Kapitel 10 Wieder Bagdad

Mullah Mustafa Barzani in Prag

Einige Monate nach Lenas Abreise aus Bagdad fiel im Juli 1958 die irakische Monarchie. Abdul Karim Kassem, der an der Spitze des Staatsstreichs gestanden war, wurde Präsident. Er installierte eine republikanische Regierung und lud Mustafa Barzani ein, aus dessen Exil in der UdSSR heimzukehren. Mullah Mustafa („Mullah“ war bei ihm kein religiöser Titel, sondern ein Name, Anm. d. Übers.) akzeptierte und legte auf seiner Rückreise in Prag einen Zwischenstop ein. Er kam zu einem Abendessen bei Ghassemlous und schlug dabei Abdul Rahman vor, sich im irakischen Kurdistan nahe der iranischen Grenze niederzulassen. So könnte er an Ort und Stelle den Kampf gegen das Schahregime fortsetzten. Abdul Rahman nahm das Angebot sofort an.

Lena hatte nie an der Bedeutung der Mission ihres Mannes gezweifelt. Sie hatte auch nie ihr Versprechen vergessen, wonach sie alle seine Bedingungen akzeptieren und respektieren würde. Als er ihr aber ankündigte, dass sie im irakischen Kurdistan leben würden, dachte sie an ihre Mädchen.

„Was für eine Zukunft stellst du dir für deine Töchter in einem Land vor, in dem Frauen kaum Rechte haben? Was für ein Schicksal steht ihnen im Orient bevor?“

„Aus ihnen werden Kurden werden. Sie werden Arabisch und Kurdisch lernen, und du wirst ihnen Tschechisch beibringen. Sie werden drei Sprachen beherrschen. Was willst du mehr für sie?“

„Sie sind Mädchen, und ich glaube nicht, dass ihnen der Status der Frauen dort unten gefallen wird. Vergiss nicht, dass ich eine emanzipierte Frau geworden bin. Ich könnte meine Kinder nie gegen meine eigene Überzeugung erziehen, nur, um mich an diese Gesellschaft anzupassen. Ich respektiere sie, ich habe alles getan, um niemanden zu verletzen, und ich bin ihr dankbar, dass sie mich so angenommen hat, wie ich bin. Aber das heißt nicht, dass ich in jeder Hinsicht mit ihr einverstanden bin. Vor allem nicht mit dem patriarchalischen System im Hinblick auf die Frauen. Ich weigere mich, meine Kinder anzulügen“, setzte sie der männlichen Logik entgegen. Abdul Rahman stieß einen gereizten Seufzer aus:

„Du übertreibst wie immer. Einstweilen sind sie nur Kinder. Später wird man sehen.“

Er regelte familiäre Probleme häufig durch solche Pirouetten.

„Jedenfalls steht meine Entscheidung fest, und Mullah Mustafa wird unsere Einreisevisa für den Irak nach Wien schicken. Es muss alles so rasch wie möglich geregelt und von Prag nach Wien übersiedelt werden. Du kannst wählen. Entweder du kommst mit mir oder du bleibst hier. Dann muss dir aber bewusst sein, dass ich nie mehr hierher kommen werde. Ich werde in Kurdistan sein, bis es frei ist.“ Und damit war die Diskussion beendet.

Lena war in die Enge getrieben: Sie konnte ihm mit den Kindern folgen oder sich scheiden lassen.

Ein wenig später erfuhr sie, dass man ohne die Kinder abreisen würde: Sie mussten zuerst ein Haus finden und dieses bewohnbar machen, erklärte er. Das würde nicht mehr als drei Monate dauern. Anschließend könnte Lena zurückkehren, um die Kleinen zu holen. Sie musste auch ihr Studium aufgeben.

Die Geschehnisse der Vergangenheit lasteten schwer auf ihrer Seele. Sie machte sich Vorwürfe wegen der Entscheidungen, die sie getroffen hatte, und fragte sich, warum sie in diesem Fall keine anderen getroffen hatte. Warum gehorchte sie in allem dem, was ihr Mann verfügte? Sie versuchte, die Gründe ihres Verhaltens zu eruieren. War es ihre Verpflichtung gegenüber dem einmal gegebenen Versprechen? War es ihre Liebe zu Abdul Rahman? Oder die zum kurdischen Volk? Oder lag es an der Fähigkeit ihres Mannes, sie am Ende doch zu überzeugen? Was wirklich feststand, war, dass sie ihre Kinder nicht von deren Vater trennen wollte. Das lag wohl bis zu einem gewissen Grad an ihrer eigenen Kindheit als Waise.

