Epiloge

Marc Kravetz über den kurdischen Ausnahmepolitiker

A.R. Ghassemlou – lebend

Am 13. Juli 1989 starb Abdul Rahman Ghassemlou – ermordet in Wien. Nach sechsmonatiger Unterbrechung war der Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran (DPKI) am Abend davor in der österreichischen Hauptstadt eingetroffen, um an einer neuen Runde von Geheimverhandlungen mit Vertretern der Islamischen Republik teilzunehmen. Die vorangegangenen Gespräche waren ohne Ergebnis geblieben. Das Regime in Teheran wäre damals, wie er meinte, zwar zu gewissen, für die Kurden günstigeren Regelungen bereit gewesen, hatte aber auf seiner Weigerung beharrt, über einen Autonomiestatus Kurdistans im Iran, wie ihn die DPKI forderte, zu reden.

Inzwischen hatten sich die Dinge verändert. Ayatollah Khomeini war tot. Der neue, starke Mann im Iran, Haschemi Rafsandschani, galt als Realist und Pragmatiker. Er hatte eine entscheidende Rolle dabei gespielt, Khomeini nach acht Jahren das Ende des Krieges mit dem Irak abzuringen. Der Staat war ausgeblutet, was ein Grund mehr war, endlich einen Ausweg aus dem Konflikt mit den iranischen Kurden zu finden. Obwohl A.R. Ghassemlou den Widerstand der Kurden gegen die „Revolutionswächter“ anführte, hörte er zehn Jahre lang nie auf, den Dialog zu suchen. Nun dachte er wahrscheinlich, dass dieses Mal die Umstände günstiger wären und dass das vierte Treffen in Wien am Ende erfolgreich sein würde. In jedem Fall hoffte er das.

Ganz wenige Leute wussten um das Geheimnis dieser Reise, auch unter seinen engsten Mitarbeitern. Die meisten erfuhren es, als alles vorbei und klar war, dass die Abgesandten Teherans mit ihren Diplomatenpässen keinen Auftrag zum Verhandeln, sondern zum Töten gehabt hatten. So einfach und so traurig war das.

Einige Wochen zuvor hatte mich Abdul Rahman in Paris eingeladen, mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Wir hatten einander mehr als ein Jahr lang nicht gesehen gehabt. Ich fand ihn in bester Form. Kurz vorher war ich aus Teheran zurückgekehrt, wo ich für meine Zeitung die Begräbnisfeierlichkeiten für Ayatollah Khomeini verfolgt hatte. Das war klarerweise eines der Themen unseres Gesprächs. „Sie haben seine Ankunft begleitet und sie haben seinen Abschied gesehen.“ Damit war die Sache ganz gut zusammengefasst. Ich hob dabei hervor, dass ich die Freude, Abdul Rahman getroffen zu haben, Khomeini und dem Krieg verdankte, den dieser gegen die Kurden begonnen hatte. „Damit sind es jetzt zehn Jahre, seit wir einander kennen“, bemerkte er. Dann sprachen wir über Erinnerungen an Mahabad und an jenes Dorf in den Bergen, wo ich ihn seinerzeit getroffen hatte. „Sie müssen ein Buch schreiben.“ „Über sie? Das wäre eine gute Idee.“ „Nein, das interessiert niemanden. Aber über unsere Geschichte. Ich könnte ihnen interessante Dinge erzählen.“ Er sagte mir, dass er später im Laufe des Sommers wieder nach Paris zu kommen plante. „Denken sie an das Buch“, meinte er noch, bevor er zu einem nächsten Treffen aufbrach.

Im Laufe unserer Unterhaltung hatte ich ihn gefragt, ob seiner Meinung nach der Tod Khomeinis der Beginn von Änderungen im Iran und für die Kurden sein könnte. Er antwortete ziemlich knapp. Das sei eine neue Situation, aber die Macht bliebe in denselben Händen. Es sei nötig, eine Zeit lang abzuwarten, um mehr zu sehen. Und wir wechselten das Thema. Ich weiß nicht, ob damals das Treffen von Wien bereits fixiert war. Jedenfalls deutete er keine mögliche Wiederaufnahme von Gesprächen mit den Leuten aus Teheran an. Es war auch kein Arbeitstreffen. Um eine tiefer gehende Diskussion zu führen, wollten wir seinen nächsten Besuch in Paris abwarten. Ich konnte nicht wissen, dass ich ihn zum letzten Mal sah und dass ich nur wenig später in Wien über dessen Ermordung recherchieren würde.

Jenen Ghassemlou, den ich kannte, finde, oder besser, entdecke ich in der bewegenden und so exakten Erzählung, die ihm Helene Krulich widmet. Unter allen möglichen Zeugen war offenbar sie in der besten Position, in der sie mit ihm das Gute und das Böse teilte. Ihr verdanke ich, erfahren zu haben, woraus dieser Mensch gemacht war – jenseits der militärischen Gegebenheiten und des politischen Anführers, den ich bis zu seinem Ende zehn Jahre lang gekannt hatte und von dem ich doch kaum etwas wusste. Abdul Rahmans Redefluss war nicht zu bremsen, wenn es darum ging, die kurdische Sache zu vermitteln. Während der zehn Jahre, in denen unsere Wege einander kreuzten, behandelte er bei unseren Treffen auch oft tiefschürfend alle Arten von Themen, die ihm am Herzen lagen – seien es philosophische, literarische, die Dichtkunst oder auch die französischen Weine betreffend. Aber bei allem, was sein privates Leben betraf, übte er sich in totaler Diskretion, und ich habe ihm dazu auch niemals Fragen gestellt. Mehr als 20 Jahre nach seinem tragischen Tod finde ich nun im Buch Helene Krulichs jenen Menschen, von dem ich mich damals verabschiedet habe, Ghassemlou – lebend.

Nie werde ich der „Libération“ genug dafür danken können, dass sie es mir ermöglicht hatte, mir all die nötige Zeit für die Recherchen in Wien zu nehmen, und mir dann all den Platz in der Zeitung gab, der für die Publikation notwendig war. Das war sicherlich eine journalistische Arbeit, aber zugleich auch eine Art Würdigung, die ich einem der außergewöhnlichsten Männer zu schulden meinte, die ich in Ausübung meines Berufes treffen durfte. Ich habe mit und durch Abdul Rahman Ghassemlou gelernt, dass es Kurden gibt, und von ihrer riesigen Widerstandskraft erfahren, an deren Ausmaß nur noch ihr Hunger nach einem Leben in Freiheit herankommt. Aber ich habe auch und immer besser eine politische Führungspersönlichkeit entdeckt, wie es sie nur selten auf diesem Planeten gab und gibt. Einige markanten Charakteristika dazu möchte ich hier gerne in Erinnerung rufen.

*

Alle nannten ihn „Doktor“, und ich muss gestehen, dass ich in gutem Glauben annahm, er wäre im zivilen Leben Mediziner, als ich Dr. Abdul Rahman Ghassemlou zum ersten Mal in dessen Büro in Mahabad traf. Bald erfuhr ich, dass er sein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften und anderen Disziplinen erworben hatte. Das war kein Grund, sich Asche auf’s Haupt zu streuen, aber diese Dummheit war zugleich auch ein Indiz für die weitverbreitete Ignoranz (die keine Entschuldigung sein kann) unserer Journale im Zusammenhang mit den Kurden im Iran. Diese Ignoranz wird noch verschärft durch die gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit der großen Medien angesichts von Problemen, die als zu kompliziert für eine breite Öffentlichkeit gelten – wie es im einigermaßen zynischen Redaktions-Jargon heißt: Das Thema „verkauft“ sich nicht.

Vom Iran aus betrachtet, waren die Dinge etwas anders. Die Kurden waren in jenem Sommer 1979, rund sechs Monate nach der Rückkehr des Imam Khomeini, plötzlich ein heißes Thema geworden. Abdul Rahman war zum Delegierten für die „Expertenversammlung“ gewählt worden, die im Prinzip die neue Verfassung der Islamischen Republik erarbeiten sollte. Der Vertreter der Kurdenregion und einzige, deklarierte Nicht-Religiöse hielt aufgrund ernsthafter Sachverhalte seine persönliche Sicherheit in Teheran für bedroht und zog es vor, der konstituierenden Sitzung fernzubleiben. Er sah das richtig. Der Imam bedauerte öffentlich diese Abwesenheit und fügte vor laufenden Fernsehkameras hinzu: „Wie schade. Wir hätten ihn verhaftet und sofort erschossen.“ Das war nicht einfach so dahergesagt, und niemand konnte es missverstehen. Es wurde viel erschossen in jener Zeit, sei es nach Massenprozessen oder überhaupt ohne jedes Verfahren.

Das war zugleich auch das Zeichen für den Beginn einer Generaloffensive gegen das iranische Kurdistan, und das erste Ziel waren die DPKI und deren Chef, der im Namen Gottes zum wichtigsten Feind der Revolution erklärt wurde. Endlich gab es in dieser hochsommerlichen Nachrichtenflaute ein Ereignis. Die wenigen Korrespondenten und ausgesandten Sonderberichterstatter, die noch in Teheran geblieben waren, stürzten sich auf die Taxis mit deren prohibitiven Tarifen. Diese Preise waren zumindest für die Kasse meines Blattes indiskutabel. Ich entschloss mich daher, öffentliche Transportmittel in Anspruch zu nehmen, im konkreten Fall den Nachtbus, der die tägliche Verbindung zwischen Teheran und Mahabad herstellte. Das war mein Glück.

Die Autos mit den Journalisten waren von Sperren der Armee und der Pasdaran – der Revolutionswächter, die als Miliz des Regimes so ihre Feuerprobe starteten – aufgehalten worden. Meinen Kollegen wurde erklärt, dass ihnen der Zutritt zu diesem Gebiet vorübergehend „wegen ihrer eigenen Sicherheit“ verboten war. Keiner von ihnen verfiel auf die Idee, dass ein Journalist, der diese Bezeichnung verdiente, im Bus reisen könnte. Als unser Bus die Sperre passierte, ignorierten mich die Uniformierten bei ihrer Kontrolle. So traf ich nach einer 14stündigen Fahrt an einem strahlend sonnigen Morgen in Mahabad ein.

Trotz der kriegslüsternen Verwünschungen aus Teheran und des Umstands, dass nur wenige Kilometer entfernt im Osten auf der anderen Seite der Hügel Truppen mit schwerer Ausrüstung zusammengezogen worden waren, machte Mahabad den Eindruck einer kleinen und merkwürdig friedlichen Provinzstadt. Abgesehen von den Peschmergas – den kurdischen Kämpfern – die mit ihren Kalaschnikows einige Gebäude bewachten, sowie von in den leeren Himmel gerichteten Fliegerabwehrgeschützen da und dort waren keine Anzeichen von militärischer Aktivität zu sehen. Nichts ähnelte auch nur von Ferne dem Aufgebot an Milizionären im Libanon, das ich als einzig vergleichbare Situation in Erinnerung hatte. Und dennoch wurde die Stärke der Bewaffneten der DPKI mit mehreren Tausend Mann angegeben. Wo waren sie? Ein Rätsel.

