Kapitel 14 Die Tragödie

„Friedensgespräche“ in Wien

Abdul Rahman kam Anfang Dezember 1988 nach Paris. Lena und er besprachen mit ihrer Arbeit zusammenhängende Probleme und erfuhren eben, dass ihre ältere Tochter für den darauffolgenden Juni ihr drittes Kind erwartete. Am 16. Dezember fuhr er nach Lille, wohin ihn die Kommunistische Partei Frankreichs anlässlich der Feier zum 100. Geburtstag der Internationale eingeladen hatte. Am 22. Dezember feierten Lena und er seinen 58. Geburtstag. Am 27. brach er, wie er sagte, „ins Ausland“ auf.

Tatsächlich war er nach Wien in Österreich gefahren, um Verhandlungen mit Abgesandten des Regimes der Mullahs, Mohammed Dschafar Sahrarudi und Hadschi Mustafawi, aufzunehmen. Es sollte um das Ende des neun Jahre zuvor begonnenen Krieges in Kurdistan gehen. Die Tagesordnung sah außerdem das Thema eines kurdischen Autonomiestatuts sowie Modalitäten der Verträge vor. Es gab zwei Tage mit Gesprächen, dann kehrten die Iraner nach Teheran zurück, um ihren Chefs die Forderungen der DPKI vorzulegen. Als sie im Jänner 1989 wieder nach Wien kamen, wurde keinerlei Übereinkunft erreicht.

Lena wusste damals von all dem nichts, aber Abdul Rahman rief sie jeden Tag an, und dann erhielt sie von ihm ein kleines Briefchen (hier die wörtliche Übersetzung):

„Liebe, kleine Lena, ich wünsche Dir ein glückliches Neues Jahr. Leider ist es mir unmöglich, heute nach Paris zurückzukommen. Ich führe hier sehr wichtige Besprechungen mit Vertretern des iranischen Regimes. Wohlgemerkt, das sind absolut geheime Gespräche. Außer dir darf niemand etwas davon wissen. Abdollah ist bei mir, aber es ist nicht wünschenswert, dass er wüsste, dass ich dir davon erzählt habe. Nach der ersten Runde der Verhandlungen bin ich gemäßigt optimistisch. Die Gespräche dauern allerdings noch an, und deshalb muss ich bis zum Ende dieser Woche hier bleiben. Ich werde drei freie Tage für mich selbst haben. Vielleicht fahre ich nach Prag.“

Sommer 1989: Dichtes Programm in Europa vor geplanter USA-Reise

Als er fünf Monate später wieder in Europa war, nahm er am Kongress der Sozialistischen Internationale in Stockholm teil. Dort wohnte er bei seiner Tochter Mina und seinem Schwiegersohn Ola und konnte sein viertes, gerade acht Tage altes Enkelkind Max in die Arme nehmen. Er sah in Stockholm auch Vera, das Kind seiner jüngeren Tochter Hiwa. Mit den älteren Brüdern von Max, Robert und Martin, spielte er Fußball. Am 26. Juni kam er wieder nach Paris.

Lena war gerade mit einigen Übersetzungen beschäftigt, musste diese Arbeit aber sofort unterbrechen. Abdul Rahman brauchte sie für dringende Aufgaben. Bei der einen ging es um seine erste Reise in die Vereinigten Staaten. Er sollte dort am 19. Juli auf Einladung des US-Senats auftreten. Seine Rede hatte er auf Persisch vorbereitet. Lena musste sie ins Englische übersetzen. Daran arbeiteten sie gemeinsam bis zum Vorabend seiner Abreise nach Wien, von wo er am 16. Juli zurückkehren sollte. Lena und er waren eine Art Arbeitsteam, das manchmal durch weitere Mitarbeiter verstärkt wurde.

