Kapitel 11 Die Rückkehr nach Prag im Jahr 1960

In Prag eine Wohnung zu finden, war praktisch unmöglich, vor allem, wenn man unter Zeitdruck stand. Man musste sich im Rathaus in einer Liste eintragen. Diese Liste der Wohnungssuchenden war lang, und es konnten Jahre vergehen, bis sich eine Unterkunft fand, wenn man keine Beziehungen hatte. Leute mit Weitblick trugen sogar schon ihre Kleinkinder in diese Warteliste ein und hofften, dass diese mit dem Erreichen des Erwachsenenalters eine Wohnung erhalten würden.

Abdul Rahman nahm die Wohnungssuche mit einem guten Trick in Angriff, indem er sich direkt an seine Freunde im Prager Rathaus wandte. Diese fanden tatsächlich ziemlich rasch eine Dreizimmer-Wohnung in Petriny.

Petriny ist einer der Hügel von Prag, wo eben mit der Errichtung eines großen Stadtteils begonnen wurde. Zu jener Zeit im Jahr 1960 standen dort nur drei bewohnbare Gebäude. Rundherum gab es eine riesige Baustelle, von Baggern ausgehobene Gruben und Gräben sowie Baumaterialien. Für die Kinder war es lustig, für die Eltern ein Horror. Die Straßen waren virtuell, nämlich dort, wo die Reifen der schweren Baufahrzeuge ihre Spuren im weichen Boden hinterlassen hatten.

Die ersten Jahre in der neuen Bleibe waren, kaum übertrieben, alptraumartig. Der Stadtteil sollte binnen sieben Jahren fertiggestellt sein, aber noch zehn Jahre später waren die Bauarbeiten nicht abgeschlossen. Die Straßen hatten keine Beleuchtung, und es war riskant, zu später Stunde nach Hause zu kommen.

Rund zwei Straßenbahnstationen von ihrer Wohnung entfernt, an der Endstation, befand sich das Forschungsinstitut von Professor Wichterle, wo die Kontaktlinsen erfunden worden waren. Nikita Chruschtschow, Ministerpräsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU, war auf Besuch in Prag und wollte das Institut sehen. Ganz schnell waren im Hinblick auf diese Visite die Straßen von Petriny geteert. Es war ein Vergnügen, auf sauberem Asphalt unterwegs zu sein. Kaum war Chruschtschow weg, gingen die Bauarbeiten weiter und erzeugten neuerlich Berge von Dreck...

Abdul Rahman hatte begonnen, an der Hochschule für Politische und Wirtschaftliche Studien zu unterrichten. Zugleich verfasste er seine Diplomarbeit und wurde damit „Kandidat der Wissenschaften“. Als solcher machte er sich für das Doktorat an die Dissertation, die er in einer späteren Bearbeitung als Buch veröffentlichte. Währenddessen schrieb er Artikel für Zeitschriften und beschäftigte sich mit dem Bulletin „Kurdistan“ (für das auch Lena im Iran gearbeitet hatte).

Einige Monate nach der Rückkehr nach Prag nahm auch Lena ihr Studium an der philosophischen Fakultät der Karlsuniversität wieder auf. Nachdem sie es abgeschlossen hatte, bot ihr der Lehrstuhl für Englisch an der Wirtschafts-Hochschule einen Assistentenposten an. Zwei Jahre später wurde sie Oberassistentin. Sie war fleißig. Sie unterrichtete, kümmerte sich um den Haushalt und um ihre Kinder, die schon in die Schule gingen. Außerdem arbeitete sie für die Kurden und half ihrem Mann wo immer möglich. Ein Tag hätte 48 Stunden haben müssen. Sie hatte keine Freizeit, keine Ferien, kein Wochenende, keinen Feiertag.