Die allerersten Eindrücke niemals zu vergessen, ist eine goldene Regel im Beruf der Reporter. Der Umstand, der sich dem Neuling hier spontan als der markanteste darstellte, war diese Atmosphäre ruhiger und lächelnder Gutmütigkeit, die man auf den Straßen von Mahabad fühlte. Man begegnete entspannten Männern und Frauen, deren Haar nicht verdeckt war und mit denen man Blicke tauschen konnte. Das wäre nichts Außergewöhnliches gewesen, außer man kam aus Teheran, wo das weibliche Element quasi aus der Gegend verschwunden war. Die Frauen waren auf schwarze und stumme Silhouetten reduziert, und ein Fremder löste entweder feindliche oder verängstigte Blicke aus. In nur 600 Kilometer Entfernung hatte ich das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. In Mahabad herrschte so etwas wie ein Duft von Freiheit.

Ohne dass ich irgendetwas in dieser Stadt gekannt hätte, war es für mich überhaupt nicht schwierig, das Büro der DPKI zu finden. Der Direktor des Hotels hatte mir einige Hinweise gegeben und zur Sicherheit auch noch einen seiner Kellner gebeten, mich zu begleiten. Dieser wusste den Ort selbst nicht genau und erkundigte sich unterwegs. Meine Unkenntnis der Sprache erlaubte mir nicht, die Fragen und die Antworten zu verstehen. Aber das Wort „Doktor“ kam immer wieder vor und löste allgemeine Hilfsbereitschaft aus. Offenkundig war der Name Ghassemlou jedermann vertraut, und die Vorstellung, dass dieser Fremde nach Mahabad gekommen war, um ihn zu treffen, schien unsere Gesprächspartner zu erfreuen. Ebenso einfach war der Zutritt zu seinem Büro. Niemand dachte daran, nach meinen Papieren zu fragen oder mich zu durchsuchen. Auch das war ein gewaltiger Unterschied.

„Ja, hier kennt mich jeder“, betonte der „Doktor“, und, nachdem Begrüßung und Vorstellung erledigt waren, schilderte ich ihm, wie ich den Weg bis zu diesem Ort gefunden hatte. „Es ist wahr, ich habe kaum Konkurrenten“, fügte er mit einem gewissen Lächeln hinzu, das mir leicht ironisch erschien. „Und wie geht es Frankreich?“ Unsere Unterhaltung lief für einige Minuten so scheinbar harmlos weiter. Es war vor allem er, der Fragen stellte. Er wollte wissen, wie ich es bis nach Mahabad geschafft hatte. Ich schilderte ihm meine Busfahrt. Er lachte schallend. „Sie sind noch nicht perfekt. Sie haben Glück gehabt. Einer ihrer Kollegen hat mich von Teheran aus angerufen und mir gesagt, dass sie auf dem Weg zurückgeschickt worden waren.“ Dann fragte er mich nach der Stimmung in Teheran und danach, was dort über die Kurden und über ihn gesagt wurde. „Wissen sie, dass Khomeini mich erschießen lassen will?“ Wenigstens das wusste ich. „Er sagt, sie seien ein Konterrevolutionär.“ Darüber musste er wieder lachen.

Ich fragte ihn, was seine Ankläger ihm aus seiner eigenen Sicht tatsächlich vorwarfen. Er machte eine Geste, die ich als etwas wie „ein riesiges Programm“ interpretierte. „Ich bin ich, ich bin Kurde. Das genügt ihnen und macht mir viel Ehre“, fasste er zusammen. Dann erzählte er mir vom „Anderssein der Kurden“ und führte zuerst die Tradition der Gastfreundschaft und der Toleranz des kurdischen Volkes an. „Das allein ist ihnen schon unerträglich. Sie werden in Mahabad Juden, Christen, Bahais und sogar Atheisten finden, alle möglichen Menschen, die aus Teheran geflüchtet sind. Wir haben nicht die gleiche Auffassung vom Islam wie Khomeini. Die Kurden haben allen Grund, am Schicksal von Minderheiten Anteil zu nehmen.“

Er sprach auch von den Hoffnungen, die durch die Revolution geweckt worden waren, der Beteiligung daran, und vom hohen Preis, den seine Partei, die DPKI bezahlen musste – ihre Kämpfer waren von der SAVAK, der entsetzlichen Geheimpolizei des vorangegangenen Regimes, gefoltert und ermordet worden. „Wir waren die ersten, die sich gegen den Schah wehrten, sowohl als Kurden als auch als Iraner. Autonomie für Kurdistan und Demokratie für Iran. Das ist unser Wahlspruch, wie sie wissen.“ Mit der Hoffnung war es schnell vorbei. Die religiösen und die nationalen Minderheiten lernten rasch, dass es in der Islamischen Republik keinen Platz für Unterschiede gab – von den Kurden angefangen.

„Ein Kurde wird nie aufhören, zur Verteidigung seiner Rechte zu kämpfen. Wir haben gegen das alte Regime gekämpft und wir werden weiterhin gegen das neue kämpfen, wenn es unsere legitimen Rechte missachtet. Die Freiheit ist in unseren Genen.“ Diese Ausführungen mochten an die Phrasen „revolutionärer“ Anführer gegenüber Journalisten erinnern, und ich hatte solche oft gehört. Aber der Ton war nicht der gleiche. Die Wörter waren nicht bombastisch ausgesprochen worden, mehr in der Tonlage einer Erklärung als einer Proklamation.

An Ort und Stelle wäre ich außerstande gewesen zu sagen, warum dieser Mann mit diesen Aussagen auch keine Ähnlichkeit mit anderen politischen Führungspersonen aufwies, die zu treffen ich Gelegenheit gehabt hatte. Unser Gespräch wurde häufig durch Männer unterbrochen, die ins Büro kamen. Die kurzen Wortwechsel konnte ich nicht verstehen, aber sie hinterließen zweifelsfrei den Eindruck, dass Ghassemlou sehr wohl der Chef war, den man respektierte und dem man gehorchte. Nach jeder dieser Unterbrechungen nahm er den Gesprächsfaden mit demselben, ruhigen Ton und demselben Lächeln wieder auf, als ob er mich nicht nur überzeugen, sondern auch zum Zeugen seiner Überlegungen machen wollte. Dieser erste Eindruck bestätigte und verstärkte sich im Zuge späterer Begegnungen. Von seiner persönlichen Geschichte wusste ich nichts. Ich konstatierte nur, dass der Generalsekretär der DPKI, also der politische und militärische Chef einer Befreiungsbewegung der Dritten Welt, wie man es damals nannte, keine Angst davor hatte, für einen Intellektuellen gehalten zu werden.

Von damals bis heute, da ich diese Zeilen schreibe, sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Diese Begegnung ist ein bedeutender Augenblick in meinem Berufsleben geblieben. Die Bilder jener ersten Reise nach Mahabad und die paar Tage, die ich im historischen Herzen des besetzten Kurdistan verbracht habe, vermischen sich mit unseren Gesprächen im Büro von Ghassemlou. Die Begleitumstände waren außergewöhnlich, und es ist nicht nötig, mehr über die dramatische Situation zu ergänzen. Trotzdem erinnere ich mich an so etwas wie eine glückliche Phase, was klarerweise in hohem Maß an der herzlichen Gastfreundschaft lag, aber vielleicht noch mehr an der ansteckenden Heiterkeit des Mannes, auf dem so viel Verantwortung lastete, und der besser als irgendjemand sonst wusste, welches Unwetter sich jeden Moment entladen konnte.

Es war eine Frage von Tagen, vielleicht nur Stunden, und die Bevölkerung wusste es auch. Wie hätte sie auch nicht wissen können, dass auf der anderen Seite des Tales der Angriff vorbereitet wurde? Nichts von all dem schien die lächelnde Gelassenheit des „Doktors“ zu berühren. Dieses Lächeln, das er so selten verlor, erschien mir wie eine unterschwellige Botschaft, aus der ich herauslas, dass es vor allem keinen Sinn hat, Panik oder gar Verzweiflung aufkommen zu lassen, wenn die Zeit dermaßen knapp wird. A.R. Ghassemlou war, wie ich entdeckte, eine Art Optimist. Ich fing an zu begreifen, dass für die Kurden der Frieden eher die Ausnahme als die Regel war, und der Frieden in Freiheit eine noch viel größere Ausnahme. Wir erlebten so einen wertvollen Augenblick, und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Erinnerung daran für immer wach blieb.

In Helene Krulichs Erzählung finde ich irgendwo, dass ihr Mann sich diesen Satz von André Malraux notiert hatte: „Ich habe Krieg geführt, ohne es gewollt zu haben.“ Er hat fast die gleichen Worte mir gegenüber im Zusammenhang mit einem anderen Gespräch gebraucht, als ich ihn in Erwartung dessen, was sich auf der anderen Seite der Hügel zusammenbraute, genau nach seiner Sicht des Krieges fragte. Ich fühlte mich nicht wohl mit meinen Fragen. Aber war das denn nicht genau der Grund, warum ich die Reise von Teheran unternommen hatte? Es war Teil meines Berufes, und es machte einen nicht zwangsläufig zum Aasgeier. Ich fügte wie entschuldigend hinzu, dass ich Krieg nicht mochte. „Ich auch nicht. Der Krieg zerstört nicht nur Leben und Gebäude. Er zerstört die Menschen. Aber sie lassen uns keine Wahl, und unsere Peschmergas sind gute Kämpfer.“ Ich hatte die Bedeutung dieses Worts noch nicht gekannt: „Die zum Tode Bereiten“. Ich habe es bei dieser Gelegenheit gelernt. „Es sind die anderen, die uns den Krieg aufzwingen“, ergänzte er, „wir, wir leisten Widerstand.“

Das Verhältnis der militärischen Kräfte war von Anfang an mehr als ungünstig. „Wenn sie darunter verstehen, dass wir weder über Panzer noch Flugzeuge verfügen, haben sie recht. Wir hätten dafür allerdings auch keine Verwendung. Wir haben Besseres. Wir haben unsere Berge. Und wir sind gut vorbereitet.“ Ich wusste aus Erfahrung, dass es in solchen Situationen nutzlos war, weitere Fragen zu stellen und noch nutzloser, darauf Antworten zu erwarten. Ich wagte die letzte Frage: Was würde in Mahabad geschehen, wenn die Leute gegenüber sich zum Angriff entschlössen? „Wir werden Widerstand leisten, so lange es geht, aber außerhalb der Stadt. Wenn wir sie nicht aufhalten können, wird Mahabad eine offene Stadt werden. Wir werden die Kämpfer herausbringen. Nur so können wir der Bevölkerung unnötiges Leid ersparen. Sie haben die Mittel, die Stadt zu zerstören, und wir haben nicht die Mittel, um sie zu verteidigen. Ich habe es ihnen schon gesagt, unsere Kraft liegt in unseren Berge. Haben sie jetzt genug für ihren Artikel?“

Das war nicht wirklich eine Frage, nur eine höfliche Art, mir mitzuteilen, dass der Chef der DPKI jetzt Wichtigeres zu tun hatte, als die Neugierde des Sonderberichterstatters der „Libération“ zu befriedigen, auch wenn er der einzige Auslandskorrespondent in Mahabad war. Ich hätte gerne mehr gewusst. Aber es muss alles zur richtigen Zeit sein. Und ich konnte nicht wissen, dass dieses Gespräch, jedenfalls an diesem Ort, das letzte war und ich einen Sitz der DPKI in Mahabad nicht wiedersehen würde.

