Kapitel 5 Vorbereitungen für die Rückkehr Lenas nach Europa

Abdul Rahman bereitete sich darauf vor, zu einer Mission nach Europa aufzubrechen. Vor seiner Abreise hatte die Partei beschlossen, dass Lena und die Kinder den Iran verlassen sollten. Abdul Rahman kündigte ihr diese Neuigkeit in Gegenwart seiner Mitstreiter an. Diese fügten den Rat hinzu, sie solle nicht darauf vergessen, die Kinder im kurdischen Geist zu erziehen. Das war zuviel. Erst hatte ihr Abdul Rahman diesen Beschluss mitgeteilt, ohne sich zuvor wenigstens mit ihr beraten zu haben, und dann noch die anderen mit ihren Ratschlägen. Lenas Nerven lagen blank.

„Wenn ihr wirklich wollt, dass unsere Kinder als Kurden aufwachsen, und wenn ich für euch zu gefährlich geworden bin, dann ist es besser, wenn wir in ein abgeschiedenes Dorf in den kurdischen Bergen ziehen. Dort wäre es möglich. Aber in Europa? Ohne ihren Vater? Das meint ihr doch nicht wirklich!“

Sie war noch immer nicht erwachsen und weise. Aber sie wusste, dass eine solche Trennung schrecklich wäre, auch für die Kinder, die ihren Vater nicht mehr sehen würden. Und es wäre das Ende ihrer eigenen Aktivitäten im Widerstand. Sie wusste, dass sie in der Sache nicht unersetzbar war. Sie war nur ein Rädchen in diesem komplexen System der Tätigkeit im Untergrund, in dem der Eine nicht wissen durfte, was der Andere tat, in dem jeder durch jeden ersetzbar war. Aber es fiel Lena schwer, ihre Tätigkeiten aufzugeben. Sie fühlte sich hier nützlich und war überzeugt, dass ihre Anwesenheit einen Schutz für ihren Mann bedeutete. Außerdem war ihre Verbundenheit mit dem Iran und mit Kurdistan bereits sehr tief. Angesichts dieser Entscheidung fühlte sie sich machtlos.

Also suchte Lena die Botschaft der Tschechoslowakei auf, um einen Pass zu erhalten. Der Botschafter, Herr Zahora, war ein alter Kommunist und Humanist sowie ein aufrichtiger und mutiger Demokrat. Er war einer von jenen, derer sich die tschechoslowakische Nomenklatura zu entledigen begonnen hatte, indem sie vorerst auf Posten weit weg ins Ausland geschickt wurden. Der Iran war dazu geeignet. Er war noch nicht alt genug, um die Schwere dieser Degradierung und die Fäulnis dieses Systems zu sehen, dem er sich, von dessen Ehrlichkeit überzeugt, mit Leib und Seele verschrieben hatte.

Ohne zu zögern, wollte er für Lena und Mina einen Pass ausstellen lassen. Aber es tauchte ein Problem auf, als klar wurde, dass kein Datum eines Einreisevisums für den Iran eingetragen werden konnte. Der iranische Widerstand hatte niemanden bei den für die Ausstellung von Visa zuständigen Behörden. So scheiterte der erste Versuch Lenas, den Iran zu verlassen.

Ein zweiter Versuch wurde bei einem Armen-Rechtsanwalt unternommen. Er war auch Kommunist und nützte seinen Beruf auf legale wie auch auf illegale Weise. Es gelang ihm, für Lena einen völlig legalen Pass aufzutreiben, aber sie musste ihn persönlich auf der Präfektur von Teheran abholen, weil diese sich weigerte, das Dokument dem Anwalt zu übermitteln. Da war ganz offensichtlich eine Falle.

Bei der Untergrundarbeit muss oft improvisiert werden. Die iranischen und mit ihnen die kurdischen Kämpfer entgingen dem auch nicht. Sie glaubten an das Leben, waren aber von Tod umgeben.