Völlig legales Leben in Bagdad (1959-1960)

In Wien wartete keinerlei Visum. Jeden Tag dieselbe Leier, wenn sie am irakischen Konsulat vorsprach: „Morgen werden die Visa da sein.“ Es dauerte drei Monate, bis sie schließlich eintrafen. Das waren genau jene drei Monate, über die sie mit ihren Kindern gesprochen und ihnen gesagt hatte, dass diese so lange warten müssten, bis sie käme, um sie zu holen.

Als Abdul Rahman und Lena in Bagdad eintrafen, war der Staat gerade in Auflösung. Der Kampf zwischen Abdul Karim Kassem und dessen Gegnern hatte begonnen. Unverzüglich zeigten sich die Auswirkungen auf ihren Aufenthalt. Das Innenministerium untersagte es ihnen, Bagdad zu verlassen. Somit konnten sie weder nach Kurdistan ziehen noch nach Europa zurückkehren. Die Vorstöße Abdul Rahmans im Innenministerium führten zu nichts. Also mieteten sie sich in einer verfallenen Villa ein, die sie mit dem Ex-Offizier der königlichen, iranischen Luftwaffe Parvis Hekmadschu teilten, mit dem sie bereits im Untergrund in Teheran im Haus des Zarathustra-Anhängers gemeinsam gewohnt hatten.

Die Erlaubnis, Bagdad in Richtung Kurdistan zu verlassen, kam immer noch nicht. Nach einiger Zeit vertraute Abdul Rahman Lena an, dass ihnen inzwischen das Geld ausging und sie sich eine Arbeit suchen sollte. Es würde nur für kurze Zeit sein, bis es ihnen gestattet würde fortzugehen. Lena sehnte sich nach ihren Kindern, und ihre Reise nach Prag, um sie nachzuholen, schob sich in immer weitere Ferne. Sie musste sich wieder einmal beugen und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre quälenden Sorgen verscheucht werden würden, wenn sie jeden Morgen in die Arbeit ginge. Die seltenen Briefe des Vormunds der Kinder aus Prag beruhigten sie kaum.

Als Übersetzerin ohne Arbeit im Bautenministerium

Eine Stelle im Ministerium für Bau- und Vermessungswesen wurde ihr angeboten. Als sie zum ersten Mal hinging, wurde sie von Minister Owni, einem Kurden, empfangen. Abdul Rahman hatte sich mit ihm geeinigt, mit Lena jedoch überhaupt nicht darüber gesprochen. Der Minister war ein fescher Mann, jung und nett. Er übertrug ihr die Funktion einer Dolmetscherin und allenfalls Übersetzerin für ein Gehalt von 30 Dinar (das niedrigste im Haus). Sie sollte täglich sechs Stunden arbeiten, von 9 bis 15 Uhr.

Ihre Villa lag am linken Ufer des Tigris, das Ministerium am rechten. Die Entfernung betrug etwa zwei Kilometer, die sie zu Fuß zurücklegte. Am Morgen wehte eine frische Brise auf der „Brücke des 14. Juli“ (des Datums der Machtübernahme der neuen Regierung Kassem). Aber am Nachmittag nach dem Heimweg kam Lena völlig fertig nach Hause, weil es heiß wie in einem Backofen war. Die ganze Stadt hielt um diese Zeit eine Siesta.

Am Anfang war Lena ihr Gehalt noch ungerecht niedrig vorgekommen. Bald hielt sie es allerdings für übertrieben hoch. Niemand gab ihr Arbeit. Es gab nichts zu dolmetschen, nichts zu übersetzen.

„Warten sie, seien sie geduldig, es wird schon kommen“, hieß es, wenn sie darauf hinwies. Als einzige Frau in der Abteilung hatte sie den Eindruck, quasi als Aushängeschild des Regimes behalten zu werden, das demokratisch und offen für die Emanzipation der Frauen erscheinen wollte – für 30 Dinar pro Monat.

