Das System der Latifas - Chakras - nach Allauddawla Semnani

Das System der Latifas (Chakras) nach Allauddawla Semnani (1261 – 1336)


Allauddawla Semnani ist Murid, später Meister in der Schule, die begründet wurde von Najmaddin Kubra (1146 – 1221), des Kubrawiyya -Ordens. Aus den Jahreszahlen wird schon ersichtlich, dass Semnani nicht Kubras persönlicher Schüler war (der Vater von Jalaluddin Rumi dagegen war ein direkter Kubra – Schüler). Semnanis direkter spiritueller Lehrer wird nicht angegeben oder ist nicht bekannt. Zwischen Najmaddin Kubra und Semnani steht chronologisch und spirituell im Orden Najmaddin Daya Razi (gest. 1256), der wiederum ein direkter Kubra – Schüler war. Alle drei haben Kommentare und Auslegungen zum Koran geschrieben und zwar nacheinander: wo der Vorgänger starb hat der Nachfolger im Koran den roten Faden aufgenommen und mit der nächsten Sura weitergemacht.

Najmaddin Kubra, Najmaddin Daya Razi und Allauddawla Semnani haben Visionen von Licht und Lichtformen große Bedeutung beigemessen. Sie haben darin alle drei eine auf den ersten Blick doch recht unterschiedliche Systematik dieser Phänomene nach Hierarchie der Farben und ihrer Bedeutung entwickelt. Die hierarchische Stellung der Farben zueinander soll es dem Suchenden ermöglichen aus der Farbe oder den farbigen Formen seiner spirituellen Erfahrungen (Visionen oder Träumen) den eigenen momentanen Entwicklungsstand seiner Seele hin zum „Vollkommenen Menschen“ abzulesen.

Semnani ist der Erste, der die Latifas, analog den Chakras der Hindus „im“ Körper gelagert, in seiner persönlichen Systematik einführt . Was bei Kubra ein Aufstieg des Mystikers durch sieben Ebenen oder Sphären mit begleitenden Lichtvisionen ist (oftmals in Kreisform), die dem Suchenden anzeigen auf welcher geistigen Entwicklungsstufe er sich befindet, wird von Semnani auf sieben subtile Organe des Lichtleibes bezogen, welche exakt wie die hinduistischen Chakras im physischen Körper lokalisiert werden. Jedem Latifa wird von Semnani ein Prophet zugeordnet. Die Farbzuordnungen sind vielfach anders als bei Kubra und auch Najmaddin Razi hat wieder ein anderes Farbsystem.

Ich entsinne mich irgendwo gelesen zuhaben, dass Semnani behauptet dieses System in visionären Offenbarungen erhalten zu haben (immerhin ist ja der Gedanke naheliegend, dass er die systematische Anordnung von den Hindus abgekupfert haben könnte).

Erläuterungen zu den einzelnen Latifa zitiere ich im Folgenden aus dem Werk von Henri Corbin: Die smaragdene Vision ; Der Licht – Mensch im persischen Sufismus, 1989 bei Diederichs, vergriffen (im Folgenden DsV genannt)(wird ab und zu bei ebay versteigert).

Anmerkungen in eckigen Klammern [ ] von mir .

„Das erste dieser subtilen Organe (Hüllen oder Zentren) wird als das >leibliche subtile Organ< bezeichnet (latifa qalabiyya); qalab ist wörtlich die Gießform). Im Unterschied zum physischen menschlichen Körper wird es von Einflüssen gebildet, die von der Sphäre der Sphären ausfließen, ohne Vermittlung der anderen Sphären der Planeten oder der Elemente. Es kann erst nach der Vollendung des physischen Körpers beginnen, sich zu formen; die Form des Leibes, allerdings im subtilen Zustand, darstellend, ist es gewissermaßen die embryonale Gießform des neuen Leibes, des >erworbenen< Subtilkörpers. Deshalb bezeichnet die mystische Physiologie es symbolisch als den Adam Deines Wesens.