Abdul Rahman und die anderen Kurden, die Lenas Abreise vorbereiteten, zerbrachen sich den Kopf, um einen Weg zu finden, wie sie dieser Falle entkommen konnte. Am Ende beschlossen sie, dass sie den Pass doch selbst abholen und dabei deutlich ihre schwangere Figur zeigen sollte. Die Polizei würde es nicht wagen, eine schwangere Ausländerin festzunehmen.

„Ihr vergesst, dass ich keine Ausländerin bin!“

„Es ist, als ob du eine wärest.“

„Wie das?“

„Du wirst ihnen sagen, dass der tschechoslowakische Botschafter über deinen Besuch auf der Präfektur auf dem Laufenden ist, und dass er, wenn er von dir keine Nachricht bekäme, die nötigen Schritte einleiten werde.“

Sie hatten sich eine Geschichte zurechtgelegt, wonach sie mit Nachdruck behaupten sollte, dass ihr Mann sie und das Kind vernachlässige, nur selten komme, um die beiden zu sehen, und wenn er komme, stets von seinen Freunden umgeben sei, mit denen er die Zeit beim Kartenspiel verbringe. Er besaufe sich, werde leicht mürrisch und brutal, ohne auf sie und das Kind Rücksicht zu nehmen. Sie habe davon genug und wolle in ihre Heimat zurückkehren. Außerdem spreche sie nicht persisch, sei an Politik nicht interessiert und von ihrer Ehe enttäuscht.

Man kam überein, dass sie sich eine Woche nach Abdul Rahmans Abreise auf die Präfektur begeben solle. So wäre sichergestellt, dass er zu diesem Zeitpunkt die Grenze bereits passiert haben würde.

„Und wenn sie Eure Geschichte nicht glauben? Was geschieht, wenn sie mich verhaften? Wenn sie Mina verhaften? Und wollt Ihr, dass ich mein Kind im Gefängnis zur Welt bringe?“

„Es gibt keinen anderen Weg. Es muss riskiert werden.“

Alle waren einverstanden, auch ihr Mann. Sie bekam Angst. Kak Saddiq versuchte, sie zu trösten:

„Du lässt Mina bei Khanom Suleika (der Hausbesitzerin), sie wird sich um das Kind kümmern. Sollte das Schlimmste eintreten, wird deine Kleine bei meiner Mutter bleiben.“

Was für ein Trost. Das alles war eine riesige Grausamkeit, aber unvermeidbar. Lena akzeptierte. Sie war jung, verliebt, verständnisvoll. Aber in ihrer Angst klammerte sie sich an einen Strohhalm:

„Habt ihr keine Bedenken, dass ich euch verraten könnte?“

Nein. Sie fürchteten nichts. Abdul Rahman würde bereits außer Gefahr sein, und Lena kannte die Namen und Adressen der Kämpfer nicht. Ihre Aktivitäten im Untergrund waren ihr Schutz.

Anschließend durchsuchten sie alles in der Wohnung und packten alle kompromittierenden Unterlagen in einen Koffer und einen großen Karton. Lena sollte die Sachen nach der Abreise Abdul Rahmans zu Herrn Zahora bringen. Dieser habe zugesagt, alles in der Botschaft zu verstecken. Lena musste nun ihre Rolle spielen.

Die Dokumente kommen in die Botschaft der CSSR

Es ist ein Mittwoch, der Morgen dämmert. Das Abschiednehmen wurde in aller Eile erledigt. Er ist mit zweien seiner Kameraden fortgegangen. Zu jener Zeit fahndete die Polizei mit einer zuvor nie da gewesenen Intensität nach Abdul Rahman. Er sollte zuerst mit dem Bus fahren und dann seinen Weg zu Fuß über die Berge Kurdistans fortsetzen. Lena versuchte, sich diese Reise vorzustellen, aber vor ihrem geistigen Auge endete sie stets mit einer Verhaftung.

„Benachrichtige mich, sobald du es kannst“, flehte sie. (Nachrichten von ihm persönlich bekam sie bei seiner Rückkehr aus Europa, als ihr zweites Kind bereits ein Jahr alt war.)