Im Morgengrauen des folgenden Tages wurde ich von einer Reihe Explosionen geweckt. Vom Dach des Hotels aus, das die Stadt überragte, konnte man die weißen Rauchwolken an den Flanken der Hügel der Umgebung sehen. „Die Flieger“, schrie der Hotelchef. Im selben Augenblick flogen zwei Jagdbomber über den Himmel und warfen neuerlich rund ein Dutzend Bomben in die Natur, allem Augenschein nach noch weit genug von der Stadt entfernt. Aber die Explosionsgeräusche wurden durch das Echo verstärkt und dröhnten damit so laut, dass man meinen konnte, die Bomben wären in der Straße daneben niedergegangen.

Dann kam die Stille wieder. Es war eine schreckliche Stille, die wirkte, als ob sich in der Stadt nichts mehr regte. Sogar die Vögel hatten aufgehört zu singen. Möglicherweise waren aber nur meine Trommelfelle durch die Explosionen taub geworden. So vergingen einige Minuten. Ich war immer noch auf dem Dach, als ich sah, wie eine Familie aus einem Haus in der Nähe fortging, dann eine andere und noch eine weitere. Ich stieg hinunter und ging auf die Straße, es war überall dasselbe. Kleine Gruppen wurden stetig größer und gingen in die gleiche Richtung auf die wichtigsten Straßen der Stadt zu. Es entstand ein wahrer Strom aus marschierenden Menschen. Wohin? Ich konnte es nicht wissen.

Binnen weniger als zwei Stunden hatte die Bevölkerung Mahabad verlassen wie einen Köper, aus dem das Blut ausrinnt. Kurz vor Mittag kündigte das Grollen der Panzer die Ankunft der Sieger in dieser verlassenen Stadt an. Es war kein Schuss gefallen.

Nur nebenbei möchte ich festhalten, dass auch das Personal des Hotels den Ort verlassen hatte. Als ich von meinem kurzen Rundgang in der Stadt zurückkam, traf ich den Chef des Hotels, als er gerade sein Auto belud. Bevor er wegfuhr, vertraute er mir den Schlüssel seines Büros an, wo sich das einzige Telephon des Hauses und auch ein Feldbett befanden. Ich beschloss, mich hier mit meiner Schreibmaschine einzurichten, und dachte nicht viel darüber nach, wie ich von hier wegkommen würde. Wirklich dringend war, dass ich meinen Artikel schrieb und schilderte, was geschehen war, obwohl ich mir sagte, dass ich keine Möglichkeit für die Übermittlung haben würde. Ich irrte. Kaum hatte ich den Hörer abgenommen, war am anderen Ende der Leitung auch schon eine Vermittlerin, die noch dazu Englisch konnte. Ich fragte sie ohne viel Hoffnung, ob ich eine Nummer in Paris, Frankreich, anrufen könnte. „Welche Nummer, Sir?“ Ein paar Sekunden später sprach ich mit meiner Zeitung. Und es wurde noch besser. Kurz darauf läutete das Telephon. Es war eine der großen Radiostationen von Paris, die anrief und für die ich einen Bericht als Momentaufnahme der Ereignisse von Mahabad aus dem Stegreif lieferte. Dann rief noch das Teheraner Büro der französischen Nachrichtenagentur „Agence France Presse“ (AFP) an. Oh, welch geheimnisvolles Telephon. Für heutige Leser muss in Erinnerung gerufen werden, dass 1980 jene wunderbaren Kommunikationsmittel, die uns inzwischen unerlässlich sind, noch nicht erfunden waren. Man kommunizierte per Telephon oder per Telex, was ebenso teuer wie beim Zugang mühsam war und von den Behörden streng kontrolliert sowie gegebenenfalls auch ohne Zögern unterbunden wurde. Warum und wieso lief das alles so gut in Mahabad, viel besser als in Teheran, obwohl die Stadt eben von den Pasdaran besetzt worden war? Ich hatte keine Erklärung. Als ich, viel später, A.R. Ghassemlou in einem kleinen Dorf in den Bergen diese Geschichte erzählte, ließ er mich wissen, dass die Angestellten der lokalen Telephonzentrale damals Kämpfer der DPKI gewesen waren. Ich konnte dieses Detail nie verifizieren, aber die Sieger jenes Tages wussten erwiesenermaßen nichts davon. Ich verstand auch nicht, wie diese Nummer des Hotels „2 in Mahabad“ direkt vom Ausland aus erreicht hatte werden können. Ich bezeuge trotzdem, dass die Informationen aus der besetzten Stadt 48 Stunden lang nach außen übermittelt werden konnten, ohne dass irgendjemand darauf aufmerksam geworden wäre. In diesem Beruf muss man manchmal mit kleinen Wundern zufrieden sein, ohne sich zu viele Fragen zu stellen.

Ich erfuhr bald, dass die Leute von Mahabad nicht sehr weit wegmarschiert waren. Sie hatten provisorisch Zuflucht in der Umgebung in Richtung der Berge gesucht. Die meisten von ihnen kamen an den folgenden Tagen zurück.

Am Abend des Tages des Einmarsches berichtete allerdings der Präsentator des offiziellen TV-Journals in lyrischem Ton von der „Befreiung Mahabads“. Er schilderte, wie die tapferen Soldaten im Namen Gottes die „konterrevolutionären Banden“ in die Flucht geschlagen hätten und unter dem Beifall des Volkes in die Stadt eingezogen wären, das sie feierte und ihnen Blumen und Reiskörner zugeworfen habe. Der Name des Chefs der Banditen wurde nicht genannt. Man erfuhr nur, dass der Verräter die Flucht ergriffen und seine Männer im Stich gelassen hätte. Er würde jedoch nicht für lange Zeit der gerechten Strafe entkommen, die ihm sicher sei.

Für einen, der diesen Moment der Geschichte auf der anderen Seite erlebt hatte, hörte sich diese Lawine von Unwahrheiten wie eine Form von Anerkennung für den kurdischen Widerstand und dessen Chef an.

Der Fernseh-Präsentator hatte nur einen Propagandatext heruntergelesen, aber die Militärs an Ort und Stelle wussten, von wo sie zurückgekehrt waren und hatten es ihren Vorgesetzten berichtet. Es hatte keinen Kampf gegeben und ebenso wenig Blumen und Reis zur Begrüßung der sogenannten Sieger. Auch keine Flucht. Die Peschmergas waren ihnen quasi zwischen den Fingern durchgeronnen. Sie hatten die Stadt „genommen“, aber sie war nur ein leeres Schneckenhaus gewesen. Die Bevölkerung hatte ihnen buchstäblich den Rücken gekehrt. Mit dem Fall von Mahabad erschöpfte sich der von Teheran begonnene Krieg in einem Sieg ohne Nutzen für das Regime. Der kurdische Widerstand war weiterhin intakt und hatte sich in seine Berge zurückgezogen. Alles geschah am Ende so wie es der Chef der DPKI angekündigt hatte.

*

Dieser Bericht mag Liebhaber von Heldensagen enttäuschen. Hier ist nur die Rede vom letzten Tag vor dem Eindringen der Pasdaran in Mahabad. Tatsächlich hatte die Belagerung der Stadt 18 Tage lang gedauert, und die Peschmergas hatten blutige Kämpfe gegen die Truppen aus Teheran geführt. Diese waren allerdings fern der Stadt selbst ausgetragen worden. Der vollständige Bericht über diese Episode wurde damals in „Libération“ veröffentlicht. Der Ablauf der Ereignisse illustriert auf seine Art ebenso deutlich einen anderen markanten Charakterzug von A.R. Ghassemlou, der hier erläutert werden sollte. Man kämpfte nicht „bis zum letzten Blutstropfen“, wie es das berühmt-berüchtigte Schlagwort sagt, das ich so oft unter anderen Umständen gehört hatte. Ghassemlou hatte offensichtlich niemals irgendetwas derartiges proklamiert. Angesichts von Luftwaffe, Panzern und schwerer Artillerie sowie noch dazu der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes hatten die Peschmergas keine Chance. Taktische Fragen standen nicht zur Diskussion. Aber es ging nicht nur um die Taktik.

Ghassemlou wollte Blutvergießen unter seinen Kämpfern vermeiden und machte sich, wie er sagte, noch größere Sorgen um die Bewohner der Stadt. Mahabad militärisch zu verteidigen wäre darauf hinausgelaufen, schwerste Zerstörungen und danach noch entsetzlichere Repressalien heraufzubeschwören. „Wir führen keinen Krieg, wir leisten Widerstand.“ Auch dabei handelte es sich wiederum nicht um einen Slogan, sondern um eine Erklärung. Widerstand zu leisten, hieß für den DPKI-Generalsekretär nicht, Blut für den Ruhm der Bewegung und von deren Anführer zu vergießen. Das freie Kurdistan, von dem er träumte, wollte er für Lebende. Das stand in direktem Kontrast zum Märtyrerkult des schiitischen Islam, wie ihn die Kämpfer des Imam auf die Spitze trieben. Alles in allem waren die Kurden weit entfernt von den „revolutionären“ Bildern der Zeit. Ich erinnere mich an noch eine Bemerkung Ghassemlous. „Viva la muerte“, sagte er mit seiner üblichen Ironie. „Das war ein faschistischer Slogan, nicht? Finden sie es nicht abartig, dass man so etwas im Namen einer Revolution anführt?“

Repressalien blieben der Zivilbevölkerung allerdings nicht völlig erspart. In allen kurdischen Städten, die von den Truppen Teherans besetzt wurden, spielten sich barbarische Szenen ab. Der düstere Scheich Sadeh Khalkhali, von Imam Khomeini der „islamistische Wanderrichter“ genannt, zog mit seinem „revolutionären Tribunal“ durch die Lande und vervielfachte die Anzahl der Schnellverfahren. Die Anhörungen dauerten nur wenige Minuten, alle wurde durch Todesurteile beendet, die auch sofort exekutiert wurden. Khalkhali war stolz darauf und zögerte nicht, diese Exekutionen filmen zu lassen.

Ein Photo davon wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und ging um die Welt (siehe Anhang am Ende der Epiloge). Es schockierte zwar eindeutig, aber doch nicht genug, um das Gewissen zu wecken. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Unterdrückung im iranischen Kurdistan auch nur die kleinste Demonstration in unserem westlichen Teil der Hemisphäre – und noch weniger in deren Rest – ausgelöst hätte. Es gab nicht einmal eine der empörten Petitionen, mit denen die fortschrittlichen Intellektuellen sonst im allgemeinen nicht zurückhaltend waren. Das war nicht zum ersten Mal so und auch nicht zum letzten Mal. Ach, einsame Kurden.