Der geplante Parteiausschluss von Abdul Rahman

Im Juli 1964 wurde der zweite Kongress der DPKI in Sunna im Irak an der Grenze zum iranischen Kurdistan einberufen. Der starke Mann der Partei war damals Abdullah Issaqi, alias Ahmad Taufiq, ein iranischer Kurde, den Lena während ihres geheimen Aufenthalts in Teheran kennen gelernt hatte und von dem schon die Rede war. Er war bereits als Spitzenmann im Gespräch und betrieb den Ausschluss Abdul Rahmans aus dem kollektiven Führungskomitee der Partei wegen Verrats. Dessen Charisma, das Know-how und die starke Persönlichkeit störten nicht nur Ahmad Taufiq, sondern auch eine gewisse Anzahl anderer Parteimitglieder, die daran interessiert waren, sich seiner zu entledigen. Die sieben Jahre zuvor erfolgte Freilassung Abdul Rahmans nach dessen Verhaftung durch die SAVAK diente ihnen als Vorwand, den Parteiausschluss zu verlangen. Nun befand sich Abdul Rahman gerade in Prag und konnte sich nicht verteidigen. Er sprach mit niemandem über die Probleme, die er mit der Partei hatte, auch nicht mit Lena, und wartete auf seine Stunde, die allerdings nicht so schnell kam.

1967/68 begann das Führungskomitee einen bewaffneten Kampf gegen den Schah. Nach 18 Monaten blutiger Auseinandersetzungen waren zehn der Anführer des Aufstandes eliminiert (Ahmad Taufiq war verreist). Abdul Rahman war immer noch in Prag. Er hatte sich an diesem Kampf nicht beteiligt, und sein Parteiausschluss wurde „vergessen“.

Einmarsch in der Tschechoslowakei

In jenen für die Kurden so harten Zeiten lag nordwestlich von Kurdistan in etwa zweitausend Kilometer Entfernung der Prager Frühling unter den Stiefeln der „brüderlichen Armeen“ des Warschauer Paktes, der Satelliten der UdSSR, im Todeskampf. Die Zahl der zivilen Todesopfer während dieser Invasion wurde nie bekannt, aber man wusste, dass es viele gewesen waren. Die Tschechoslowakei war ein von den „Brüdern“ besetztes Land geworden. Ihre Hoffnungen waren zunichte gemacht, ihre Seele zerstört und ihr geplanter „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mit Füßen getreten und vernichtet worden. Niemand wusste, was aus der Republik werden würde.

Während des ersten Jahres der Besetzung herrschte auf Seiten der Besatzer eine eigentümliche Toleranz. Die Sowjets hatten die internationale Reaktion und die Schwierigkeiten mit den Staaten des Westens nicht vergessen, die sie durch die blutige Invasion in Ungarn 1956 ausgelöst hatten. In der Tschechoslowakei zeigten sie sich klüger, nahmen eine politisch abwartende Haltung ein und vermieden allzu auffällige Eingriffe in das gesellschaftliche Leben. Der Zorn der Völker der Tschechoslowakei sollte sich beruhigen.

Im zweiten Jahr der Okkupation fiel der Vorhang. Mit der neuen Husak-Regierung begannen unter sowjetischer Führung in allen Bereichen die Säuberungen. Die aufrührerische Intelligenz des Landes wurde zur Arbeit in Fabriken gezwungen oder ihre Angehörigen kamen auf bedeutungslose Büroposten, wo sie fixe Gehälter erhielten, die nicht einmal das Existenzminimum für eine Person abdeckten, geschweige denn für ganze Familien. Bestimmte Personen mussten überhaupt das Land verlassen. Aber es traf nicht nur die Intellektuellen. Jeder, der nicht mit den Ansprüchen des neuen Regimes konform ging, wurde bestraft. Der Verlust jeder Perspektive von Freiheit, der all ihre Hoffnungen ausgelöscht hatte, wurde durch die Präsenz der Roten Armee und der sowjetischen „Techniker“ noch verstärkt. Es war zuviel für diesen Staat in Mitteleuropa, der sich von der Unterwerfung gegenüber dem Reich der Habsburger erst nach dessen Sturz 1918 hatte befreien können.