Derselbe Mittwoch am Abend. Das Kind in ihrem Bauch fing an, seinen Wunsch zu zeigen, auf die Welt zu kommen. Saddiq wolle sie beruhigen:

„Du bist nervös. Du hat noch einen Monat Zeit!“

Das Ungeborene hielt sich nicht an seinen Zeitplan, aber es war unmöglich, diesen Mann davon zu überzeugen, der sich zudem bei Schwangerschaften nicht auskannte. Es gelang ihr, ihm einen halben Kompromiss abzuringen: Er würde Mina zu seiner Mutter bringen, und, wenn nichts passieren sollte, wieder ins Haus zurück. Sie vereinbarten ein Signal: Lena würde das kleine, rote Kleid Minas am Fenster aufhängen und damit signalisieren, dass sie auf der Entbindungsstation sei.

Sie bereitete das Nötigste vor. Die Natur schickte sich an, alle Projekte und Entscheidungen der Widerstandskämpfer zu konterkarieren. Aber, bevor sie in die Frauenklinik gehen konnte, musste Lena noch die Dokumente in die Botschaft der CSSR bringen. Es kam nicht in Frage, diese Unterlagen in einer unbenützten Wohnung zurückzulassen. Sie hoffte, dass das Baby so lange warten würde.

Gegen vier Uhr früh des folgenden Tages weckte sie Herrn Abr’ham und bat ihn, ihr ein Taxi zu suchen. Telephonanschlüsse waren zu jener Zeit keine übliche Ausstattung in Wohnungen. Außerdem fuhren nachts, was Lena nicht wusste, keine Taxis durch die Straßen. Es war fast sechs Uhr, als Herr Abr’ham mit einem Taxi zurückkam, und das in Begleitung eines Polizisten.

Lena wartete mit ihrem kleinen Handkoffer hinter der Eingangstüre, neben sich auf dem Boden den großen Koffer und den dicken Karton mit den Unterlagen. Alles schien schief zu gehen. Aber Herr Abr’ham konnte sie rasch beruhigen (er hatte die Lage verstanden) und erklärte ihr, dass er zur Gendarmerie gehen hatte müssen, damit diese ein Taxi besorge. Der Polizist sei mitgekommen, um sich zu überzeugen, dass es sich wirklich um eine bevorstehende Geburt handelte, und er wollte wissen, in welche Geburtsabteilung sie kam. „In die amerikanische,“ gab Lena von sich, aber der Polizist hatte bereits salutiert und war weg. Das Taxi wartete. Aber, was hatte sie sich vorgestellt! In diesem Armenviertel ging keine Frau zur Entbindung in die amerikanische Frauenklinik. Sie kamen entweder zu Hause nieder oder gingen ins staatliche Spital. Während sie sich selbst verfluchte, beförderte der Chauffeur das Gepäck in den Kofferraum. Dann startete er das Auto und fuhr in Richtung des amerikanischen Spitals. Lena brauchte viel Mut, um ihn zu ersuchen, vorher noch zur tschechoslowakischen Botschaft zu fahren, dort zu warten und sie anschließend in die sowjetische Klinik zu bringen. In den 1950er Jahren stand tatsächlich ein gewisser Teil der Fahrer im Dienst der Polizei.

Mut oder nicht, sie hatte keine Wahl. Der Chauffeur sah sie im Rückspiegel an und reagierte einen Augenblick lang gar nicht. Sie sah, wie er nachdachte. Diese Hochschwangere war verdächtig, ganz sicher! Er sollte sie am besten zur Gendarmerie bringen, die ihn bezahlte. Dort würde sie die Widersprüche aufklären müssen. Aber, wenn sie da hinten im Auto ihr Kind gebären sollte, würde ihm das sicherlich keine Anerkennung bringen. Jedenfalls würden die paar Groschen, die er für seine Dienste von der Polizei bekäme, derartige Unannehmlichkeiten nicht wert sein. Und was würden seine Kollegen sagen, die mehrheitlich Kommunisten waren? Sie würden nicht mehr mit ihm reden. Neuigkeiten sprachen sich binnen kürzester Zeit herum.