Das zweite Organ befindet sich auf der Ebene, die der Seele entspricht (latifa nafsiyya), jener Seele, die der Sitz nicht geistiger, sondern vitaler und organischer Operationen ist, der anima sensibilis, vitalis, der daher das Zentrum von ungeordneten Wünschen und üblen Leidenschaften ist; als solche erhält sie die koranische Bezeichnung nafs ammara, ... ; auch ist die Ebene, die ihr auf dem subtilen Plan entspricht, für den Spiritualen der Ort der Prüfungen; gegen sein niedres Ich Front machend, ist er dort in derselben Lage wie Noah, als er sich der Feindseligkeit seines Volkes gegenübersah. Wenn er darüber triumphiert hat, wird dieses subtile Organ als Noah Deines Wesens bezeichnet.

Das dritte subtile Organ ist das des Herzens (latifa qalbiyya), in dem sich der Embryo einer mystischen Nachkommenschaft bildet, der in dieser latifa ruht wie eine Perle in der Muschel. Nun ist diese Nachkommenschaft nichts anderes als das subtile Organ, das das wahre Ich, die persönliche, wahrhafte Individualität werden wird (latifa ana `iyya). Die Anspielung auf dieses geistige Ich, welches, im Herzen des Mystikers empfangen, Kind werden wird, lässt uns ohne weiteres verstehen, warum dieses subtile Zentrum des Herzens der Abraham Deines Wesens ist.

[Hier wird eine spezielle Verbindung zwischen dem 3. und dem 7. Chakra vorgestellt. Das 3. Chakra ist sozusagen der Same in dem bereits das vollkommene höhere Selbst angelegt ist, das sich im 7. Chakra endgültig entfaltet und verwirklicht ]

Das vierte subtile Organ ist mit dem Zentrum verbunden, das technisch mit dem Ausdruck sirr bezeichnet wird (latifa sirriyya), das >Geheimnis<, die Schwelle des Überbewussten. Dies ist der Ort und das Organ des innigen Zwiegesprächs, der geheimen Unterhaltung, des >vertraulichen Psalms<; es ist der Moses Deines Wesens.

Das fünfte subtile Organ ist der Geist (ruh; latifa ruhiyya); infolge seines edlen Ranges ward es mit Recht mit der Statthalterschaft Gottes belehnt: es ist der David Deines Wesens.

[dies ist sozusagen die höhere Oktave der Seele, deren niederer Teil die Triebseele, bzw. der Kampf gegen ihre Herrschaft, das 2. Chakra bildet (nafs ammara). Hier nun die >tadelnde Seele<, das Bewusstsein, das Gewissen, Gewissensbisse, also Distanz von – und Kritik nicht nur an der eigenen Triebseele und dem Ego – wird genannt nafs lawwama ]

Das sechste subtile Organ ist auf das Zentrum bezogen, das man am besten durch den lateinischen Namen arcanum bezeichnen kann ( chafi, latifa chafiyya). Es geschieht durch dieses Organ, dass man Hilfe und Inspiration vom Heiligen Geist empfängt. In der Hierarchie der geistigen Zustände bezeichnet es den Zugang zum Zustand des nabi, Propheten.

Das ist der Jesus Deines Wesens; das ist er, der allen anderen subtilen Zentren und dem Volke ihrer Fähigkeiten den Namen ankündigt, weil er ihr Führer ist, und jener Name, dessen Herold er ist, ist das Siegel Deines Wesens, wie nach dem koranischen Text (Sura 61/6) Jesus, als vorletzter Prophet unseres Zyklus, der Herold des letzten Propheten war, d.h. das Kommen des Parakleten (Muhammad) ankündigte.


[siehe Sure 61:6]


Schließlich ist das siebente subtile Organ bezogen auf das göttlich Zentrum Deines Wesens, das ewige Siegel Deiner Person (latifa haqqiyya, auch von Semnani genannt latifa ana `iyya). Das ist der Muhammad Deines Wesens. Es ist dieses subtile göttliche Zentrum, das die >seltene muhammadanische Perle< verbirgt, d.h. das subtile Organ, welches das wahre Ich ist und dessen Embryo sich im subtilen Zentrum des Herzens, den Abraham Deines Wesens zu bilden begann.