A.R. Ghassemlou war darüber freilich nicht erstaunt. Gerade an seinem Platz wurde die Isolation klar, in der er seinen Kampf führte. Er genoss das offensichtlich keineswegs, aber er beklagte es auch nicht. „Das ist ein Faktum“, stellte er fest, „und für unsere Bewegung nur ein scheinbares Zeichen der Schwäche. Unser Ziel ist es nicht, uns um jeden Preis durch spektakuläre Aktionen bekannt zu machen.“ Man konnte das als die Worte eines Weisen sehen, der versucht, zum bösen Spiel gute Miene zu machen, aber hier sprach auch, wenn nicht sogar zuvorderst, der politische Anführer. Es war derselbe, der im November 1979 vom ersten Tag an die Geiselnahme unter den Diplomaten und den Angestellten der Botschaft der Vereinigten Staaten in Teheran verurteilt hatte. Diese Operation war von einer ziemlich mysteriösen Gruppe für sich in Anspruch genommen worden, die ihre Kommuniques als „der Linie des Imam treue Studenten“ unterzeichnete. Sie sollte die Welt 444 Tage lang in Atem halten.

Solche Methoden waren Ghassemlou zuwider. Es sei eine Sache, den Iran vom amerikanischen Einfluss zu befreien, sagte er, eine andere, diese Auseinandersetzung auf eine spektakuläre Erpressung mit menschlichen Leben nach den Methoden von Ganoven zu reduzieren. Die Dritte Welt vom Imperialismus der Großmächte zu erlösen, wie es auch das Programm der DPKI vorsah, brauchte einen langen Atem auf dem weiten Weg zum Ziel. Dieser war zugleich untrennbar mit dem inneren Ringen um den Aufbau einer demokratischen Mentalität sowohl innerparteilich als auch im gesamten Volk verbunden. Diese Form der Fortbildung im Kampf war für ihn die erste aller Prioritäten. „Die Freiheit setzt eine schwierige Lehrzeit voraus“, sagte er gerne und bestand darauf, dass selbst in der härtesten Auseinandersetzung die allgemeinen Ziele des Kampfes nie den Erfordernissen eines Augenblicks geopfert werden durften. Kein Ziel, wie wunderbar es auch sein mochte, rechtfertige alle Mittel.

Die Frage des Terrorismus ging ihm nicht aus dem Sinn. Sein größter Stolz war, wie er oft genug betonte, dass die Ideale der Bewegung sich in der alltäglichen Praxis erkennen ließen. Niemals, so sagte er, habe die DPKI Gefangene misshandelt, Zivilisten genötigt, Flugzeuge entführt, Geiseln genommen und Bomben auf Märkten oder in Autobussen „feindlicher“ Städte sowie erst recht nicht außerhalb der Grenzen des Kampfgebiets gezündet. Auch wenn er Gewalt nicht schätzte, war A.R. Ghassemlou kein Pazifist. Er nahm seine militärische Verantwortung voll an. Seine Verurteilung jeder Art terroristischer Aktionen war aber für ihn gleichzeitig eine Frage des Prinzips, und er schrieb sie in seiner Kriegspädagogik fest. Es war eine moralische Wahl, die aus seiner Sicht auch eine politische Wahl darstellte.

„Wir zahlen den Preis dafür“, räumte er in einem von „Libération“ veröffentlichten Gespräch ein. „Man spricht wenig über uns, und unser Kampf weckt nicht das Interesse der Medien. Jede noch so winzige Gruppierung wird weltweit berühmt, wenn sie Geiseln nimmt oder Bomben legt. Eine Freiheitsbewegung, die ohne Terrorismus auskommt, wird ignoriert.“ Und er fügte hinzu: „Heute führe ich einen bewaffneten Kampf an, aber wir haben eine Verantwortung für die Zukunft. Was würden wir morgen mit Männern machen, denen wir solche Befehle gegeben hätten? Welche Gesellschaft könnten wir mit ihnen aufbauen, und wie könnten sie darin ein normales Leben führen? Wenn wir uns so benehmen wie unsere Gegner, dann sind wir auch nicht mehr wert als sie, und unsere Reden sind Lügen.“ So sah es der Doktor Abdul Rahman Ghassemlou.

*

Man hätte meinen können, dass solche in jener Epoche und in jenem Zusammenhang außerordentlichen Worte der DPKI und deren Chef von Seiten der westlichen Mächte ein gewisses Interesse hätten bringen können, dies umso mehr, als die kurdische Widerstandsbewegung die konsequenteste gegenüber der triumphierenden „Mullarchie“ war. Aber wie gesagt, das tragische Schicksal der kurdischen Bevölkerung im Iran löste nur bescheidene Reaktionen im Ausland aus. Die Sache der Kurden – nicht nur jene der fünf Millionen im Iran, sondern nach damaligem Stand von 25 Millionen, die auf fünf Staaten aufgeteilt waren – hätte zumindest einen informierten Teil der internationalen, öffentlichen Meinung zu ihren Gunsten mobilisieren können. Aber sie wurde hartnäckig von der Diplomatie der Großmächte ignoriert und fand kaum mehr Echo in den europäischen Demokratien, die sich vor allem um ihre jeweiligen und einander auch widersprechenden Interessen in der Region sorgten.

Sogar die Giftgasbomben aus den Flugzeugen Saddam Husseins und die 5.000 Toten in der irakisch-kurdischen Stadt Halabdscha im März 1988 lösten keine offiziellen Proteste aus. Eine der ersten Handlungen von Präsident George Bush (dem Vater) nach der Amtsübernahme war das präsidentielle Veto zu einer Resolution des US-Kongresses, in der Sanktionen gegen das Regime in Bagdad vorgeschlagen worden waren. Damit begann die Schonung Saddam Husseins, der bei all seiner Widerlichkeit doch der wichtigste Feind der Islamischen Republik war. Zuvor war das genaue Gegenteil der Fall gewesen, als der baathistische Irak der Feind und der Schah des Iran der Freund gewesen waren. Allianzen – oder auch Mesalliancen – konnten sich ändern. Nur die Kurden hatten keine Verbündeten, und das änderte sich nicht.

Ghassemlou wusste das nur zu gut. Er musste es ständig im Zuge seiner häufigen Reisen ins Ausland, insbesondere auch nach Europa, erfahren. Obwohl man ihm unverbindlich Respekt zollte, wurde er kaum je in offiziellen Kreisen empfangen. Im besten Fall konnte er hin und wieder gewisses humanitäres Engagement für sein Volk oder bei einem offenen Ohr eine Lösung für ein ihm am Herzen liegendes Problem erreichen, indem er alte Freundschaften ins Spiel brachte und seine Zugehörigkeit zur Sozialistischen Internationale nützte.

Jean-Francois Deniau, einstiger Minister unter Giscard d’Estaing, etwa erinnerte sich nicht ohne Emotion daran, dass Ghassemlou einst sein Büro belagert hatte, weil er von der französischen Regierung Unterstützung für die Wiederauflage des einzigen und seit langer Zeit vergriffen gewesenen französisch-kurdischen Wörterbuchs haben wollte. Andere, bekannte Ausnahmen unter den Franzosen waren Danielle Mitterrand, damals „First Lady“ der Republik, sowie sicherlich Dr. Bernard Kouchner, „Freund der Kurden“ seit den lange zurückliegenden Zeiten der „Französischen Ärzte“. Dazu kommen noch ein paar andere, wenig bekannte Personen, und die Liste ist fertig.

Wenn wir darüber sprachen, fiel mir in Ghassemlous Worten keine Bitterkeit auf. Vielmehr war da diese berühmte Ironie, die Teil seiner Persönlichkeit war. „Es ist nicht immer einfach, uns zu verstehen“, erklärte er, „Die Kurden sind kompliziert. Wenn man so wenige Freunde hat, muss man sich mit den Feinden zusammensetzen.“ Im Mittleren Osten sind, wie man weiß, die Feinde der Feinde...

Im Fall der kurdischen Bewegungen nahm dieser Spruch aus der Realpolitik während des achtjährigen Krieges zwischen dem Irak und dem Iran eine dramatische Wende. Dschalal Talabani, Chef einer der beiden großen Parteien im irakischen Kurdistan, hatte Zuflucht und Schutz im Teheran der Republik der Mullahs gefunden, während Ghassemlou vom Regime Saddams in Bagdad beherbergt wurde. Die beiden Männer waren seit langem Freunde gewesen, und die Situation war nicht angenehm. Ghassemlou sprach wenig darüber. Bei unseren Treffen erwähnte er das Thema nur einmal, und das sehr zurückhaltend. Auch das geschah nur, weil er hervorheben wollte, dass die je nach Gegebenheiten mit untereinander verfeindeten Lagern verbündeten Kurden jedenfalls alles daran setzten, Bruderkämpfe zu vermeiden. Wenigstens das...

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Ungeachtet der Anschuldigungen Teherans, wonach die DPKI und ihr Chef geheime Absprachen mit dem „Großen Satan“ hätten, zeigte Washington keine besondere Sympathie für die kurdische Sache. Die amerikanische Diplomatie war zwar aus geostrategischen Gründen, die der einstige, nationale Sicherheitsberater von Präsident Nixon, Henry Kissinger, in seinen „Erinnerungen“ ausführlich und zynisch beschreibt, zur Zeit des Kurdenkriegs im Irak (von 1961 bis 1975 unter Mustafa Barzani) besonders aktiv gewesen. Für die Kurden im Iran tat sie jedoch nie etwas.

Als alter Kommunist oder zumindest unter diesem Verdacht stehend hatte Dr. Ghassemlou keine Einreiseerlaubnis für die USA. Das blieb auch für die nächsten zehn Jahre so, bis Anfang Juli 1989. Am Vorabend seiner Reise nach Wien bereitete er mit besonderer Sorgfalt die erste Reise in die Vereinigten Staaten vor. Er erwartete, dort viel tun zu können, um das kurdische Problem bekannt zu machen, wenn er sich auch kaum Illusionen über das politische Resultat machte. Er hoffte, wenigstens gehört zu werden.

Was daraus hätte werden können, wird nie mehr jemand wissen. Das von Teheran ausgeschickte Mordkommando entschied anders. Aber es ist leicht zu erraten, was Abdul Rahman Ghassemlou seinen amerikanischen Gesprächspartnern dargelegt hätte. Die Losung „Autonomie für Kurdistan, Demokratie für Iran“ war nicht nur ein Slogan für Kongresse, eine Schrift auf Spruchbändern oder den Mauern der Häuser in Iranisch-Kurdistan, sondern das Ergebnis realistischer Überlegungen, die weit zurückreichten. Er hatte diese Forderung bei zahllosen Gelegenheiten verteidigt und begründet. Ich erinnere mich an einen Tag kurz nach dem Fall Mahabads am Ende des Sommers 1979, als es in einem kleinen, verlorenen Dorf in den kurdischen Bergen eine Demonstration gab. Ein Korrespondent der AFP, einer von Reuters und ich trafen Ghassemlou dort.