Schließlich sagte er: „Einverstanden, gnädige Frau.“ Er änderte die Richtung. Lena läutete am Tor der Botschaft an. Sie musste lange klingeln. Das Gepäck mit den Unterlagen zu ihren Füßen machte sie nervös. In der morgendlichen Stille hörte man die Glocke von weitem, und die Polizei war überall. Der alte Munschi (Diener) schlurfte heran. Er war noch völlig verschlafen. Sein eilig angezogenes Hemd hing aus der Hose heraus, die er noch nicht zugeknöpft hatte. Er fragte sie nach dem Grund ihres Kommens, ließ sie aber vorerst nicht ein. Sie drückte ihm den Karton und den großen Koffer in die Hand und sagte ihm, er solle den Botschafter wecken.

„Beeilen sie sich!“, befahl sie streng. Dann setzte sie sich auf eines der Sofas und sah dem Diener nach, wie er die Stiegen zu den Privaträumen des Botschafters hinauf ging.

Die Wehen wurden häufiger, und sie streichelte ihren Bauch: „Warte noch ein bisschen, sei geduldig. Ich bin sicher, dass du ein Bub bist, und du wirst ein echter Fußballer werden!“ Ihre erste Geburt war normal gewesen, und das Kind hatte sich Zeit genommen zu kommen. Mit diesem aber war es das genaue Gegenteil. Ein echter Wilder. Sie musste sich beeilen, um es in ihre Arme nehmen zu können.

Die Situation war surrealistisch. Sie befand sich ganz allein im Vorzimmer einer kommunistischen Botschaft in einem Land, in dem die Kommunisten mit einer Hetzjagd verfolgt wurden, und die Natur konnte nicht warten.

Seine Exzellenz hatten es nicht eilig. Endlich! Der Botschafter kam langsam die Stiegen herunter und fragte mit dröhnender Stimme, was sie zu so früher Stunde hier mache. Gleichzeitig sagte er aber auch, dass er erfreut sei, sie zu sehen.

„Hier, seien sie bitte so freundlich, das zu übernehmen, wie sie es uns versprochen haben. Ich flehe sie an! Jetzt muss ich sehr schnell in die Entbindungsklinik.“ Der Botschafter war verwirrt.

„Das hätten Sie mir vorher sagen müssen! Ich habe mir Zeit genommen, um präsentabel auszusehen...“

Lena war schon fort. (Von den in der Botschaft aufbewahrten Dokumenten sollte sie nie mehr etwas erfahren, Anm. d. Übers.) Glücklicherweise wartete das Taxi tatsächlich. Mit fester Stimme sagte sie dem Fahrer den Weg zum sowjetischen Spital an und trieb ihn zur Eile. All das ist sie teuer gekommen. Das Taxi hatte eine Stunde lang gewartet. Statt von ihr nun einen Toman zu verlangen, was dem Preis aller Fahrten in der Stadt entsprach, musste sie fünf Toman zahlen. Das war alles, was sie besaß. Abdul Rahman hatte ihr vor der Abreise genau jene Summe hinterlassen, die eine Entbindung mit einer Woche Spitalsaufenthalt kostete, sowie fünf Toman für ein Taxi und als Taschengeld. Er hatte genau gezählt. Es war ausgemacht, dass ihr Saddiq später noch etwas Geld geben sollte. Als sie im Hof der Klinik ankam, betete sie zu allen Göttern der Schöpfung, dass sie nur nicht gleich draußen niederkommen möge.

Man brachte sie sofort in den Kreißsaal. Es war eine schwierige Frühgeburt und eine harte Prüfung für ihr Herz. Dr. Germain in Rezajeh hatte recht gehabt. Sie hatte ein schwaches Herz. Es hätte nicht viel gefehlt, und es hätte versagt. Die Kleine (ja, es war ein Mädchen) ist schließlich gekommen; sie hatte praktisch normales Gewicht und war gesund. Was ihre Mutter anging, kämpften der Kardiologe und die Hebamme den ganzen auf die Geburt folgenden Tag hindurch und darüber hinaus mit ziemlich veralteten Behandlungsmethoden darum, sie am Leben zu erhalten.