[ Wir würden das als Höheres Selbst bezeichnen]

So geht das Wachstum des subtilen Organismus, die Physiologie des

Licht – Menschen, durch die sieben latifa weiter, deren jede einer der sieben Propheten Deines Wesens ist. ... auf dieses Wachstum wird der Mystiker durch die Wahrnehmung farbiger Lichter aufmerksam gemacht, die jedes der übersinnlichen Organe oder Zentren kennzeichnen und deren Beobachtung Semnani viel Aufmerksamkeit widmet. Diese Lichte sind die feinen Schleier, die jede der latifa einhüllen; ihre Färbung verrät dem Mystiker, auf welcher Etappe seines Wachstums oder Wanderung er angekommen ist. < (Zitatende)

Jenseits der sieben wird noch ein weiteres Latifa genannt, latifa dschabra `iliyya, das ist der Erzengel Gabriel Deines Wesens. Hier ist Corbin nicht klar in seinen Erklärungen. Während er in DsV dieses Latifa als einen anderen Aspekt von latifa haqqiyya bezeichnet, heißt es in „En Islam Iranien Vol. III, les fideles d àmours – shiisme et soufisme (im Folgenden EII bezeichnet) : > außerhalb dieser sieben latifa wird noch ein mysteriöses latifa erwähnt, welches uns nicht systematisch erklärt wird<.

Dieses latifa, welches nicht lokalisiert wird, findet sich auf dem Gipfel der Entwicklung zur Lichtseele, die aus dem Mystiker den insan - al - kamil, den vollkommenen Menschen gemacht hat. Dieses Latifa ist ganz eng verbunden mit dem inneren Meister, dem inneren Führer, dem heiligen Geist. Der Erzengel Gabriel steht ja auch stellvertretend für den Heiligen Geist und gilt als Bringer desselben (z.B. an Hazrat Maryam).

Ich stelle mir Latifa Haqqiyya auch wie eine Münze vor, deren eine Seite in Richtung der Menschen sieht und deren andere nach der Engelwelt. Der Mystiker, der diese Stufe der Vollkommenheit erreicht hat ist nun auch Teil der Engelwelt, hat sozusagen einen neuen Schritt in der Evolution der Menschheit getan. Latifa Dschabra `iliyya hat deshalb auch keinen lokalisierbaren Bezug mehr zum menschlichen Körper. Mir gefällt es dieses Latifa im Atem zu suchen.

Alle drei Mystiker sind sich einig in der hohen Bedeutung des Dhikr, welche die Lichtseele auf ihrer Reise von Latifa zu Latifa voranbringt und das Herz, das innere Ohr, beständig poliert, reinigt und zu einem Spiegel macht, so dass der Mystiker überhaupt Lichtvisionen und dann noch die richtigen, fähig wird zu empfangen bzw. zu reflektieren (es gibt auch Lichter und Lichtvisionen, von denen die Kubrawiyya behauptet sie seien teuflischer Natur). Semnani soll auch für die sieben Stufen spezifische Formen von Dhikr zugeordnet haben, (EII, S.311), die aber leider, leider nirgends angegeben werden.

Besondere hohe Bedeutung haben das leuchtende schwarze Licht und das grüne Licht bei allen drei Mystikern, auch wenn ihre Zuordnungen nicht übereinstimmen. Das grüne Licht ist die >Seele im Frieden<, was ich interessant finde, wenn man an die elektromagnetische Ladung grüner Lichtstrahlen denkt. Während die Lichtfarben von infrarot über rot, orange bis gelb minus geladen sind und die von blau, indigo, violett bis ultraviolett plus, so liegt grün genau in der Mitte und ist nach violett hin minus-, nach infrarot hin plus geladen; also bipolar. Deshalb steht grün hier auch für Ruhe und Neutralisierung (Frieden).

Das schwarze Licht hat diese paradoxe Bezeichnung, um klarzumachen, dass es sich um kein physikalisches Licht handelt wie wir es normalerweise sehen. Dies soll uns vor falschen Erwartungen schützen. Ich nehme an dies ist >das Licht, das sieht, anstatt gesehen zu werden< (Pir Vilayat), aber aus eigener Erfahrung kann ich nix dazu sagen.. Ob es mit der Farbe ultraviolett etwas zu tun hat, welche das menschliche Augen nicht mehr zu sehen vermag, weiß ich nicht.