Nachdem die Stadt von den Pasdaran besetzt worden war, erhielten die festsitzenden Journalisten die Erlaubnis, nach Mahabad zu reisen. So beschlossen meine beiden Kollegen und ich zu versuchen, mit Peschmergas und, wenn möglich, auch mit Ghassemlou selbst zusammenzutreffen. Im Prinzip hatten die Journalisten nicht das Recht, Mahabad zu verlassen, es sei denn, um nach Teheran zurückzukehren. Die Besetzung Kurdistans war allerdings erst in ihren Anfängen, und die Straßen wurden kaum überwacht. Wir nahmen einen ziemlich vollbesetzten Kleinbus, der in eine benachbarte Stadt fuhr. Dort besorgte uns ein Kämpfer der DPKI mit Kontakt zu Ghassemlou einen Begleiter, der uns zu Fuß durch die Berge führen sollte. Die Einzelheiten dieser Reise haben hier keinen Platz, aber so konnten wir Ghassemlou treffen.

Vor ihm lag eine Landkarte. Mit einer Handbewegung umriss er symbolisch ein Territorium, das sich über die Grenzen des Iran, des Irak und der Türkei erstreckte. „Das ist Kurdistan“, sagte er, „das historische Vaterland der Kurden. Wir sind das größte Volk auf dieser Erde, das seiner elementaren Rechte beraubt ist. Ja, wir sind eine Nation, mit ihrer eigenen Geschichte, der eigenen Sprache und der eigenen Kultur.“ Er fuhr mit dem Finger entlang des Kamms der Berge neben dem Dorf und ergänzte: „Auf der anderen Seite ist der Irak, aber es sind Kurden, die dort leben. Wir sind also auch bei uns. Diese Grenzen sind nicht die unseren.“ Er schwieg einen Moment lang, wie um uns Zeit zum Nachdenken zu geben, und fuhr fort: „Aber ich weiß auch, dass man nicht so argumentieren kann. Ein ringsum eingeschlossener, kurdischer Staat ohne Zugang zum Meer, der die Landkarte sprengen würde, wäre ein Schrecken für die ganze Welt.“

In jenem ausgehenden 20. Jahrhundert mit dessen Betonung der Nationalitäten würde niemand die Vorstellung akzeptieren, „dass drei Staaten Territorium abgeschnitten würde, um einen vierten zu schaffen“, erläuterte er. „Die gerechte und annehmbare Antwort darauf ist die Autonomie, das Recht, unsere eigenen Angelegenheiten zu regeln, in unserer Sprache zu leben und zu unterrichten, sowie im Rahmen der Demokratie für alle gut mit den anderen Völkern des Iran auszukommen.“ Autonomie, Demokratie... der Iran könnte damit nur gewinnen, sagte Ghassemlou.

Die Mächtigen der Islamischen Republik dachten freilich nicht so. Khomeini zufolge gab es im Iran keine Kurden, ebenso wenig Perser, Azeris, Turkmenen, Balutschen oder Araber, sondern nur ein moslemisches Volk. Was die Demokratie anging, war sie eine perverse Ideologie, die vom Westen in der Absicht importiert würde, um das Volk zu spalten. Vor allem aber war der Slogan der DPKI für deren Gegner in Teheran nichts als eine Verlogenheit und eine plumpe Maske für einen Separatismus, der nicht eingestanden würde. Die vorgeschobene Autonomie wäre demnach nur der erste Schritt vor der Forderung nach einem „Großkurdistan“, in dem die Kurden des Iran, des Irak, der Türkei, und sogar jene aus Syrien und der UdSSR vereint würden. Das Übel musste ausgerottet werden, bevor es wachsen könnte. In diesem Punkt stimmten die „Weltlichen“ im Regime wie Abdolhassan Bani-Sadr (der bald zum ersten Präsidenten der Islamischen Republik gewählt und schnell von Khomeini abgesetzt werden sollte) mit der „Linie des Imam“ überein. Das Todesurteil gegen Ghassemlou wurde einhellig gefällt. Zehn Jahre später sollten es die Nachfolger Khomeinis exekutieren.

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Auch wenn er einzelne Gewaltakte ebenso ablehnte wie Gewalt als grundsätzliches Mittel, war Abdul Rahman noch lange kein Gewaltloser. Er führte eine bewaffnete Widerstandsbewegung an, die für ihre Zeit relativ machtvoll und bemerkenswert diszipliniert war. Das alles geschah unter besonders schwierigen Bedingungen und de facto in einer mehr oder minder permanenten Kriegssituation, die von kürzeren oder längeren Kampfpausen unterbrochen, aber ständig von neuer Eskalation bedroht war. Ein Leben im Untergrund und unaufhörliche Flucht waren sein Schicksal; davon finden sich zahlreiche Zeugnisse in der Erzählung Helene Krulichs. Seine Qualifikation als Anführer konzentrierte sich im wesentlichen auf die Organisation von Widerstand.

Er war deshalb nicht minder überzeugt, dass es für die kurdische Frage keine militärische Lösung gäbe. „Wir werden vielleicht nicht gewinnen“, sagte er wiederholt, „aber sie können uns auch nicht vernichtend schlagen“. Anders formuliert, die Zentralmacht konnte die kurdischen Städte einnehmen, aber der Widerstand in den Bergen blieb unbesiegbar. „Wenn sie nicht die Berge einebnen...“ Er hatte nie den Glauben daran verloren, dass man eines Tages einen Dialog führen würde. Wenn das heute nicht möglich wäre, dann würde man einander vielleicht morgen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen, und die Gegner würden begreifen, dass ein guter Kompromiss besser war als ein schmutziger Krieg.

Diese tief verwurzelte Überzeugung, die er seinen Gesprächspartnern unermüdlich wiederholte, wurde in seinem eigenen Lager nicht von allen geteilt. Gemäßigte Kritiker beurteilten ihn als „Reformisten“, was von seinem eigenen Standpunkt aus eher ein Kompliment war, im damaligen Umfeld aber eher als eine politische Beleidigung erschien. „Härtere“ unter den anderen kurdischen Bewegungen und Persönlichkeiten – es stimmt, sie waren eine Minderheit – gingen so weit, ihn der Kapitulation zu zeihen, und einige sprachen sogar von „Verrat“. Die Erinnerung an Stalin hielt sich noch gut unter bestimmten, iranischen Gruppen auf der extremen Linken. So lächerlich diese Beschuldigungen auch waren, dabei eher dumm als absurd und für den heutigen Leser schwer zu begreifen, illustrieren sie dennoch das Ausmaß der Schwierigkeiten, mit denen A.R. Ghassemlou zu kämpfen hatte, um seine Partei zu leiten und der Bewegung jene brüderlichen Zwistigkeiten zu ersparen, die ihr so sehr schadeten.

Es war keine geringfügige Sache. Von der Zentralmacht vernachlässigt, war das iranische Kurdistan in wirtschaftlicher und in sozialer Hinsicht eine unterentwickelte Region – unter diesem Blickwinkel schnitt die Islamische Republik nicht besser ab als die vorangegangenen Regime. Die relative Modernität Mahabads hörte an den Toren der Stadt auf. Ghassemlou musste mit einer, wie er erklärte, „rückständigen Gesellschaft“ arbeiten, die von der Welt abgeschnitten war, kein Recht auf eigene Entscheidungen hatte, ihre Sprache nicht verwenden durfte, der die eigene Kultur genommen war und die sich noch dazu auf ihre alten Traditionen und Stammesstrukturen stützte. Insofern kannte er seine Leute.

Ich hatte ihn selten so locker und entspannt gesehen wie unter den Seinen in diesem Weiler in den Bergen, wo er provisorisch Zuflucht gefunden hatte. Er teilte die Speisen mit den Dorfbewohnern und plauderte mit ihnen wie ein Familienmitglied. Da ich die Sprache nicht verstand, kann ich nicht sagen, worüber sie redeten. Jedenfalls lachten sie aus vollem Herzen. Dieses Wiedersehen war ein weiterer, unvergessener Augenblick. Aus nicht allzu großer Entfernung konnte man die Kampfhubschrauber der iranischen Armee hören, die auf der Suche nach Streitkräften der Rebellen in geringer Höhe durch das Vorgebirge flogen und uns daran erinnerten, dass der Krieg ganz nahe war. Dabei ergab sich auch die Gelegenheit, andere Aspekte des Menschen und Anführers zu entdecken. Wir werden darauf noch zurückkommen.

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Es gibt noch eine weitere Erinnerung aus dem Winter 1980. Bei den ausländischen Journalisten im Iran herrschte ein Kommen und Gehen zwischen Teheran und Täbris, dem Schauplatz obskurer Auseinandersetzungen zwischen den Partisanen Khomeinis und militanten Azeris, die sich auf den großen Ayatollah Schariat-Madari beriefen. Ich verließ mit meinem Kollegen und Freund Jonathan Randal, dem Korrespondenten der „Washington Post“, einem ausgezeichneten Journalisten und weltweit renommierten Kenner der kurdischen Frage, Täbris. (Er widmete dem Thema ein meisterhaftes Werk mit dem Titel „Kurdistan: After Such Knowledge, What Forgiveness?“) Wir beschlossen, einen großen Umweg zu machen und Abdul Rahman in einem kleinen Dorf nahe beim Urmia-See, dessen Name mir entfallen ist, einen Besuch abzustatten. Ich erinnere mich auch nicht mehr, unter welchen Umständen der Kontakt über die kurdischen Beziehungen Randals hergestellt worden war. Die Nacht brach herein, als wir in dem Dorf ankamen. Ghassemlou hatte hier während des Tages eine riesige Versammlung mit lokalen Persönlichkeiten, einigen Kadern der Partei und zahlreichen Stammesführern abgehalten. Sie ging gerade zu Ende, als wir den Saal betraten. Auf Tabletts wurden vor dem Abendessen Tee, Fruchtsäfte und Sodawasser gereicht. „Das ist die Stunde des Aperitif“, scherzte unser Gastgeber, „aber hier trinkt niemand Alkohol“. Dann fügte er hinzu: „Die Regel gilt nicht für unsere ausländischen Freunde.“ Und sofort tauchte eine Flasche Whisky auf. Weder Jon noch ich hatten einen speziellen Gusto auf Whisky, aber es kam offensichtlich auf die Geste an.