„Wachen Sie auf! Sie dürfen nicht einschlafen!“ Aber sie schlief bald doch wieder ein.

„Bleiben sie wach, gnädige Frau, wenn sie das nicht tun, wachen sie gar nicht mehr auf!“ Um sie am Einschlafen zu hindern, gaben sie ihr stundenlang Ohrfeigen. Sie sollte wirklich munter werden und 72 Stunden lang nicht einschlafen.

Wie fühlt sich eine Frau nach der Entbindung, wenn es niemanden gibt, der sie besuchen kommt, niemanden, der die Freude mit ihr teilt? Das war bereits das zweite Mal, dass sie sich unter den gleichen Umständen völlig allein fand. Auch beim ersten Mal war Abdul Rahman nicht da gewesen. Sie war zutiefst niedergeschlagen.

(„Du weißt aber ganz gut, warum du allein bist!“, schalt sie sich in Selbstgesprächen. Du bist die Partnerin eines Revolutionärs: Jeder muss die Mission erfüllen, die er sich für sein Leben ausgesucht hat!“ – „Du hast sicherlich recht. Schimpf’ nicht mit mir. Lass’ mich wenigstens davon träumen, dass die Tür aufgeht, Abdul Rahman mich in seine Arme nimmt, und ich einen Teil meines Schmerzes und meiner Erschöpfung auf seine Schultern abladen kann!“ Aber die Türe ist nie aufgegangen.)

Sie teilte das Zimmer im Spital mit einer Armenierin, die eben ihr zwölftes Kind zur Welt gebracht hatte, die zwölfte Tochter! Das Krankenzimmer lag im Erdgeschoß und hatte ein vergittertes Fenster. Die Station hatte Quarantäne verfügt. Die riesige Familie der Armenierin kam sie besuchen und unterhielt sich mit ihr durch das Gitter hindurch. Sie brachten ihr Essen und auch Naschereien, aber alle machten ihr Vorwürfe, weil sie keinen Sohn geboren hatte. Die Männer spuckten verächtlich ins Gebüsch, und die Frauen verzogen die Gesichter, als ob ein gewaltiges Unglück geschehen wäre. In der Nacht weinte die Armenierin in ihrer Unschuld und fürchtete sich vor dem Nachhausekommen.

Die Armenier sind zwar Christen, aber als Mitglieder einer religiösen Minderheit müssen sie sich in den moslemischen Gebieten an die Mehrheitsreligion Islam und deren Traditionen anpassen. Durch den Zwang des Zusammenlebens über mehrere Jahrhunderte wurden die Christen jedenfalls durch den Lebensstil der beherrschenden Religion beeinflusst. In dieser Richtung gab und gibt es nicht allzu viele Probleme. Wenn jedoch umgekehrt die Minderheitsreligionen ihre Eigenheiten bewahren und sich dazu bekennen wollen, werden sie verfolgt, eliminiert oder zum Verlassen des Landes gedrängt, wie das bei den Bahais und den Juden im Iran der Fall ist.

Im Iran und in anderen islamischen Staaten wird erwartet, dass sich Ausländer den lokalen Bräuchen anpassen und alles anerkennen, was die islamische Religion betrifft, egal, ob diese Ausländer Touristen sind oder Personen, die sich auf Dauer niederlassen wollen. „In Rom muss man leben wie in Rom.“

Wenn das so ist, warum fordern dann bestimmte moslemische Gruppen, die in mehrheitlich christliche und oft demokratische Länder ausgewandert sind, dass die Gastländer ihren religiösen oder nationalen Besonderheiten Rechnung tragen, statt dass sie sich selbst dem neuen Land anpassen?

