etwas Gutes sagen kann.

Bocholt hat eine Pfarrkirche, deren Schiff es verdienen würde, anderswo zu stehen. Aber ihr Schmuck ist von einer bitteren Häßlichkeit. Ich kenne in Frankreich keine Kirche auf dem Lande, deren Gemälde und Statuen im Vergleich zu denen des Bocholter Gotteshauses nicht von Rubens sein könnten. Die zwölf Apostel, jeder an seinem Pfeiler, erregen Angst. Wenn das, was man vom bösen Blick sagt, nicht eine Fabel ist, muß eine Bocholterin sich hüten, sie anzuschauen, wofern sie ihres Zustandes nicht ganz sicher ist oder sie sich nicht beunruhigt, wenn ihre Leibesfrucht von einer Grimasse verunstaltet wird. Nun schließlich: ab assuetis non fit passio, was man alle Tage sieht, tut einem nichts mehr. Ohne Zweifel aus diesem Grund sind die Gesichter in Bocholt regelmäßig, obgleich die seiner Apostel und Heiligen ganz verquer sind. Unten in der Kirche entdeckte ich ein steinernes Taufbecken, das mir durch seine Form und den Grad seiner Verwitterung von höchstem Alter zu sein schien. Ich würde gern glauben, daß es schon in den Anfängen des christlichen Glaubens in diesem Land existierte. Man weiß, daß Westfalen vor Karl dem Großen noch ganz heidnisch war und daß dieser Fürst hierzulande den Namen Jesu verbreiten und anbeten ließ. Daher ist das Volk in dieser Gegend auch noch fromm wie im 10. Jahrhundert. Abgesehen von einigen Mißständen, die man abstellen könnte und die ungefährlich sind, wiegt diese Art gewiß jede andere auf, um Heil zu erlangen.

Man sagte mir, daß es in Bocholt mehrere Klöster gäbe, dazu zwei Stifter mit Kapitelsdamen, die in Deutschland so verbreitet und im politischen Sinne nützlich sind. Diejenigen, von denen ich spreche, gleichen einer Abart dieser Einrichtungen und sind sehr verschieden von den übrigen. In dem einem Stift genügt der Adel von der väterlichen Seite für eine Pfründe, in dem anderen kann man vollständig bürgerlich sein. Ich glaube sogar, daß dort Adel ein Ausschließungsgrund ist. Daher sprechen denn auch unsere Stiftsdamen mit 16, 32 oder 64 Ahnen von diesen Mitschwestern nur mit einer Art Herablassung und sind fast beleidigt, daß man diesen einen ähnlichen Namen gibt wie den, welchen si selber tragen.

Unsere Geldbörse fand in Bocholt nur ein Mitleid, wie es Seeräuber aufbringen. Man ließ uns schrecklich teuer zahlen und gab uns wenig dafür. In den acht Tagen, die wir dort in einem Bürgerhaus zubrachten, bekamen wir nur eine einzige gute Mahlzeit: die erste. Die folgenden waren ungenießbar. Um das Unglück voll zu machen, weigerten sich die Bauern, uns zu fahren, wenn man nicht ihrer unersättlichen Gier alles Geld gab, was sie verlangten. Schließlich bekamen wir einen Karren mit drei Pferden für unser Gepäck und einen kleineren Wagen mit nur einem Pferd für die Frauen, von denen einige lieber zu Fuß gehen wollten. Zu einer gewöhnlichen Zeit hätten in einem Lande, wo das Geld rar ist, 20 oder 25 Francs die Mühe unserer Fuhrleute reichlich entlohnt. Wir hatten nur eine Fahrt von acht Wegstunden, und die Feldarbeit hatte aufgehört, oder es eilte nicht mit ihr. Aber jedermann wollte die gute Gelegenheit und unser Unglück ausnutzen. Wir mußten 45 Gulden geben, also einige Sous weniger als 100 Francs in unserem Gelde. Im übrigen waren unsere Fuhrleute nette Kerle, vor allem anständig, von guter Laune und großer Gefälligkeit. Da von anständigen Manieren nichts in unserem Vertrage stand, verdienen sie dieses Wort des Lobes."

Zitiert aus:

Weber, Heinrich; Coesfeld um 1800 - Erinnerungen des Abbé Baston; Bocholt 1980