Obwohl die überwiegende Mehrheit der Kurden moslemisch (sunnitisch) ist, gelten sie nicht als besonders strenggläubig. Aber wir waren in einer Versammlung traditionsbewusster Notabeln, und mehrere Mullahs befanden sich in der Zuhörerschaft. Das war nicht wirklich ein Ort, an dem man öffentlich religiöse Vorschriften verletzen sollte. Die Anekdote mag belanglos erscheinen. Sie ist es schon ein bisschen weniger, wenn man bedenkt, dass die islamische Polizei oder wer immer sie ersetzte zu jener Zeit überall eine wahre Terrorherrschaft ausübte und jeden unbarmherzig verfolgte, der auch nur im Verdacht stand, gegen ein Dogma zu verstoßen. In Teheran wäre eine solche Geste ganz einfach undenkbar gewesen. Hier hatte das Auftauchen der Flasche Whisky einen pädagogischen Wert. Ghassemlou demonstrierte so, dass jeder frei nach seinem Gewissen handeln durfte und seine Gesetze nicht anderen aufzwingen sollte. Es war in gewisser Weise eine kleine Lektion in Sachen Laizismus und Toleranz, ganz ohne Ansprache, nur eine Demonstration anhand eines Beispiels.

A.R. Ghassemlou hatte sicherlich nicht die Absicht, die Notabeln zu schockieren oder zu provozieren, mit denen wir das Nachtmahl teilen würden und unter denen sich zweifellos einige Dschasch – Kollaborateure – befanden, Informanten, die nicht versäumen würden zu verbreiten, dass der Chef der iranischen Kurden zur Ehre von Vertretern des großen und des kleinen Satan (Bezeichnungen der USA und Frankreichs) Saufgelage organisierte. Er zeigte einfach allen und zugleich den ausländischen Journalisten, dass das „Anderssein der Kurden“ nicht nur ein Schlagwort war, und der islamische Totalitarismus hier kein Bürgerrecht hatte.

Diese Geschichte vom Alkohol war offenbar nur ein winziges Beispiel. In viel ernsteren Bereichen war er mit den archaischen Strukturen seiner eigenen Gesellschaft konfrontiert – mit dem Gewicht der Stammesstrukturen, dem Status der Frauen, etc. Der Chef der DPKI trug dem bei der Führung seiner Organisation Rechnung, aber er versuchte nie, Handlungen oder Verhaltensweisen zu rechtfertigen, die im Widerspruch zu seinen öffentlich vertretenen Überzeugungen standen. Er bediente sich nicht jener doppelbödigen Sprache, die unter den neuen, aus dem Exil zurückgekehrten Führern in Teheran und ganz besonders unter den berühmten „Weltlichen des Imam“ üblich war. Diese verramschten demokratische Proklamationen, mit denen sie ihre europäischen Gesprächspartner überhäuften, um die schlimmsten im Namen der „Revolution“ begangenen Gewaltakte zu rechtfertigen.

Einer dieser Iraner, ein alter Bekannter aus Paris, hatte mich bei meiner Rückkehr aus Kurdistan zu sich bestellt, um mir Vorhaltungen wegen meiner Berichte über den Krieg, das Verhalten der Truppen und ganz besonders jenes der „revolutionären Tribunale“ zu machen. Durch „die engstirnige, abendländische Sicht“ der Menschenrechte sei ich blind und unfähig geworden, die „Wurzeln der Revolution in der Bevölkerung“ zu erfassen. „Du hast nichts vom Iran verstanden. Für unser Volk ist (der „Wanderrichter“ Sadegh) Khalkali die Inkarnation des Zornes Gottes.“ Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass Ghassemlou solches nicht hinunterschluckte. Wenigstens aufgrund dessen, was ich bezeugen kann, und gemäß der Zuverlässigkeit übereinstimmender, gesammelter Erzählungen aus jener Zeit ist mir auf kurdischer Seite nichts von Repressalien oder Massenverurteilungen gegen feindliche Gefangene oder lokale Kollaborateure bekannt. Ghassemlou hatte solche Methoden untersagt und er wachte darüber. Es ging dabei um die Ehre der Bewegung, die er leitete. Man konnte nicht gleichzeitig für ein Ideal kämpfen und diesem widersprechende Auswüchse oder Fehlverhalten als Notwendigkeiten in diesem Kampf tolerieren.

Das Programm der DPKI erschöpfte sich nicht in der Forderung nach Autonomie für Kurdistan. Es enthielt auch ein Bündel wirtschaftlicher, sozialer sowie auch kultureller und gesellschaftlicher Ziele. Zu diesen zählten die echte Gleichheit der Geschlechter, verpflichtende Schulbildung für alle, politische wie religiöse Freiheiten, die Trennung von Staat und Religion und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Justiz. Das waren sicherlich langfristige Zielsetzungen, aber auch Vermittler von Werten, deren Umsetzung für Ghassemlou bereits in der Gegenwart beginnen musste. Er war sich sehr wohl bewusst, dass die uralten Bräuche oder die Unterordnung der Mädchen und Frauen nicht mit einem Federstrich abgeschafft werden konnten. Aber es gab immer Gelegenheit zu beweisen, dass sich die Dinge ändern konnten und dass die jahrhundertealten Traditionen keineswegs unabänderlich waren.

Jedenfalls bemühte er sich darum, wann immer sich eine Möglichkeit bot. Ich erinnere mich, wie Ghassemlou bei privaten Konflikten – deren Komplexität ich nur erahnen konnte – in dem kleinen Bergdorf den Schiedsrichter machte, in dem wir ihn getroffen hatten. Die Diskussion war heftig. Ich weiß nicht, um welche Angelegenheit es ging, und glaube verstanden zu haben, dass es eine Streitsache zwischen zwei Familien war. Es handelte sich auch um die Frage einer Heirat oder vielleicht einer Scheidung, aber weil es keine Übersetzung gab, erfuhr ich nicht mehr. Ganz gewiss löste die Affäre große Aufregung aus. Ghassemlou hörte geduldig den einen und den anderen zu und ermutigte die Schweigenden zum Reden, unter ihnen diese Frau, deren Worte offensichtlich einem großen Teil der Zuhörerschaft missfielen. Sie mussten ihr dennoch zuhören, bis sie fertig war. „Es heißt, dass man die Revolution nicht in nur einem einzigen Land machen kann“, scherzte Ghassemlou, als ich ihn über diese Szene befragte. „Ich bin damit zufrieden, es in einem kleinen Dorf zu versuchen. Sie haben gesehen, wozu unsere Frauen imstande sind.“

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Abdul Rahman Ghassemlou war in jeder Hinsicht eine Ausnahme-Persönlichkeit. Das betraf ihn als Anführer einer der ältesten und am tiefsten in der Bevölkerung verwurzelten Befreiungsbewegungen ebenso wie seine persönliche Ausstrahlung, seine internationale Zuhörerschaft und die seltene, wenn nicht überhaupt einzigartige Fähigkeit, die Traditionen und Werte eines Jahrtausende alten Volkes in die Werte des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu integrieren – Freiheit, Demokratie und Weltbürgertum. Er war dennoch einer breiten Weltöffentlichkeit kaum bekannt, und viele erfuhren von seiner Existenz erst in der Stunde seiner Ermordung.

Nicht, dass er ein Mann im Schatten oder von einem undurchdringlichen Geheimnis umgeben gewesen wäre. Der Generalsekretär der DPKI, Anführer im Krieg, wenn es sein musste, vor allem aber politische Führungspersönlichkeit, wollte als ein Mann der Kontakte und des Dialogs erscheinen. Er war leidenschaftlicher und unermüdlicher Botschafter für seine Sache und reiste um die Welt, um sie bekannt zu machen. Aber er fühlte sich nirgends so glücklich wie bei seinen Peschmergas in einer Lehmhütte tief hinten in einem entlegenen Tal an der iranisch-irakischen Grenze, wohin er, wie von jedem Zufluchtsort zum nächsten, eine ganze Bibliothek mitgenommen hatte.

Er war ein Liebhaber guter Bücher und guter Weine – und konnte besser ohne letztere denn ohne erstere auskommen. Er war ebenso entspannt am Tisch auf einer Terrasse in Paris wie in der kargen Einsamkeit des strengen Winters in seinen Bergen. In diesem fast 59 Jahre alten Ghassemlou – er wäre im Dezember 1989 so alt geworden – mischten sich die Heiterkeit eines orientalischen Weisen und die Dynamik eines jungen Mannes, die Wissensbegierde eines Enzyklopädisten und die Vorlieben eines lebensfrohen Menschen. Er war in seinen Überzeugungen ebenso unbeirrbar wie in seinen Handlungen pragmatisch. Ghassemlou schien ohne jede Zerreißprobe die im politisch-militärischen Kampf notwendige Konstanz mit der eleganten Skepsis des Universitätslehrers zu vereinen, der er lange Zeit gewesen war.

Als Doktor der Wirtschaftswissenschaften war er auch begeistert von der Literaturgeschichte, ein hochrangiger Kenner der kurdischen, der persischen und der arabischen Dichtkunst und zitierte gerne Hugo, Baudelaire, Walt Whitman oder Thomas Eliot. Er war warmherzig, offen, jederzeit ansprechbar und setzte Ironie und Humor mit ebensolcher Gewandtheit ein wie die sechs Sprachen, die er in Wort und Schrift fließend beherrschte. Jene, deren Wege sich mit dem seinen irgendwann gekreuzt hatten, sprachen und sprechen darüber mit den gleichen Worten. Selbst, wenn sie sich nur an eine einzige, weit zurückliegende Unterhaltung mit ihm erinnern, geben sie zu, dass sie seinem Charme erlagen – Sympathisanten seiner Bewegung, Intellektuelle, Ärzte, Minister, Botschafter, Politiker der Linken oder der Rechten. Nur wenige Menschen jenes Jahrhunderts können eine solche Einmütigkeit für sich reklamieren.

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Mehr als 20 Jahre sind seit dem Blutbad von Wien vergangen. Das Verbrechen ist immer noch ungesühnt. Selbstverständlich war Dr. Ghassemlou das Ziel gewesen. Er war nicht das einzige Opfer. Seine beiden Begleiter, Abdollah Ghaderi Azar, Vertreter der DKPI in Europa, und Dr. Fadil Rasul, ein irakischer Kurde aus Wien, die das Treffen mit ihm gemeinsam arrangiert hatten, wurden ebenfalls abgeschlachtet. Die Exekution der Zeugen sollte ein nahezu perfektes Verbrechen vollenden. Außer den Teilnehmern kannte niemand den Ort der Zusammenkunft. Wenn nicht einer der Iraner (Sahrarudi, Anm. d. Übers.) durch ein Missgeschick verletzt worden wäre, hätte es mehrere Stunden gedauert, bis das Gemetzel entdeckt worden wäre. Das wäre jener Zeitraum gewesen, während dessen das Mordkommando den Staat unbesorgt hätte verlassen können. Aber es gab eben dieses Sandkorn, und damit dauerte es weder lang, noch war es schwierig, die Umstände des Blutbads zu rekonstruieren, die Verantwortlichen zu identifizieren und festzustellen, dass es sich ohne den Schatten eines Zweifels um ein von einem Staat organisiertes Verbrechen handelte.