„Mit dem Neugeborenen wird dich die Polizei nicht verhaften“

Lena fragte sich, was wohl der Fahrer des Taxis gemacht habe, der sie in die Frauenklinik gebracht hatte. Außerdem hatte sie kein Geld mehr und wusste nicht, was sie tun sollte, um an das andere Ende von Teheran wieder nach Hause zu kommen. Im Untergrund und ohne Geld zu existieren, war entsetzlich. Darüber hinaus war es noch der Gipfel der Unbesonnenheit, im Iran für eine Geburt in ein sowjetisches Spital zu gehen.

Zahlreiche Gegner des Schah waren von Taxichauffeuren in Teheran gerettet worden. Der Ihre hatte sie vielleicht nicht denunziert, weil es nicht der Mühe wert war, eine Frau zu denunzieren. Oder, vielleicht hatte er es nicht getan, weil er zu lange gewartet und die Verdächtige nicht sofort zum Polizeiposten gebracht hatte? Und was, wenn die Polizei schon beim Tor des Spitals auf sie wartete?

Sie nahm ein Taxi und fuhr mit der neugeborenen Hiwa (das heißt „Hoffnung“) nach Hause. Dort bat sie den Hausherrn, der selbst auch arm war, den Fahrer zu bezahlen. Niemand hatte sie verraten.

Es war sehr heiß während der Hundstage im Juli. Daheim legte Lena die nur in ein leichtes Hemdchen gehüllte Kleine in einen Korb.

„Oh, wie klein sie ist und wie mager“, rief Suleika aus. Sie hatte ein gutes Herz und machte sich Sorgen. Sie riet Lena, ihr die Beinchen mit einem Tuch zu umwickeln, um diese schön gerade zu halten. Lena wollte das nicht. Es war ihrer Ansicht nach zu heiß dafür.

„Man muss ihr ein Püree aus Primeln, Eigelb und Rosenöl eben. Das reinigt die Eingeweide von Neugeborenen. Ich richte es für dich.“

Damit verschwand sie in aller Eile. Lena hatte kein großes Vertrauen zu dieser Art von Zubereitungen und fragte sich, wie sie das ablehnen könnte, ohne die besorgte Suleika zu verletzten.

Jene kam zurück, eine Trinkschale mit grünlichem Püree in der Hand.

„Los, gib ihr das, meine Kleine,“ insistierte sie. „Worauf wartest du?“ Lena zögerte, aber das Kind machte ihr die Sache leichter: Es schlief.

„Ich möchte warten, bis sie aufwacht.“

Etwas später ging sie zu Suleika, um ihr die Schale zurückzugeben und sagte ihr, dass das Kind den Inhalt aufgegessen hätte.

Am nächsten Tag kamen die Kameraden, und Saddiq brachte Mina mit. Sie tanzte um den Korb mit ihrer kleinen Schwester, klatschte in die Hände und schaute ihrer Mutter unter den Rock. Das war ihr gemeinsames Spiel gewesen. Während Lenas Bauch gewachsen war, hatte sie Mina auf die Ankunft des Babys vorbereitet. Mina fragte, wo denn das Baby sei, und legte ihre kleine Hand auf den Bauch der Mutter, wenn sich das Ungeborene bewegte. Das amüsierte die Kleine enorm, und sie wollte das Baby so schnell wie möglich sehen, legte ein Ohr an den Bauch ihrer Mutter, um es zu hören, und schob ihren Kopf unter deren Rock. Es war ein wunderbares Spiel gewesen.

„Ist es nicht mehr da drinnen?“, frage Mina.

„Nein, es ist nicht mehr da. Es ist hier im Korb.“ Und sie lachten. Mina zeigte nun mit ihrem Finger auf Hiwa und nickte mit dem Kopf, um zu zeigen, dass sie verstand.

Für eine kurze Weile hatten sich die Kameraden diskret zurückgezogen. Dann kamen sie zu Lena und sagten ihr, dass es Arbeit gebe. Sie hatten die Präfektur nicht vergessen. Lena wohl. Sie fühlte sich schwach und erschöpft und wollte sich vor allem um ihre Kinder kümmern und mit ihnen glücklich sein. Das, was sie auf der Präfektur erwartete, interessierte sie kaum.