Interessant finde ich auch die Zuordnung blau zur niederen Triebseele (identisch bei Kubra und Semnani). Dazu muss man wissen, dass blau generell in der islamischen Welt negativ besetzt ist, die Farbe gilt als schmutzig, unangenehm bis unanständig, der böse Blick wird sehr häufig mit blauen Augen identifiziert, dies mindestens seit den Kreuzzügen im Mittelalter. Daraus schließe ich, dass Visionen von Farben und Lichtern und vor allem deren Interpretation nicht zu trennen sind von der persönlichen und kulturellen Konditionierung eines Mystikers. Deshalb gibt es auch so viele unterschiedliche Chakra– und Farbsysteme. (Das Amulett gegen den bösen Blick ist ebenfalls ein blaues Auge, denn es soll den bösen Blick (blau) reflektieren und auf seinen Urheber zurückwerfen).

Noch eine interessante Anmerkung einer bekannten Auraseherin (Rosalyn Bruyere): „ Ich bin 600 Meilen weit am ägyptischen Nil entlanggereist und habe in den Auren der dort lebenden Muslime nie blau oder gelb gesehen.“ ..... „Die vorherrschende Aurafarbe bei Arabern ist Magenta.“ (Rosalyn L. Bruyere – Chakras – Räder des Lichts – Eine Einführung; und Das Wurzelchakra - Synthesis 1990 . Diese zwei Bücher von Bruyere zu den Chakras empfehle ich wärmstens; allerdings in deutscher Sprache vergriffen, ich werde sie zur Ansicht aufs nächste Training mitbringen). Ich glaube aber es gibt ein neueres Buch von Bruyere über die Chakras in deutscher Sprache, das aber vielleicht nur ein neuer Aufguss der alten ist und das ich nicht kenne.

Auf den ersten Blick hat es mich irritiert, feststellen zu müssen, dass die Systeme zu Chakras und Farben derartig unterschiedlich sind und selbst innerhalb der Kubrawiyya bei drei hervorragenden Meistern eines Jahrhunderts so deutlich divergieren. Aber das erschien mir dann doch als mein oberflächlicher Eindruck, während anzunehmen ist, dass diese Systeme sich in der Tiefe nicht widersprechen sondern ergänzen. Dies auf eine Weise, die sich dem theoretischen Vergleich weitgehend entzieht (jedenfalls ich kann es nicht vergleichen), weshalb ich bei dieser Betrachtung zurückhaltend mit Urteilen sein will.

Es wird aber dennoch deutlich, wie stark kulturelle (siehe das Beispiel der Farbe blau) und persönliche Besonderheiten, Vorlieben und Erfahrungen spezielle Chakra – Systeme mit eigenen Lichtfarbdeutungen hervorbringen.

So hat Pir Vilayat das physikalisch-elektromagnetische System favorisiert, welches genau der Farbanordnung der Spektrallichter folgt, wie man sie z.B. bei einem Regenbogen sehen kann, lokalisiert „im“ Körper wie die Hinduchakras.

Pir Zia macht uns nun vertraut mit dem Latifasystem der Naqshbandis, was vor allem interessant ist, als hier bis dato uns völlig unbekannte Chakras ins Blickfeld geraten (die drei Herzzentren).

Ein Problem scheint mir in der unzulässigen Verallgemeinerung solcher Systeme zu liegen. Die Aussage: mein System ist richtig und es soll euch anderen Suchern als zutreffende Richtschnur eurer spirituellen Entwicklung gelten scheint mir angesichts der unbestreitbaren Vielfalt der Chakra - Systeme unsinnig zu sein (das gleiche Thema wie bei Religionen).

Jeder muss sehen welches angebotene System der eigenen Persönlichkeit am anziehendsten ist und dann bleibt uns nicht erspart mit Lichtern, Farben und Chakras eigene Erfahrungen zu machen, die ganz sicher in einem eigenen kleinen „persönlichen“ System münden werden.



Assad Splieth - 2005