Viele wagten es, sich der im Geheimen aktiven Opposition anzuschließen, und riskierten, verraten und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es gab auch Personen, die völlig offen Kritik übten. Die „Charta 77“ prangerte die Verbrechen der Nomenklatura an, forderte die Besatzer zum Rückzug auf und rief das Volk zum Widerstand. Verbotene Schriften wurden heimlich im Selbstverlag als Samisdat-Publikationen verbreitet. Renommierte Professoren hielten geheim organisierte Vorlesungen auf den Gebieten der Philosophie und anderer Wissenschaften in Privatwohnungen. Das Regime fand falsche Zeugen, um Oppositionelle irgendwelcher Verbrechen zu beschuldigen, und sammelte „Beweise“, um diese in die Gefängnisse zu sperren. Unter den Opfern waren Vaclav Havel, Rudolf Battek und viele mehr. Das dauerte zwei Jahrzehnte lang an, während derer die Tschechoslowakei und ihre Bewohner misshandelt, erniedrigt, eingesperrt und gezwungen wurden, ihre Wut gegen die Besatzer und deren Komplizen totzuschweigen. Die Generation jener, die in den 1960er Jahren geboren wurden, wuchs in einer Zwangsjacke auf. Sie wurde wie ihre Eltern von Dogmen, Verboten und Strafmaßnahmen erstickt. Unter dem sowjetischen Glassturz und dem Regime der „Volksdemokratie“ wurde die Tschechoslowakische, Sozialistische Republik CSSR zu einem teilweise unterentwickelten Staat, dessen Lage sich seit der Invasion stetig verschlechterte. Dabei war die Tschechoslowakei in kultureller wie auch wirtschaftlicher Hinsicht vor dem Zweiten Weltkrieg einer der höchstentwickelten Staaten Europas gewesen. Es brauchte 21 Jahre einer „temporären“ Besetzung, bis endlich, im Herbst 1989, die „Samtene Revolution“ mit dem endgültigen Abzug der sowjetischen Truppen zustande kam.

Inzwischen hatte es das nationale Ausbildungssystem unter den Besatzern den Kindern „bestrafter“ Eltern – jenen also, die ihre Berufe nicht mehr ausüben durften, ihre Posten verloren hatten oder von der Partei ausgeschlossen worden waren –untersagt gehabt, jenseits der Pflichtschule weitere Schulen zu besuchen. An den Universitäten hatte sich der Lebensraum völlig verengt, weil die Taten und Gesten jedes Einzelnen überwacht wurden.

Es kam der Augenblick, als Freunde Lena mitteilten, dass es Gerüchte gebe, denen zufolge sie beschuldigt würde, ein „Volksfeind“ zu sein. Ihre Vorgesetzten, deren Namen die Freunde nannten, wollten sich ihrer entledigen. Sie „demoralisiere“ ihre Kollegen. Kurzum, ihre Anwesenheit an der Fakultät schien nicht länger erwünscht zu sein.

Nach der Invasion von 1968 hatte Abdul Rahman weiter an der Wirtschaftwissenschaftlichen Hochschule unterrichtet. Angewidert von der Nivellierung der tschechoslowakischen Gesellschaft nach Muster der UdSSR und vor allem von der brutalen Wiedereinführung des Totalitarismus, nahm er 1970 eine Einladung der irakischen Regierung von Ahmad Hassan al-Bakr an. Er sollte im Planungsministerium bei einem Projekt zur „langfristigen Entwicklung“ mitarbeiten. Er verließ zwar den tschechoslowakischen Totalitarismus, begann aber zugleich für ein anderes Regime zu arbeiten, das die Bevölkerung ebenso wenig pfleglich behandelte. Allerdings kam er so wieder zu seinem Volk und in sein Land Kurdistan zurück, wo er den Freiheitskampf fortführen können würde. Mit all ihren Problemen und ihrem Unglück blieb die Tschechoslowakei für Abdul Rahman immer noch ein zivilisiertes Land, während die Kurden völlig unterentwickelt und im Elend waren.

Lena blieb alleine in Prag zurück, wo sie versuchte, das Beste aus einer Situation zu machen, die sie und ihre Kinder zutiefst bedrückte.

Kündigung, um nicht entlassen zu werden

Im nächsten Jahr sollte die jüngere Tochter an die Universität kommen, aber die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrer Mutter und der universitären Hierarchie sowie deren Unfähigkeit, sich dort anzupassen, drohten, sich auf die Studienchancen der Tochter auszuwirken. Nach reiflichem Überlegen beschloss Lena, ihren Posten an der Fakultät durch eigene Kündigung aufzugeben und damit einer Entlassung zuvorzukommen. Das bedeutete, dass sie sich einen anderen Arbeitsplatz suchen musste. Abdul Rahman lebte und arbeitete immer noch im Irak, aber finanzielle Unterstützung von ihm kam nur sporadisch. Realistischerweise konnte sich Lena nur auf jene Mittel verlassen, die sie durch ihre eigene Arbeit verdiente.