In einem System aufgewachsen, in dem die geringste Verspätung als Missachtung der Arbeit gesehen wurde, fand sich Lena während der ersten beiden Wochen pünktlich um 9 Uhr ein und stand stets vor einem verschlossenen Tor. Ein wenig später traf ein alter „Munschi“ (Mann für alles) mit schleppendem Schritt ein. Er hatte die Schlüssel. Wenn er an den ersten Tagen Lena warten sah, wirkte er überrascht. An den darauffolgenden Tagen versuchte er, ein kleines Grinsen zu unterdrücken, was Lena in Verlegenheit brachte. Ein paar Minuten nach dem Munschi kam Fausi, mit dem Lena das Büro teilte. Er war ein junger Mann von etwa 20 Jahren, arbeitete untertags und studierte am Abend, weil er nach dem Tod seines Vaters zum Erhalter einer vielköpfigen Familie geworden war. Die übrigen Beschäftigten trafen zwischen 10 Uhr und Mittag ein. Dann begannen sie, Zeitungen zu lesen oder sich zu unterhalten, tranken Tee oder Kaffee, ließen sich ihre Schuhe von einem kleinen Buben putzen, der täglich von draußen hereinkam, und gingen anschließend zum Mittagessen. Wenn sie davon zurückkamen, suchten sie Fausi auf und unterzeichneten jene Papiere, die er für sie vorbereitet hatte. Ab 13.30 Uhr verließen sie, einer nach dem anderen, das Ministerium.

Nach und nach gewöhnte es sich auch Lena an, mit einer halben Stunde Verspätung zu kommen. Die ganze Zeit nichts zu tun zu haben, war ihr lästig. Also nahm sie sich Lesestoff mit und wartete weiter, dass man ihr eines Tages Arbeit gäbe. Das geschah nie.

Fausi fasste Vertrauen zu Lena und teilte ihr mit, was er über die Situation im Land wusste. Das Regime von Kassem würde schwächer, die mächtigen Männer des Staates stellten sich gegen ihn, unter ihnen auch bestimmte Beamte dieses Ministeriums. Diese warteten nur noch auf Kassems Sturz und sabotierten dessen Politik in allen Bereichen. Und wahrscheinlich stünden diese Leute auch hinter dem Verbot für Abdul Rahman und sie, Bagdad zu verlassen.

Seit der Abreise aus Prag waren schließlich elf Monate vergangen. Die Demokratie, die nach dem Staatsstreich im Irak proklamiert worden war, entwickelte sich in Richtung Diktatur. Lena war besorgt.

„Mach’ dir keine Gedanken. Wenn Kassem dem Druck der Kamarilla weicht, können wir immer noch nach Kurdistan flüchten“, versicherte Abdul Rahman, um sie zu beruhigen.

„Und die Kinder?“

„Unseren Kindern geht es tausendmal besser als den kurdischen Kindern hier. Sie müssen lernen, ohne uns auszukommen und alleine aufzuwachsen, so lange es notwendig ist.“

„Die kurdischen Kinder leben in Armut, aber sie sind immer bei ihren Familien. Unsere sind wie Waisenkinder geworden.“

Es ist nicht allen Frauen gegeben, sich einem Ehemann gegenüber immer voller Rücksichtnahme und Liebe zu verhalten, der sich um das Schicksal seiner Kinder keine Sorgen macht, seiner Frau daheim in keiner Weise hilft und nicht einmal das Geld für den Unterhalt der Familie nach Hause bringt. Ja, Lena schätzte Abdul Rahmans Aufgabe, aber ihre Nerven waren nicht aus Stahl.

Sie behielt ihren Posten im Ministerium, bis sie aus dem Irak vertrieben wurden. Aber schon vorher hatte sie daneben eine besser bezahlte Stelle im Zuge der Vorbereitungen für eine tschechoslowakische Industrieausstellung angenommen. Mit diesen beiden Einkommen konnte sie für den Unterhalt des Hauses und der Bewohner sorgen.

Die Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten häuften sich allerdings, je mehr Zeit verging, in der sich nichts an ihrer Lage in Bagdad veränderte. Lena wurde übersensibel. Sie weigerte sich, nach Kurdistan zu gehen – für den Fall, dass sie dazu endlich die Erlaubnis bekämen. Sie wollte nur noch nach Prag zurück. Sie war überanstrengt und sah in Alpträumen, wie ihre Kinder im Schlamm erstickten, in eine Schlucht voller Wölfe stürzten oder von Flammen eines brennenden Hauses umzingelt waren. Sie ertrug es nicht mehr, dass sie das Versprechen nicht hielt, das sie den Töchtern gemacht hatte.

