Artikel für das Judo Magazine:Corona: Die Situation und das Training in Japan

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22.07.2020

Ich habe einen Artikel für das Judo Magazine Juni 2020 geschrieben. Ich werde es auf dieser Seite veröffentlichen.

Corona: Die Situation und das Training in Japan

Eine Grundsatzfrage

Wie die Corona-Pandemie das Judo im Mutterland beeinträchtigt - etwas Chronologie, ein Exkurs zu Olympia und ein Blick in den Schulsport

Von Heizo Takamatsu

 

Der erste Corona-Fall trat in Japan am 16. Januar 2020 auf. Ein in der Präfektur Kanagawa lebender, chinesischstämmiger Mann wurde positiv auf das Coronavirus getestet. Wenn man den danach veröffentlichten Statistiken Glauben schenken darf, hatte sich das Virus im Vergleich zu Europa in Japan zu diesem Zeitpunkt nicht beängstigend ausgebreitet. 

Am 26. Februar allerdings forderte der japanische Premierminister Abe einen Stopp beziehungsweise die Verschiebung oder Verkleinerung aller Sport- und Kulturveranstaltungen für zwei Wochen, mit dem Ergebnis, dass sehr viele Sportveranstaltungen abgesagt wurden. Vom 8. bis 22. März fand der Haru-Basho der Sumoringer vor leeren Zuschauerrängen statt. Das Fernsehen übertrug alle Wettkämpfe live, trotzdem war es ein ungewöhnlicher Anblick. Auch die ,Tokyo International Blind Judo Championships 2020“, ursprünglich für den 8. März geplant, mussten abgesagt werden. Das Training im Kodokan-Dojo war schon ab dem 27. Februar untersagt, auch das angegliederte Archiv und die Bibliothek mussten ihre Tore schließen. 

Aufgrund nun doch steigender Fallzahlen entschloss sich die japanische Regierung am 7. April, den Ausnahmezustand für Tokio, Osaka und fünf weitere Wirtschaftszentren auszurufen. Am 16. April wurde er auf das ganze Land ausgeweitet. Damit herrschten ähnliche Ausgangsbeschränkungen und Kontaktbeschränkungen wie in Deutschland, mit dem Unterschied, dass ein Zuwiderhandeln nicht bestraft werden kann. Dieser Zustand sollte bei Redaktionsschluss bis zum 31. Mai aufrechterhalten werden.

 

Die Olympischen Spiele

Auch wenn es eine durchaus zu beachtende Zahl an Gegnern der Olympischen Spiele in Tokio gibt, so wollte doch die überwiegende Mehrheit der Japaner noch in Februar, dass die Spiele unbedingt stattfinden. Im Tauziehen um Olympia hatte bereits am 19. März Kaori Yamaguchi, die erste japanische Judo-Weltmeisterin, als Executive Board Member des Japanischen Olympischen Komitees (JOC) eine Verschiebung befürwortet. 

Die Athleten könnten sich aufgrund der Corona-Krise nicht genügend auf die Spiele vorbereiten, was dem Grundsatz Athleten zuerst widerspreche. Darüber hinaus würde man die Menschen auf der ganzen Welt, die wegen der Krise kein normales Leben führen könnten, durch die Austragung der Spiele verhöhnen. Diese Aussage wurde am folgenden Tag von JOC-Präsident Yasuhiro Yamashita init den Worten: Es gibt natürlich im JOC unterschiedliche Meinungen, aber die Aussage von Frau Yamaguchi ist besonders bedauerlich", kommentiert. Am 24. März entschied das Internationale Olympische Komitee, die Tokio-Spiele auf 2021 zu verschieben.

Internet statt Dojo

Wie in Deutschland war das tägliche Training in Dojo in Japan nicht möglich. Und wie hierzulande gibt es viele Judokas, die im Internet Videos mit Übungen und Trainingsaufgaben für zu Hause veröffentlichen. Einige nutzen auch Videokonferenz-Plattformen für Live-Trainings, und interessanterweise wird diese technische Möglichkeit auch verstärkt genutzt, um sich mit Judokas, die nicht in Japan leben, auszutauschen. Manche versuchen auch, die traditionellen japanischen Trainingsmethoden in digitalisierter Form weiterzuverfolgen. So hat beispielsweise die Trainerin Ayako Ono die Biografie von Jigoro Kano als Kami Shibai" auf Youtube veröffentlicht. Darüber hinaus erzählt sie in Videokonferenzen live die Geschichte des Begründers des japanischen Judo.

Eine andere Tradition in Japan ist die Radio Taiso (Radio Gymnastik)". 1928 wurde sie zum ersten Mal ausgestrahlt. Zu Klaviermusik gibt ein Trainer seine Anweisungen. Das etwa zehnminütige Programm erinnert an die isometrischen Übungen des Bayerischen Rundfunks aus den 1970 er-Jahren In Japan müssen sich auch heute noch die Grundschüler während der Sommerferien früh morgens um halb sieben im nahe gelegenen Park einfinden und gemeinsam turnen. 

