Kapitel 9 Europa, Prag

Das Rote Kreuz nahm sie in Empfang und brachte sie in einem Vier-Sterne-Hotel im Zentrum von Prag unter. „Das ist vorübergehend“, sagte Herr Mejdrich, der Verantwortliche für Immigranten, und gab ihnen einen Briefumschlag mit einem Geldbetrag, der zur Abdeckung kleiner, alltäglicher Ausgaben diente.

Prag war für Lena eine fremde Stadt geworden. Ihre Zukunft hier kam ihr sonderbar vor, wie von ihr losgelöst. Sie fühlte sich in ihrem eigenen Land als Ausländerin. Sie hatte die Verhaltensweisen ihrer Mitbürger vergessen, oder war es sie, die sich so sehr verändert hatte? Sie hatte die Selbstsicherheit verloren und wieder zu stottern begonnen wie seinerzeit, als sie das „Geisterschloss“ im Irak verlassen hatte. Während ihres Aufenthalts in Damaskus war diese Sprechstörung mehr oder minder verschwunden gewesen. Sie empfand ihr eigenes Verhalten als unnatürlich, zumal sie nicht mehr in Gefahr war. Diese Freiheit war auf einmal etwas Unbekanntes und destabilisierte sie.

Wenige Wochen später tauchte Abdul Rahman in ihrem Hotelzimmer auf. Das war eine echte Überraschung, und instinktiv fühlten die Kinder, dass das Glück in dieses Zimmer gekommen war: Die Familie war vollständig.

In Prag nahte der Frühling. Die tschechoslowakische Gesellschaft begann, eine Luft zu atmen, die vom Geruch der Angst und der Unsicherheit befreit war. Für Abdul Rahman und Lena war diese Atmosphäre nach Jahren des Lebens im Untergrund geradezu berauschend. Sie genossen diese neue Freiheit trotz ihres reflexartigen Argwohns beim Anblick von Uniformen der Polizei oder des Militärs, der in ihnen über die Jahre entstanden war. Schließlich lachten sie über sich selbst, weil sie diese alten Reaktionsweisen nicht abgelegt hatten.

Schon bald wies ihnen das Rote Kreuz in einem für Immigranten bestimmten Gebäude ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer zu. Aber das Hygieneinstitut von Prag hatte festgestellt, dass dieser Raum wegen der Feuchtigkeit vor allem für Kinder gesundheitsschädlich war. Es sandte deshalb Beauftragte der Sozialhilfe, die Hiwa trotz aller Proteste Lenas und der Tränen des Kindes abholten. Sie wurde in eine „gesunde“ Einrichtung gebracht, die während jener drei Monate unter Quarantäne stand, die Hiwa dort bleiben musste. Während der Zeit dieser Trennung konnte Lena ihre Kleine nur ein einziges Mal in die Arme nehmen. Sonst konnte sie das Kind nur hinter einer Absperrung aus Metall sehen. Es war sowohl für die Mutter als auch für das Kind eine sehr schwierige Zeit.

Weil sie im Orient die Sprache nicht benützen hatte können, war Lena im Gebrauch des Tschechischen etwas unsicher geworden. Hinzu kam, dass sich in Prag ihre Sprechstörung verschlimmerte. Darüber hinaus hatten all die Erlebnisse im Orient die Widerstandskraft ihrer Nerven geschwächt. Jetzt fühlte sie die Auswirkungen. Sie lebte zwar als freier Mensch, aber mit falscher Identität wie alle Mitglieder der Familie. (Sie hatten immer noch jene falschen Pässe, die von den kurdischen Freunden im Irak für sie aufgetrieben worden waren.) Somit gingen die Kinder unter falschem Namen in die Schule. Es war Lena nur gelungen, die Schuldirektorin dazu zu bewegen, sie mit den richtigen Vornamen einzuschreiben, aber nicht mit dem richtigen Familiennamen. Abdul Rahman trug einen anderen Namen als seine Frau und seine Kinder. Sehr wohl hatte sich Lena bei den zuständigen Behörden und auch dem Roten Kreuz bemüht, anhand der von ihr vorgelegten Dokumente ihre wahre Identität wieder herzustellen. Die Versuche waren langwierig, ermüdend und dennoch nicht von Erfolg gekrönt. „Sie müssen mit den Identitäten zurecht kommen, die sie bei ihrer Ankunft hatten.“ Das waren die letzten Worte des zuständigen Beamten im Innenministerium. Insgesamt dauerte es acht Jahre, bis aus ihnen wieder die Familie Ghassemlou wurde.

Um ihren Aufenthalt in Prag zu nützen, inskribierte Lena an der Karlsuniversität und begann jenes Studium, das sie so gerne vor ihrer Heirat gemacht hätte.