Nach langem Hin und Her der österreichischen Polizei wurden im November 1989, vier Monate später, internationale Haftbefehle gegen die Mitglieder des Kommandos ausgestellt. Sie kamen nie zur Anwendung. Die Mörder waren längst in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr Anführer (Sahrarudi, Anm.) wurde befördert und erhielt einen wichtigen Posten. Die Spur der beiden anderen verlor sich. Die iranische Mullarchie verfügte bereits über eine lange Liste von Hinrichtungen Oppositioneller im Ausland, und auch die Ermordung Dr. Ghassemlous war darauf nicht die letzte. Am 17. September 1992 wurde der Nachfolger an der Spitze der DPKI, Dr. Sadek Scharafkandi, in einem Restaurant in Berlin umgebracht. Eine Recherche des „Time Magazine“, die 1994 veröffentlicht wurde, belegte, dass seit 1979 mehr als 60 iranische Regimegegner außerhalb der Grenzen des Landes ermordet worden waren.

Wer von einem durch einen Staat verübten Verbrechen spricht, kann auch den Grund für diese Bezeichnung nennen. Es muss angenommen werden, dass die Islamische Republik gegenüber den verschiedenen Staaten Europas, in denen ihre Mörder wüteten, gute Argumente ins Treffen führen konnte. Im allgemeinen gab es keine Strafverfolgung und schon gar keine Prozesse. Wenn die Täter ausnahmsweise vor Gericht gestellt werden konnten, wie es in Berlin der Fall war, konnte die Anklage Elemente, die den Iran offiziell in die Operation involvierten, nicht geltend machen. In allen betroffenen Staaten gilt die Justiz als unabhängig, und es hat sich tatsächlich manchmal ein mutiger Richter oder Staatsanwalt widersetzt. Es war vergeblich. Die Straflosigkeit war die Regel.

Die Ermordung Dr. Ghassemlous blieb nicht unbeachtet. Aber sie zog bei den Instanzen unserer Demokratien auch nicht jene Reaktionen nach sich, die angesichts der Dimension des Ereignisses und der Persönlichkeit des Getöteten zu erwarten gewesen wären. Jene, die es aufgrund ihrer Funktion wissen mussten, wussten das. Aber niemand schien sich damals zu erinnern – außer natürlich den Freunden Ghassemlous und den Unterstützern der Sache der Kurden sowie der Handvoll von Journalisten, die an dem Thema interessiert waren. Die Freunde fanden sich bei den Särgen der Märtyrer von Wien zu einer letzten Würdigung auf dem Pariser Friedhof „Père Lachaise“ ein. Aber dann folgte ein großes Schweigen, das nicht nur mit der Furcht erklärbar ist, Teheran zu missfallen oder Repressalien ausgesetzt zu werden. Das mag man als skandalös und schockierend empfinden, aber es ist ein Faktum, und es war gar nicht neu.

Noch einmal bestätigte sich im Schatten eines tragischen Ereignisses eine Art gemeinsame, eiserne Regel in den internationalen, politisch-diplomatischen Kreisen: Je weniger man über Kurden spricht, desto besser geht es einem. Ghassemlou war zu Lebenszeiten dieser Regel unterworfen und konnte sie nicht einmal mit seinem tragischen Tod durchbrechen. Hier ging es freilich nicht um die Person – Abdul Rahman konnte auf viele Freunde zählen, darunter auch einige in den Kreisen der Mächtigen –, und es zeigte auch, wie Ghassemlous Kenntnis der Geschichte seine politischen Überlegungen beeinflusst hatte. Die Isolation der Kurden war für ihn eine strategische Gegebenheit gewesen. Die Autonomie der Kurden in einem demokratischen Iran gemäß dem Slogan der DPKI war keine taktische Antwort, und sie galt für die Gesamtheit von 25 Millionen Kurden (zur damaligen Zeit, heute sind es wahrscheinlich an die 30 Millionen).

Er hatte es irgendwann einmal anders formuliert. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut, aber ich bin mir des Sinnes ganz sicher. Die Kurden, so sagte er im wesentlichen, sind überall auf der Welt ein Problem, aber sie könnten genauso gut die Lösung sein. Anders gesagt, in einem befriedeten und demokratischen Mittleren Osten könnte dieses grenzüberschreitend beheimatete Volk einen mächtigen Faktor für wechselseitigen Austausch und damit für Wohlstand und Frieden bilden – wenn seine Kultur und seine Sprache respektiert würden und wenn es, wie alle anderen nationalen Minderheiten, seine Geschicke selbst bestimmen könnte. Europa wäre ein Beispiel. Noch ist das weit von der Wirklichkeit entfernt, aber wer weiß, eines Tages...

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Marc Kravetz (geb. 1942) ist ein zuletzt bis 2011 beim renommierten Sender „France Culture“ tätig gewesener, bekannter französischer Journalist. In der Zeit der Herrschaft Khomeinis in den 1980er Jahren berichtete er umfassend für die Tageszeitung „Libération“ aus dem und über den Iran, wofür er mit dem „Prix Albert Londres“ ausgezeichnet wurde. Nach der Ermordung Ghassemlous war er auch in Wien als Sonderberichterstatter für „Libération“ im Einsatz. (Quelle: Wikipedia frz.)

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Juliette Minces über die Tschechin, die ihn liebte

Der Mut einer Frau

Dies ist die Geschichte einer couragierten Frau und eines Mutes, über den nicht viel geredet wird, weil er sich nicht in spektakulären Gesten oder in großen Deklarationen äußert. Es ist der ausdauernde Mut des Alltags von Frauen, wenn sie sich in außergewöhnlichen Situationen befinden, die sie sich nicht immer selbst ausgesucht haben.

Nach außen hin schien Lena durch nichts dazu vorbestimmt zu sein, das zu werden, was sie geworden ist. Oder vielleicht doch, wenn bestimmte Gegebenheiten berücksichtigt werden:

Eine nach der Ermordung der Mutter, als das Kind erst sechs Jahre alt war, zerstörte Kindheit; ein am Kind nicht interessierter Vater und eine Großmutter väterlicherseits voll der bewussten, stummen Verachtung (Lenas Mutter gehörte nicht zu ihrer Welt). Glücklicherweise gibt es da noch so oft wie möglich die beständige Zärtlichkeit einer Tante mütterlicherseits. Sie ist zu arm, um das Kind bei sich aufzunehmen – ihr Mann arbeitet als Kumpel in einem Bergwerk der berüchtigten Kohlenabbau-Regionen der Tschechoslowakei – , aber sie versteht die Kleine und bemüht sich, ihr das Leben ein wenig angenehmer zu machen. Und es gibt das Waisenhaus, wo die aufmerksamen und mitfühlenden Erzieher ebenso wie die Lehrer in den Schulen, die Lena besucht, ohne jeden Zweifel von diesem kleinen, so lernwilligen Mädchen beeindruckt sind und ihm ein bisschen Glücksgefühl vermitteln.

Aber diese Kindheit wird in ihr das beständige Bedürfnis entstehen haben lassen, um Gerechtigkeit zu ringen. Sie wird zugleich jene Charaktereigenschaften geschaffen haben, die ihr die Zuneigung und den Respekt der Kurden einbringen sollten, die sie im Laufe ihres Leidenswegs treffen würde – Mut, Lebenskraft, das Verlangen, sich Herausforderungen zu stellen, und eine gewisse Selbstverleugnung.

Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs öffnet die Machtergreifung durch die Kommunisten die höheren Schulen und die Universitäten auch für die Kinder der Arbeiter und für Waisen wie Lena. Nebenberuflich wird sie Abendkurse bis zur Matura und dann an der Universität besuchen.

Aber das Leben wird sie, wie man so sagt, daran hindern, zu jener Zeit ihr Studium abzuschließen: Sie trifft tatsächlich jenen Mann, den sie heiraten wird, Abdul Rahman Ghassemlou.

Lena lernt ihn im Lauf eines Festes an der Universität kennen. Wegen seines leichten Akzents hält sie ihn für einen Slowaken. Er ist Kurde.

Er ist Moslem, aber er bezeichnet sich als nicht gläubig. Das ändert nichts: Um ihn in der iranischen Botschaft in Prag heiraten zu können, muss sie zum Islam übertreten – „eine Formalität“.

Durch die Eheschließung heiratet Lena mit ihrem Mann zugleich zweifellos die Sache der Kurden. Im Lauf der Jahre wird ihr Mann tatsächlich zum Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran (DPKI) werden. Unter den verschiedenen Bewegungen der Kurden in ihrer Heimat und überall dort, wo sie im Ausland leben, wird er zum am meisten respektierten kurdischen Anführer werden. Gegen das Ende seines Lebens wird Abdul Rahman auch internationales Profil gewinnen, das viel zum besseren Verständnis der „kurdischen Frage“ beigetragen hat.

Er ist ein hochintelligenter Mann, in dem sich die hohen Kulturen des Orients und des Okzidents vereinen (er hat sein Universitätsstudium in Paris und dann in Prag absolviert). Ohne sich dieser Eigenschaft bewusst zu bedienen, um seine Auffassungen zu verbreiten, ist er eine mitreißende, politische Führungspersönlichkeit. Mehrsprachig und geborener Diplomat, versteht er es zu überzeugen, und findet immer die besseren Argumente, um seinen Kampf zu erklären oder um die Seinen zu mobilisieren. Er ist zudem ein politisch gewandter Mensch, dessen Grundsätze auch im Lauf der Zeit nicht in Frage gestellt werden. Für ihn heiligt der Zweck nicht die Mittel. Nie würde er akzeptieren, dass seine Partei, wie er es nennt, „unwürdige“ Methoden wie Erpressungen oder Geiselnahmen einsetzte, die von anderen politischen Bewegungen durchaus praktiziert werden. Das ist mit großer Sicherheit auch ein Aspekt der verführerischen Wirkung auf eine Frau wie Lena. Bei diesen Prinzipien finden die beiden jungen Leute, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, zueinander. Beide haben gelernt, der Demokratie, der Trennung von Kirche und Staat und gleichem Recht für alle Vorrang zu geben.

Es gibt noch etwas Außergewöhnliches an Lena – das ist die beständige Liebe, die sie für Kurdistan und dessen Landschaften sowie mit wachsendem Verständnis für die Kurden entwickeln wird. Diese Frau aus einem totalitär gewordenen Staat des Abendlands wird tatsächlich in ihrer Seele kurdisch werden, ohne dabei ihre starke Überzeugung zu verlieren, dass Gleichheit von Mann und Frau unabdingbar ist. In ihren Memoiren wird sie niemals die Frauen in ihrer kurdischen Wahlheimat vergessen, und diese werden es ihr danken. Sie wird auch nie vergessen, dass Demokratie eine wichtige Voraussetzung für das Erreichen der Gleichstellung ist.