Abdul Rahman wäre fast ermordet worden

Es war absolut notwendig geworden, dass Abdul Rahman nach Kurdistan ging. Er musste Bagdad heimlich verlassen. Zweimal gelang das. Während der zweiten Abwesenheit war Lena am Rande ihrer Nerven und hatte üble Vorahnungen. Er war für eine Woche aufgebrochen, kehrte aber erst drei Tage verspätet zurück. Er gab sich weiterhin witzig und war bei gutem Appetit. Aber Lena war sich sicher, dass es ein Problem gab. Wenn sie ihm Fragen stellte, sagte er immer, alles wäre gut gegangen.

Eine Woche nach seiner Heimkehr waren sie alleine im Haus, tranken Tee, und er fing schließlich zu reden an:

„Ich bin in ein Hotel gegangen. Spät in der Nacht hatte ich ein Treffen mit Freunden aus der Partei. Sie waren deswegen extra von jenseits der Grenze gekommen und wollten mich sprechen. Ich war schon im Begriff wegzugehen, als ein irakisch-kurdischer Freund in Panik ankam. Gegenüber dem Hotel standen zwei Männer und warteten, dass ich herauskäme, um mich zu erdolchen. Jemand musste mich verraten haben. Wir haben das Hotel durch den Hinterausgang verlassen, und ich bin nicht mehr dorthin zurück gegangen. Dieser Zwischenfall hat aber unsere Pläne durcheinander gebracht. Wir brauchten Zeit, um für das Treffen einen neuen Ort zu finden, und wir mussten auch den Zeitplan für unsere Zusammenkünfte ändern. Deshalb bin ich später als geplant zurückgekommen.“

Vertreibung aus dem Irak

Eines Tages kam Abdul Rahman mit einem breiten Lächeln nach Hause:

„Wir sind beide für morgen um 10 Uhr beim Präfekten vorgeladen. Ich kenne ihn, er ist ein korrekter Mann. Wir können endlich abreisen!“

Der Präfekt war ein leutseliger und (nach Lenas Geschmack ein wenig zu) freundlicher Mann. Er bat sie, sich zu setzen, und ließ Kaffee kommen. Er sprach über triviale Dinge mit Abdul Rahman und wiederholte gemäß den Höflichkeitsregeln des Landes ständig: „Seien sie willkommen“, worauf Abdul Rahman jedes Mal mit der Dankformel antwortete, bis es doch Zeit wurde, den Grund dieses Besuches zur Sprache zu bringen (Lena sprach nicht arabisch, aber sie verstand im Wesentlichen den Sinn der Unterhaltung).

Eigentlich war der Präfekt, so sagte er, tief betrübt, ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung für den Irak auslief. Sie müssten das Land binnen 48 Stunden verlassen. Er selbst sei über die Gründe dieser Entscheidung nicht informiert worden und könne sie ihnen daher auch nicht erläutern.

Das war offensichtlich nicht wahr, aber wozu sollte man ihn weiter fragen? Es gelang ihnen immerhin, einen Aufschub von einem zusätzlichen Tag zu bekommen, um alle nötigen Vorbereitungen für die Abreise zu erledigen.

Als sie heimkamen, war Lena verrückt vor Freude. In drei Tagen würden sie in Prag sein! Ihr Vermieter, ein dicker Armenier, hatte gewöhnlich lange mit Abdul Rahman über die Unterdrückung ihrer beiden Völker getratscht und mit ihm Tee getrunken, wenn er gekommen war, um die Miete jeweils vier Monate im Voraus zu kassieren. An diesem Tag hätte er ihnen somit das Geld für drei Monate zurückgeben müssen. Als ihn Abdul Rahman darauf aufmerksam machte, begann er, über seine Armut und darüber zu klagen, dass er nicht in der Lage wäre, den Betrag rückzuerstatten. Sie bekamen ihr Geld also nicht. Noch dazu mussten sie alles, was sie bereits für ihr künftiges Zuhause in Kurdistan gekauft hatten, aufgeben, weil ihnen die Mittel und die Zeit fehlten, es nach Prag senden zu lassen. Auch das erbte der „arme“ Armenier.

Abdul Rahman war von Natur aus weiser als Lena. Er nahm die Dinge, wie sie kamen, und ließ sich nicht beirren. Lena hingegen erging sich in Spitzfindigkeiten, versuchte, Dinge vorherzusehen, und fragte sich, was richtiger Weise in diesem oder jenem Fall zu tun wäre. Sie wollte gerne darüber reden. Aber Abdul Rahman antwortete stets:

„Wir werden sehen, und wir werden immer eine Lösung finden.“

Er hatte recht.

Sie verließen den Orient mit insgesamt vier Koffern, um nach Prag zu fliegen und wieder einmal ein neues Leben aus dem Nichts aufzubauen.