Im Laufe des letzten Nachmittags, den er mit ihr verbrachte, vertraute Abdul Rahman Lena das Geheimnis seiner Reise nach Wien an. Er war überzeugt, dass die Iraner großen Wert auf eine Lösung des Kurdenproblems legten, und er war sehr sicher, dass es Fortschritte gäbe. Lena konnte es kaum glauben:

„Gerade jetzt ist es für das Regime der günstigste Augenblick, sich deiner zu entledigen. Khomeini ist tot, und erinnere dich daran, was mit Simko passiert ist!“

(Simko war ein Vorgänger Abdul Rahmans gewesen und wurde in den 1930er Jahren nach von ihm aufgenommenen Gesprächen mit Abgesandten des Schah in einen Hinterhalt gelockt und ermordet.)

„Ich habe ihnen gesagt, dass sie aufpassen müssen, und ich bin nicht so gutgläubig wie Simko.“

„Wirklich? Sag’, was wird aus deiner Partei, wenn du verschwinden solltest? Du hast immer noch keinen Nachfolger.“

„Im Moment gibt es Sadek, und in drei bis vier Jahren werden mehrere andere da sein.“ (Sadek Scharafkandi, sein Nachfolger, wurde drei Jahre nach Abdul Rahman in Berlin von iranischen Emissären ermordet. Anm. d. Übers.)

Lena hatte kein gutes Gefühl bei diesen Verhandlungen mit der Iranern, aber Abdul Rahman machte sich über ihren Argwohn lustig.

Er brach am Dienstag, dem 11. Juli, auf und sollte den Tod finden. An jenem Tag und noch am darauffolgenden rief er Lena an. Aber am Donnerstag, dem 13. Juli, blieb das Telephon stumm.

Die Schreckensnachricht

Am Freitag, dem 14. Juli, wurde Lena gegen fünf Uhr früh vom schrillen Läuten des Telephons geweckt. Kak Khosrow vom Pariser Büro der Partei informierte sie von der Tragödie: Abdul Rahman war am Abend davor, am 13. Juli, gegen 19.00 Uhr ermordet worden. Mit ihm starben Kak Abdollah und Fadil Rasul.

Sie ging in der Wohnung herum und versuchte, sich einzureden, dass sie gleich aus diesem Alptraum aufwachen würde. Nach und nach aber musste sie akzeptieren, dass dieser Alptraum die Wirklichkeit war. Sie ging ins Büro ohne zu wissen, was zu tun wäre. Im Büro weinten Männer. Sie wusste nicht, was sie machte oder dachte. In ihrem Kopf war alles durcheinander. Aber wie immer in schockartigen Zuständen musste sie weitermachen und darauf hören, was man von ihr erwartete. Der Schock dauerte an, denn sie brach nicht zusammen. Sie fing sogar an zu schreiben, das Schreiben half gegen die Unordnung ihrer Gedanken. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie Abdul Rahman gegenüber von dessen Tod gesprochen hatte, aber das war ja aus Angst um ihn geschehen. Sie konnte dieser abergläubischen Überlegung gar nicht auf den Grund gehen. Sie hatte darüber geredet als ginge es um Zahnschmerzen, wenn man es so sehen wollte.

Sie zürnte auch dem Ermordeten, beschuldigte ihn einer am kurdischen Volk begangenen Todsünde, weil er sich hatte umbringen lassen, und machte ihm schwerste Vorwürfe. Die Mörder hatten ihm eingeredet, wie wichtig diese Verhandlungen wären, und er hatte ihnen geglaubt! Sie hatten absolute Geheimhaltung als Bedingung der Gespräche verlangt, und er hatte nicht verstanden, dass dies nur ein Glied in der Kette ihres kriminellen Plans gewesen war. Er hatte bei den Wiener Mitgliedern der Partei keinen Schutz verlangt, und alle drei waren entsprechend der Forderung der Mörder unbewaffnet zu den Gesprächen gegangen. Noch dazu hatten die Iraner bereits zweimal in Kurdistan versucht, ihn zu töten. Diesmal aber hatten sie die Fäden fein gesponnen und die Falle genau vorbereitet.