Über Lautsprecher werden Musik und Anleitung übertragen. Jeder in Japan hat daran schon einmal in irgendeiner Form teilgenommen. Der in Düsseldorf lebende japanische Trainer Kansetsu Eguchi bat ein Youtube Video veröffentlicht, in dem er Elemente aus der Radio-Gymnastik" mit Trainingselementen des Judo zu Judo Radio Calisthenics" verknüpft. Das japanische Fernsehen berichtete am 9. Mai darüber. Auch hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt, viele Sportler und Trainer versuchen, aus der Situation das Beste zu machen. 

Warum trainieren wir?

Die Corona-Pandemie hinterlässt auf der ganzen Welt ihre Spuren und führt uns die unterschiedlichsten Probleme und Fragestellungen vor Augen. In Japan stellen sich so jetzt manche die Frage, warum sie eigentlich Judo trainieren. Um den Hintergrund für diese Frage besser verstehen zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden: In Japan werden von der Grundschule bis zur Universität extracurriculare Aktivitäten von der Schule, sogenannte Bukatsu, angeboten. 

Diese Klub-Aktivitä ten sind mehr oder weniger verpflichtend, die Wahlfreiheit wird durch das Angebot der jeweiligen Schule begrenzt. Neben Klubs, die sich zum Beispiel mit der Teezeremonie, dem Erstellen einer Zeitung oder anderen kulturellen Aktivitäten beschäftigen, bieten viele Schulen SportKlubs an. Hauptsportarten sind dabei Baseball, Judo, Fußball, aber auch Rugby, Sumo oder Volleyball können je nach Angebot der Schule gewählt werden. Inoffiziell kann die Wahl des richtigen" Klubs sogar entscheidend für die Aufnahme in die nächsthöhere Schule beziehungsweise Universität sein. 

Judo Magazin (Juni 2020)

Besonders in den 1960 er-Jahren, vor den Olympischen Spielen 1964 in Tokio, konzentrierten sich viele Schulen auf diese Sport-Klubs. Noch heute definieren sich - vor allem Privatschulen über ein siegreiches Baseball-, Fußball- oder Judoteam. Das tägliche Training ist sehr streng, von den Schülerinnen und Schülern wird erwartet, dass sie ihre gesamte Freizeit dem Sport widmen. Die Teilnahme an Wettkämpfen wird vor allem von den Leistungsträgern vorausgesetzt. Dem jährlich ausgetragenen nationalen Baseball-Turnier der High Schools mit dem Endspiel im legendären Koshien-Stadion in Kobe wird deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als vergleichbaren deutschen Schulmeisterschaften. Viele Japaner verfolgen das gesamte Turnier zu Hause am Fernseher, und nicht nur Familie, Freunde und Bekannte strömen in die Stadien, um die Schulmannschaften anzufeuern.

Zurück zu Corona: Was passiert nun in Japan init Schülerinnen und Schülern, die aufgrund der Krise nicht am letzten Wettkampf für ihre Schule teilnehmen können? Viele fallen in ein tiefes Loch, genauso deren Lehrkräfte und Eltern. Wofür war dann die ganze Schinderei beim Training? Das ganze Sein war ausgerichtet auf dieses Ziel, dafür hatte man jeden Tag das Training ertragen, und jetzt fällt alles aus! Dieser Schock kann durchaus Auswirkungen auf die Zahl der Schülerinnen und Schüler haben, die bei Wiederbeginn der Schule neu in einen Sport-Klub eintreten - beziehungsweise sich unter Umständen für einen anderen Klub entscheiden werden.

Der schwache Breitensport

Anders als in Deutschland, wo man sich einem Sportverein anschließt, um den Sport zu betreiben, hören viele junge Menschen nach der Schule damit auf, da es für Erwachsene kaum Angebote vor allem im Breitensport gibt. Während Sportler in Deutschland alles daran setzen, die eigene Fitness aufrechtzuerhalten, um nach der Krise schnellstmöglich dem selbstgesteckten Ziel näherzukommen, müssen die japanischen Schüler mit der Trauer um eine verpasste Chance klarkommen. 

Vielleicht aber vermag die Krise ein Umdenken in Japan zu bewirken. Die Konzentration auf den Leistungssport und das nur schwach ausgebaute Angebot für Breitensport wird durch die Pandemie deutlich infrage gestellt. Kehrt man zu den Anfängen und Ideen von Jigoro Kano zurück, so sollte Judo-Training auch nicht nur auf den Wettkampf ausgelegt sein, sondern Kano wollte Disziplin, Gesundheit, Kommunikation und Freundschaft im Sport verbinden. All das sind Werte und Erfahrungen, die durch den Ausfall eines Wettkampfs nicht verschwinden.

 

Unser Autor wurde 1969 in Nara/Japan geboren. Vor seiner Übersiedlung nach Deutschland gründete er zusammen mit Kollegen die Wochenzeitung ,,The Kyoto Economic Journal". Seit 2002 wohnt Heizo Takamatsu mit seiner Familie in Erlangen, der Heimatstadt seiner Frau. Dort ist er als freier Journalist tätig. Für japanische Medien schreibt er über die deutsche Gesellschaft. Er hat mehrere Bücher zu Themen der Stadtentwicklung veröffentlicht.

"Judo-Kultur zwischen Deutschland und Japan" Heizo schrieb einen Artikel über die Judo Kultur zwischen Deutschland und Japan für das Judo Magazin März 2016. (PDF)