Zufällig war der Inhaber des Lehrstuhls für Marxismus-Leninismus an der Universität für technische Wissenschaften, Antonin Chyba, ein Freund Abdul Rahmans. Er war seit langer Zeit Kommunist. Im Geheimen half er Intellektuellen, die Opfer der Säuberungen geworden waren, ihre Arbeit fortzusetzen und sorgte unter seinem eigenen oder im Namen von Freunden für die Publikation dieser Schriften. Danach trat er das damit verdiente Geld wieder an die Autoren ab. Er erfand auch alle möglichen Tricks, um die Anweisungen seiner Vorgesetzten zu umgehen, und es machte ihm Spaß, Mitgliedern der Nomenklatura, unter denen er zahlreiche Bekannte hatte, die lange Nase zu zeigen. Mit anderen Worten, er hatte auf allen Seiten Freunde und Feinde.

„Ich habe soeben eine Fachrichtung ins Leben gerufen, die sich mit Ökologie befasst. Sie wird von Professor Novy geleitet, und du wirst seine Assistentin sein.“ Dass er diese Entscheidung so rasch traf, überraschte Lena, aber Antonin tat, als ob das eine höchst banale Sache wäre. Tatsächlich war Professor Novy kurz zuvor als Mathematiker durch eine Säuberungsaktion von seiner Lehrkanzel entfernt worden. Von Ökologie verstand er nichts, und Lena noch weniger. Trotzdem hatte Antonin diesen Posten aus dem Nichts speziell für ihn geschaffen und damit einen neuen Forschungszweig etabliert. Diese eigenartige Lösung hätte für alle drei Beteiligten Schwierigkeiten verursachen können, aber im Moment war sie eine Möglichkeit, die kafkaesken Zumutungen des Regimes bei dessen Strafsanktionen abzuwehren.

Abdul Rahman wird Generalsekretär der DPKI

Seit 1968, als die Armee des Schah die Führungsspitze der DPKI ausgeschaltet hatte, kämpfte die Partei ums Überleben. In den Jahren 1970-1974, als Abdul Rahman im Planungsministerium in Bagdad arbeitete, hatte er mit anderen Mitgliedern der DPKI eine politische Organisation aufgebaut, ihr solide Strukturen gegeben und Zielvorgaben erstellt. Im Jahr 1971 wurde er bei der dritten Konferenz der DPKI für den Posten des Generalsekretärs vorgeschlagen und 1973, beim dritten Parteikongress, in diesem Amt durch Wahl bestätigt. Seit damals wurde er bei allen folgenden Kongressen bis zu seinem Tod wiedergewählt.

Nach jenem historischen Kongress lud Abdul Rahman Lena nach Bagdad ein. Er wollte mit ihr über ein wichtiges Ereignis sprechen. Sie gingen auf der Tigris-Insel Didschla spazieren. Das Wetter war wundervoll. Die Sonne hatte die Erde wieder erwärmt, und Lena fühlte geradezu die Kraft der Natur unter ihren Füßen. Abdul Rahman erzählte ihr von der Niederlage der DPKI, die sie fünf Jahre zuvor erlitten hatte, von seinem Mitstreiter Suleiman, den Lena während ihrer Zeit im Untergrund in Teheran kennen gelernt hatte, und von den schweren Jahren, die die Partei durchgemacht hatte. Er erzählte ihr von seinen Bemühungen, mit denen er während der vergangenen drei Jahre versucht hatte, aus der Partei eine lebensfähige und solide Organisation zu machen. Und dann fragte er sie, als ob nichts gewesen wäre, ob sie ihm bei seiner Aufgabe helfen wolle.

„Ja, habe ich dir denn nicht immer geholfen?“

Seine Frage hatte sie überrascht und traurig gemacht. Ihr Mann vermittelte damit den Eindruck, alle Arbeit, die sie für ihn und für die Partei geleistet hatte, aus seiner Erinnerung gelöscht zu haben.

„Ich bin Generalsekretär der DPKI geworden. Von jetzt an habe ich hohe Verantwortung und noch mehr zu tun.“

Das war eine große Neuigkeit. Aber sie fragte sich, welchen Status wohl die Ehefrau des Anführers einer illegalen Partei haben könnte und worin ihr Aufgabe wohl bestehen konnte. Sie wusste nicht recht, wie sie ihrem Mann, der ganz offensichtlich sehr stolz und zufrieden war, gratulieren sollte, und umarmte ihn daher wortlos.