Sie sah furchtbar aus, sagten sie ihr. Ähnlich wie bei Suleika zuvor, war das nicht gerade die beste Art, ihr wieder Mut zu machen. Tatsächlich wollten sie ihr klarmachen, dass genau jetzt der richtige Augenblick sei, auf die Präfektur zu gehen, um den Pass zu holen.

„Morgen früh wirst du mit der Kleinen hingehen. Wenn dich die Polizisten sehen, werden sie es nicht wagen, dir den Pass zu verweigern. Sie werden dich nicht ins Gefängnis stecken, weil sie fürchten, dass du dort stirbst. Sie werden außerdem berücksichtigen müssen, dass du aus Europa kommst. (Wirklich? Gerade diese Polizei hier, sagte sich Lena.)

Sie taten wirklich alles, um ihre Stimmung zu verbessern. Lena hatte sich in einen Spiegel geschaut, den sie für bessere Tage beiseite geräumt hatte. Sie sah tatsächlich aus wie eine kranke Alte.

Schließlich gab sie zu, dass der Plan nicht so dumm war – und dass die Kameraden die Psychologie und die Praktiken der Polizisten gut kannten. Sie fügte sich also dem Plan, sagte sich allerdings, dass sie die Kameraden gerne an ihrer Stelle sähe und wünschte, diese könnten fühlen, was sie fühlte. In jenen Tagen war, als hätte sie all ihre Kraft und den Mut von vielen Jahren aufgebraucht. Aber beide waren nötig, und das auf der Stelle.

„Ich habe keinen Groschen in der Tasche und ich schulde dem Hausherren noch das Geld für das Taxi. Wie soll ich zur Präfektur kommen?“

Sie wusste gut, dass sie früher oder später hingehen musste. Aber sie wollte ein wenig Zeit gewinnen und hoffte, ohne es wirklich zu glauben, dass die Kameraden den Besuch hinausschieben würden, dessen Resultat sie fürchtete. Sie versprachen, ihre Börse aufzufüllen, und dass Saddiq ihr noch am selben Abend Geld bringen würde.

Armut ist kein Laster. Aber, wenn Lena sich an jene Zeiten und an die Mittellosigkeit ihrer Gruppe von Widerstandskämpfern zurückerinnert, rinnt es ihr kalt den Rücken hinunter. Wegen ihrer Armut sollten diese Männer für ihre Flucht nicht einmal öffentliche Verkehrsmittel benützen können. Das war mit schuld daran, dass die überwiegende Mehrheit dieser Zelle nicht überlebte; sie starben großteils einen gewaltsamen Tod.

Man vereinbarte, dass Lena ein rotes Tuch ans Fenster hängen werde, bevor sie sich am nächsten Tag auf den Weg zur Präfektur machen würde. Nach ihrer Rückkehr sollte sie es wegnehmen und, falls es ein Sicherheitsproblem gäbe, durch ein rosa Tuch ersetzen. Dann würde sie, wie üblich, Saddiq um drei Uhr früh auf der Straße treffen. Wenn hingegen alles gut ginge, würde das durch ein weißes Tuch signalisiert. Vom Nachmittag an werde Saddiq bis zum Abend zu jeder vollen Stunde unter ihrem Fenster vorbeigehen. Die Kameraden versicherten ihr, dass alles gut gehen würde, aber sie teilte diesen Optimismus nicht.

Am Morgen vertraute sie vor dem Aufbruch zur Präfektur die kleine Mina Suleika an, deren fünf Lausbuben sie zu necken begannen. Es war ein derartiger Lärm, dass Lena nicht verstand, was ihre Vermieterin sagte, aber das war nicht wichtig. Trotz dieser Balgereien zwischen Buben und Mädchen war Mina in guten Händen. Schnell schloss Lena die Türe hinter sich.