Lenas Schilderung ist die einer Art Lehre – auf dem Gebiet einer fremden Kultur und Zivilisation, in der die Frauen schon damals relativ frei waren und ihr dennoch beibrachten, was von ihr in der Küche sowie im für Lena neuen, allgemeinen Verhalten erwartet wurde. Sie wird sich diesen Notwendigkeiten beugen, weil es für sie nicht in Frage kommt, jene zu schockieren, die zu den Ihren geworden sind. Aber wann immer sie kann, wird sie mit einer Art Sokratischer Fragekunst versuchen, ihren Freunden dabei zu helfen, auf deren Weg zu einer demokratischen Gesellschaft voranzukommen. Sie gesteht allerdings ihre zahlreichen Niederlagen dabei, insbesondere bei den Männern, ohne Umschweife ein.

Immer, wenn sie dazu Gelegenheit findet, erkundet sie die Umgebung der Orte, an denen sie lebt, und entdeckt so entgegen dem Wunsch ihres Mannes mit Entsetzen die enorme Armut, die beispielsweise in den Bezirken im Süden von Teheran herrscht. Die Mittellosigkeit auf dem Land erschüttert sie zutiefst. Sie erfährt, dass sich das, was man die „Dritte Welt“ nannte, ohne Zweifel hier manifestiert. Diese Erkenntnis verstärkt ihren Wunsch noch weiter, an der Seite jener zu kämpfen, die zu den Ihren geworden sind.

Indem sie sozusagen die tote Zeit nützt, die ihr durch das jahrelange Leben in Verstecken im Untergrund aufgezwungen ist, lernt sie erst Persisch und dann Kurdisch. In erster Linie will sie dadurch ihre Umgebung verstehen und auch sich selbst verständlich machen, aber sie sucht damit zugleich den Zugang zu diesen beiden hochentwickelten Kulturen.

Sie beweist außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, die nur zum Teil durch die Liebe zu ihrem Mann erklärbar ist. Diese Fähigkeit kommt ohne Zweifel aus dem tiefen Respekt für die Menschen, denen sie begegnet, und die sie nicht be- oder aburteilen, sondern verstehen möchte. Dabei geht es um die Trennung der Geschlechter, den Status der Frauen (denen die DPKI mehr Rechte zuzugestehen versucht als sonst üblich), um die vor allem in den ländlichen Gebieten und den ärmsten Regionen des Landes manchmal archaischen Traditionen, sowie die krassen, sozialen Ungleichheiten, die auch von der demokratischen Gesinnung der DPKI nicht mit einem Schlag gemildert werden können. Bei all dem bleibt sie dennoch und in allen Lebensumständen eine Frau, die auch an sich denkt und danach handelt.

Wann immer er kann, hilft ihr Mann in diesen Belangen seiner Frau und unterstützt sie. Er dient ihr außerdem als eine Art Lotse, indem er ihr Worte und insbesondere Zeichen erläutert, die sie noch nicht versteht.

Gleich nach ihrer Ankunft im iranischen Kurdistan bringt ihr Mann sie zu seiner Familie. Diese nimmt sie schnell auf (sie ist hübsch, sanft und fröhlich). Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich rundum glücklich. Die Familie ist wohlhabend und bildet eine Mischung aus Tradition und Moderne (fast alle Söhne wurden zum Studium ins Ausland geschickt). Lena lernt, sich in dieser komplexen und warmherzigen Gesellschaft zu bewegen, die sie aufnahm und die für sie eine erweiterte Familie wurde. Sie fügt sich harmonisch ein – unter belustigenden ebenso wie dramatischen Bedingungen. Auch hier hilft ihr Abdul Rahman, indem er ihr Tipps gibt, ansonsten unvermeidliche Fehler zu vermeiden, und dabei von ihr keine totale Anpassung an die Normen dieser Gesellschaft verlangt. Ganz in diesem Sinn führt er sie nicht nur in die Sitten und Gebräuche ein, die oft mit religiösen Vorschriften verwechselt werden, sondern vermittelt ihr den dahinter liegenden Sinn. Es sind die offene Haltung dieser Frau und ihre Unkompliziertheit, die ihr die Zuneigung und den Respekt aller einbringen.

Aber die glückliche Zeit in der Familie Abdul Rahmans wird nicht lange dauern. Die militärischen Aufgaben ihres Mannes werden Lena aus dieser herzlichen Umgebung herausreißen, aus dem einzigen, warmen Nest, das sie in ihrem Leben kennen gelernt hat – in dem noch Gesten Worte ersetzten, aber dabei so klar verständlich waren, dass die Frauen einander schließlich bestens verstanden, und in dem die Männer die Anwesenheit dieser Fremden mitsamt deren potentiellem Einfluss auf ihre eigenen Frauen anstandslos hinnahmen. In jener Zeit konnten die Töchter allerdings relativ leicht ausgehen und etwas mehr an der Welt der Männer teilhaben. Hinzu kommt, dass die DPKI ausdrücklich laizistisch ist. So sind interessanterweise in Lenas Geschichte kaum je religiös bedingte Meinungsverschiedenheiten zu finden.

Naiverweise hofft sie als Waisenkind, ihren Jungmädchen-Traum verwirklichen und eine echte Familie gründen zu können. Sie wird ihre Illusionen aufgeben müssen und, wenn auch zögernd, begreifen, dass die einzige Familie eines Vollzeit-Kämpfers mit stetig größer werdender Verantwortung die Partei ist und dass alles, das dem im Weg stehen könnte, vermieden werden muss – selbst, wenn es um die Ehefrau und die Kinder geht.

Die häufige Abwesenheit ihres Mannes zwingt sie, ihre beiden kleinen Töchter allein aufzuziehen. Dass er gezwungen ist, im Untergrund zu leben, nötigt auch ihr und ihren Kindern eine Existenz im Verborgenen auf. Der Kampf ihres Mannes ist auch der Ihre geworden. Das gilt mit Sicherheit ebenso für die Einschätzung der Behörden. Demzufolge ist sie vor den zahlreichen Gefahren nicht geschützt, die ihr aufgrund der Aktivitäten Abdul Rahman Ghassemlous drohen. Die schreckliche Begegnung mit der SAVAK, der grausamen Geheimpolizei des Schah des Iran, ist ein Beispiel dafür. Dass sie heil davonkommt, verdankt sie einem Offizier, der ihr mit ihrem Neugeborenen aus Mitleid hilft. Die Gefährtin eines polizeilich gesuchten Widerstandskämpfers riskiert genau soviel wie dieser selbst, aber die Berichterstatter sprechen nur von jenem!

In einem anderen Zusammenhang beleuchtet Lena klar die Widersprüche, die sich quer durch die Reihen der Kämpfer der demokratischen Partei ziehen. Ihr deklariertes Ziel ist es, über die Schaffung demokratischer Verhältnisse hinaus gleiche Rechte für Mann und Frau zu verwirklichen. Tatsächlich wird dabei etwas gepriesen, das dem Gegenteil der Traditionen entspricht. In der alltäglichen Praxis sind die Gewohnheiten stärker als die Theorien und Prinzipien. Somit verfällt in der gemeinsam benützten Wohnung in Teheran keiner der Kämpfer auf die Idee, mit Hand anzulegen. Und Lena wird erst in allerletzter Not dagegen protestieren. Hinzu kommt der ständige Geldmangel, sei es, weil die Überbringung zu schwierig oder weil die Partei selbst zu arm ist.

Als die Partei entscheidet, dass Lena endgültig und unter größter Geheimhaltung den Nahen Osten über den Irak zu verlassen hat, kennt sie bereits die langen Märsche über die majestätischen und unwegsamen Berge Kurdistans, die Hitze und den Durst, die Angst und die Erschöpfung. Die kleinen Mädchen werden zwar von den Peschmergas gut versorgt, aber es fehlt ihnen alles, das Kindern Halt geben könnte. Im Irak angekommen, gibt es für sie weder Geld noch Pass oder Flugtickets, um das Land so rasch wie möglich verlassen zu können. Während sie auf die Dokumente warten, wechseln sie von einem Versteck zum anderen. Eines davon ist ein entsetzliches, düsteres und großteils verfallenes Wüstenschloss. Aus Angst vor Entdeckung dürfen sie es nicht verlassen. Lena muss an diesem furchterregenden Ort all ihre Phantasie aufbieten, um ihre kleinen Töchter zu beruhigen und am Schreien zu hindern. Bei allem Bemühen zu vermeiden, dass die Kinder ein Trauma für ihr Leben erleiden, trägt sie selbst ein Stottern davon, dessen Überwindung Jahre dauern wird.

Ich glaube, dass nur eine Frau durchstehen kann, was Lena mit all ihrer Angst im Bauch bereit war, auf sich zu nehmen und zu tun, um ihre Kinder zu beschützen. Der zunehmend harte Alltag im Untergrund hat ihr zwar beständige, treue Freunde gebracht. Aber er hat schwere, psychische Folgen nach sich gezogen: Ihre Töchter verstehen auch nach vielen Jahren beispielsweise nicht, was alles Lena allein mit ihnen und für sie ertragen hat. Können Kinder, selbst wenn sie erwachsen geworden sind, ihren Eltern verzeihen, dass jenen die Sache wichtiger war als sie selbst? Lena hat jedoch ihre Kinder nie im Stich gelassen. Aber deren Unverständnis bleibt bestehen, und Lena allein wird dafür verantwortlich gemacht.

„Khoschka Nasrin“ *), wie sie die Kurden nennen, blieb immerhin die Achtung jener erhalten, die zu den Ihren geworden sind.

Ohne ihren Kampf aufzugeben, ist Lena schließlich mit ihren Töchtern allein zurückgeblieben, während Abdul Rahman mit seinem Leben für den Freiheitskampf bezahlte – hinterhältig abgeschlachtet von Abgesandten des Nachfolgers Ayatollah Khomeinis, Rafsandschani, mit denen er streng geheim vermeintliche Friedensverhandlungen in Österreichs Hauptstadt Wien aufnehmen hatte wollen. Bis heute fragt sich Lena, wie dieser so scharfsinnige und schlaue Mann den Versprechungen der iranischen Mächtigen vertrauen konnte, deren Verlogenheit und Falschheit er so gut kannte.

Und noch einmal hat Lena den Kampf aufgenommen, um die Verantwortlichen für dieses durch die damalige, österreichische Regierung nie geahndete Verbrechen zu verfolgen. Sie wollte damit auch den Staatsterrorismus anprangern, den die Islamische Republik Iran permanent gegen sämtliche Oppositionellen ausübt, vor allem gegen die Kurden, die so vermessen sind, völlig legitime Rechte für sich einzufordern.

JULIETTE MINCES**)

Fontenay-le-Comte, Jänner 2011

*) Khoschka bedeutet auf Kurdisch « Schwester », und den Kosenamen Nasrin erhielt Lena von ihren kurdischen Freunden.

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**) Juliette Minces (geb.: 1937 in Paris) ist vielgereiste Journalistin, Schriftstellerin und Feministin sowie engagierte Kämpferin für die Trennung von Religion und Staat. Eines ihrer wichtigsten Themen ist außerdem die Immigration über ihre erste Generation hinaus sowie die Situation der Frau im Islam. Mit Helene Krulich verbindet sie eine langjährige Bekanntschaft und Freundschaft. (Quellen: Wikipedia frz., privat)