„Dir ist es egal, was mit deinem Mann geschieht, könnte man meinen!“

„Aber sicher nicht! Nur, lass’ mir Zeit, um diese Neuigkeit zu verdauen.“

Sie hatte sich vor inzwischen mehr als 20 Jahren an die Seite der Kurden gestellt. Am Ende war sie ihnen ähnlich geworden. Sie glaubte, eine der Ihren zu sein. War sie denn nicht ein Nachkomme der Tschechendeutschen, denen es seinerzeit ebenso schlecht ergangen war wie noch immer den Kurden? Es stimmte, dass sie nun mit ihren fast erwachsen gewordenen Kindern in Prag lebte, weit weg vom Zentrum des kurdischen Freiheitskampfes. Es war unwichtig, dass die Töchter sich nach und nach von ihr entfernten. Lena war überzeugt, sie bräuchten die Mutter noch immer, vor allem jetzt, da sie sich für völlig erwachsen hielten. Wieder einmal war sie zerrissen zwischen ihrem Wunsch, dem Volk nützlich zu sein, das sie seit langer Zeit so sehr liebte, und dem Verlangen, ihren Kindern nahe zu bleiben.

„Und die Kinder? Was wird aus ihnen?“ Sie wollte und musste wissen, was er in dieser Hinsicht geplant hatte.

„Sie sind schon groß. Sie werden alleine zurechtkommen. Du musst mit ihnen reden, ihnen die Wichtigkeit deiner neuen Funktion und der damit verbundenen Verantwortung erklären. Sie werden so ihr eigenes Leben besser verstehen, das so oft von den Geheimnissen rund um unsere Aktivitäten durcheinander gebracht worden ist. Sie werden noch mehr stolz auf dich sein und vielleicht eher wirklich erwachsen werden. Vielleicht werden sie uns sogar helfen, und wenn es nur durch ihr Verständnis wäre.“

Aber das stand gar nicht zur Diskussion. Seine Funktion als DPKI-Generalsekretär musste völlig geheim bleiben. Niemand, auch nicht die eigenen Kinder, durfte informiert werden.

Der Aufenthalt Lenas im Irak wurde dieses Mal durch lange Ausflüge verschönert. Sie besuchten Orte mit magischen Namen: Samara, Abu Dalaf, Nasirija, Ur, Lagath-Warka im Süden von Bagdad und im Norden Derbendikan, Suleimanije, Mosul, Erbil, Ninive, Nemrod, Hatra... Sie sahen den Damm von Bokan, den See Habbania; sie besuchten Babylon, das Tor von Ctesiphon... Sie schlenderten durch die Bazare, betrachteten die Schätze der archäologischen Grabungen im Museum von Bagdad und sahen das der Welt hinterlassene Erbe und Zeugnis des Ruhmes des antiken Mesopotamien, des legendären Zwischenstromlandes.

Lena kehrte heim nach Prag, um viele, neue Eindrücke reicher, aber beladen mit einem schweren Geheimnis und mit Fragen, auf die sie keine Antwort hatte.

Ein Jahr später nahm Abdul Rahman, von Bagdad zurückgekehrt, seine Tätigkeit an der Hochschule für Wirtschaftliche Studien wieder auf. Er vertrug die gleichmacherischen Beziehungen nur schlecht, die das Prager Universitätsleben bestimmten. Als guter Diplomat fügte er sich jedoch und hatte guten Kontakt sowohl zu seinen Kollegen als auch zu den Mitgliedern der Verwaltung. Er gewann die Sympathien aller durch seinen wachen Geist und seine Fröhlichkeit, und er wurde für sein Wissen geschätzt. Trotzdem kam er in seinem Innersten nur schlecht mit diesem Egalitarismus zurande. Er wusste, dass seine Mission enorm war – das kurdische Volk aus dessen Unterdrückung und Erniedrigung zu erlösen und zu diesem Zweck die diktatorische Monarchie des Iran zu beseitigen. Das tschechoslowakische Regime setzte ihn umso mehr unter Druck, da er sich als Generalsekretär der DPKI von allem fernhalten musste, das ihn in seiner Bewegungsfreiheit oder sogar in seinen Gedanken einschränken könnte. Der Umstand, dass diese Funktion nicht bekannt werden durfte, vereinfachte die Lage keineswegs.