Lena wurde noch wütender, als sie erfuhr, dass er über das Treffen mit seinen Mördern nicht einmal seine Mitarbeiter in der Partei informiert hatte. Nach dem Scheitern der Gespräche vom Winter hatten die Mitglieder des Politbüros der DPKI beschlossen, diese nicht mehr fortzusetzen. Sie fanden die Sache bedenklich. Trotzdem setzte sich Abdul Rahman darüber hinweg und glaubte, sie übertrumpfen zu können. Wie konnte er nichts Böses ahnen, er, der die Winkelzüge der Mullahs so gut kannte, der gewöhnlich so logisch dachte? Wie konnte er alle drei der Falle dieser Schakale ausliefern? Die Nachfolger Khomeinis wollten den Kopf jener Bewegung, die sie am meisten störte. Sie haben ihn bekommen.

Schon zu jener Zeit gab es eine beträchtliche Zahl von iranischen Oppositionellen, die außerhalb des Landes ermordet worden waren. Ihrer aller Schicksal war auf den höchsten Ebenen der islamistischen Regierung beschlossen worden. Aber Lena fiel keiner ein, der am Verhandlungstisch bei Friedensgesprächen ermordet worden wäre.

Vergeblicher Kampf um Verbrechensaufklärung

Die österreichische Polizei hatte die Fakten rasch festgestellt: Die Mörder mussten die drei Iraner gewesen sein, die an den Gesprächen teilgenommen hatten (das waren, wie schon im vorangegangenen Winter, Mohammed Dschafar Sahrarudi und Hadschi Mustafawi sowie als Dritter Amir Mansur Bosorgian). Die internationalen und ganz besonders die österreichischen Medien brachten die Nachricht über das Verbrechen prominent, und sie verbreitete sich überall. Der österreichischen Regierung war das peinlich: Die Kriminellen waren mit Diplomatenpässen eingereist, die wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran waren wichtig, und der Druck von den höchsten Stellen der Islamischen Republik war sehr stark. Die beunruhigende Schwäche der Demokratie wurde deutlich. Die Regierungen schickten sich weltweit an, ihre Beziehungen zum Iran zu erneuern. Es schien besser, das terroristische, iranische Regime vor einem Skandal zu bewahren. Es ist zudem leicht, ein wehrloses Volk wie das kurdische zu besudeln: Nach einigen Medienkommentaren, darunter auch BBC und France Inter, hätte die Ermordung der drei Kurden die Begleichung offener Rechnungen im Zusammenhang mit radikalen, kurdischen Fraktionen gewesen sein können. In Österreich wurde der ursprüngliche Bericht der Polizei gemäß den Zwecken modifiziert. Zwei der drei Mörder, die unter Polizeiaufsicht gestellt worden waren, wurden freigelassen und konnten in den Iran heimkehren (Mustafawi war schon unmittelbar nach dem Mord untergetaucht) . Die Minister und die übrigen Verantwortlichen verschleierten die Affäre sorgfältig und kehrten sie unter den Teppich.

Ohnmächtig vor den Mächtigen, wusste Lena nur eines: Sie musste handeln. Aber wie? Als ihre Mutter ermordet wurde – sie selbst war damals erst sechs Jahre alt gewesen –, waren es die Erwachsenen, die sich um alles kümmerten. Jetzt war sie die Erwachsene. Sie brauchte jemanden, der ihr sagen konnte, was zu tun sei, und nicht den Rat, nichts zu tun! Es bestand Handlungsbedarf, denn sie musste ihre Schuld gegenüber Abdul Rahman und Abdollah bis zum letzten Groschen regeln. Aber, welche Schuld eigentlich?

Es war eine Schuld, die ihr das Schicksal auferlegt hatte, ihr und niemandem anderen: Abdul Rahman, sein Testament und alles, was er zurückgelassen und woran sie ihr Leben lang großen Anteil gehabt hatte, aber auch ihre eigenen Beziehungen zu den Kurden. Es heißt, dass die Menschen gleich an Rechten und Würde geboren werden. Die Realität führt allerdings zur Feststellung, dass sie bis heute als Ungleiche zur Welt kommen, und dass die Würde, darunter auch die der Kurden, eine ziemlich strittige Angelegenheit ist. Was konnte also getan werden, damit zumindest dieses Mal Gerechtigkeit geübt werden würde?

Sadek Scharafkandi, Nachfolger des Doktor Ghassemlou, kam zu ihr. Als nirgendwo anerkannte Partei konnte die DPKI selbst nichts tun. Gemäß österreichischem Recht war Lena die einzige Befugte, um Gerechtigkeit einzufordern und an der Untersuchung teilzunehmen. Sadek Scharafkandi bat sie, diese Aufgabe zu übernehmen.

In Wien war ein mutiger, junger Jurist, Manfred Weidinger, ihr Rechtsanwalt geworden. Diesen Fall zu übernehmen und die notwendigen Ermittlungen zu führen, konnte für ihn gefährlich werden. Zudem kannte er die näheren Umstände und erwartete daher kaum zufriedenstellende Ergebnisse. Die DPKI und Lena wollten, dass die Verbrecher verurteilt und bestraft würden und dass die österreichischen Gerichte den Staatsterrorismus der Islamischen Republik öffentlich demaskierten. Doch die Mörder waren schon „außer Reichweite“, und Österreich war, wie auch die anderen westlichen Demokratien, um seine Bemühungen zur Annäherung an den Iran besorgt. Die Sache war hoffnungslos.

Trotz allem war Lena entschlossen, einer weltweiten Öffentlichkeit den terroristischen Charakter des iranischen Staates sowie die Vogel Strauß-Politik der demokratischen Staaten des Westens zu enthüllen. Die internationalen Medien und insbesondere auch die österreichischen engagierten sich dabei in großartiger Weise. Mit Hilfe der Kurden sowie von Verteidigern der Menschenrechte reiste Lena herum, gab Pressekonferenzen, und für mehrere Jahre bemühten sich all diese Leute, die Weltöffentlichkeit zu informieren.

Angesichts der Behinderung durch die höchsten Stellen des Landes hatten auch einige Jahre der Untersuchungen in Österreich nichts gebracht. Also entschloss sich Lena, die österreichische Regierung strafrechtlich zu verfolgen und Klage einzubringen. Am Ende wies das österreichische Höchstgericht ihre Anschuldigungen zurück und verurteilte sie noch dazu zur Zahlung von 80.000 Schilling (rund 6.000 Euro) als Abgeltung für die Gerichtskosten. Als sie von diesem Urteilsspruch erfuhr, schrieb sie dem Gericht, dass sie als zahlungsunfähige Schuldnerin unter Zwang bereit wäre, ins Gefängnis zu gehen. Jedenfalls würde sie keinen Groschen für ein Rechtssystem bezahlen, das sich auf die Seite von Staatsterrorismus stellt. Sie erhielt nie eine gerichtliche Ladung. Die Österreicher mussten sich wohl der Absurdität dieses Richterspruchs bewusst geworden sein.

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Dinge, die einen nicht wirklich berühren, vergisst man leicht. Andererseits gelingt es einem nicht, die Erinnerungen an ein Leben zu vertreiben, das wie ein Bettlerdasein ablief. Die Erinnerung ist freilich ein Vertrag, den man mit der Geburt unterschreibt. Wenn man seine Vergangenheit leugnet, zerstört man die Phantasie, begräbt den Lebenswillen und erlaubt es damit dem Vergessen, die eigene Existenz mit totaler Leere auszufüllen.

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Die „Affäre Ghassemlou“ wartet noch mehr als zwei Jahrzehnte später darauf, dass Gerechtigkeit geübt werde.