Um zur Präfektur zu gelangen, musste sie den Bus an einer Station wechseln, an der sie einst Zeugin einer Szene geworden war, die sie nicht vergaß. (Das schien ihr jetzt freilich ziemlich weit weg zu sein.) Damals hatte sich eine lange Menschenschlange gebildet, und sie hielt die noch winzige Mina in ihren Armen. Zwei ungefähr zehnjährige, kleine Bettler kamen und wollten von den Wartenden Almosen. Der eine der Buben war einbeinig, und außerdem fehlte ihm ein Arm. Er bewegte sich mit einer Krücke vorwärts. Der andere erzählte mit weinerlicher Stimme vom Unglück des ersten. Lena war erschüttert gewesen. Als sie endlich in den Bus eingestiegen war, und dieser losfuhr, war ihre Verblüffung enorm: Sie sah, wie sich der kleine Behinderte schüttelte und seinen „fehlenden“ Arm sowie das Bein unter den Lumpen hervorschob. Sein Freund gab ihm mit der Krücke einen kleinen Schubser, und beide liefen lachend davon. Lena hatte diese Szene, die durchaus vom „Hof der Wunder“ aus dem „Glöckner von Nôtre Dame“ oder aus „Tausendundeiner Nacht“ stammen hätte können, einmal zu verdauen. Sie hatte damals noch nicht gewusst, dass die Elendsviertel von Teheran ganze Banden professioneller Bettler beherbergten, die Kinder bis ins Kleinste für die Bettelei schulten, und das wirkungsvoll.

Durch diese Erinnerung wurde sie für eine Weile von der Qual abgelenkt, die ihr den Magen umdrehte.

Beim Leiter der Geheimpolizei SAVAK

Das Gebäude der Präfektur lag im Zentrum der Stadt und war riesig. Gleich beim Betreten wurde Lena am Haupteingang von einem uniformierten Bediensteten angehalten und nach dem Grund ihres Kommens gefragt. Er ersuchte sie zu warten. Sie stand vor der Türe eines enorm großen Raumes und sah, wie sich der Mann durch einen langen Mittelgang entfernte. Entlang dieses Ganges standen kleine Tische, hinter denen Polizeibeamte in Zivil den Antragstellern gegenüber saßen. Es herrschte kafkaeske Trostlosigkeit.

Lena hielt ihr zehn Tage altes Neugeborenes in den Armen. Das Baby war durch das Geräusch der Schritte wach geworden, aber wieder eingeschlafen. Lena versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken. Autosuggestion war ihr vertraut, dennoch hatte sie einen Schwächeanfall. Ihr schmerzender und geschwächter Körper hielt nicht durch. Sie musste sich niedersetzen, aber nirgends gab es eine Sitzgelegenheit. Sie überlegte, wo sie sich abstützen und die Schwäche überwinden könnte. Beim Blick auf die Straße erinnerte sie sich, dass sie hier oft vorbeigegangen war, um, unter ihrem Tschador getarnt, Botschaften zu überbringen oder die Untergrundzeitschriften zu verteilen. Damals war sie so selbstsicher gewesen. Niemals wollte sie wen oder was auch immer verraten. Der Unterschied zwischen jener Passantin von damals und der Realität des heutigen Tages, an dem sie so kurz nach ihrer Niederkunft zwischen diesen Mauern gefangen war, schien enorm: „Du bist jetzt hier, sagte sie sich, also los! Wie oft hast du dir vorgestellt, mit Gewalt an diesen Ort des Unglücks gebracht zu werden? Also zittere nicht. Beruhige dich und wiederhole deine Rolle!“

„Einverstanden,“ antwortete sie sich im Selbstgespräch, und wiederholte das Vorbereitete: „Zuerst redest du nur englisch; dann kommt, dein Mann vernachlässigt dich, misshandelt dich, sperrt dich im Haus ein, ist oft abwesend und lässt dich ohne Geld zurück; wenn er wiederkommt, ist immer eine Bande von Kumpeln dabei, mit denen er Karten spielt und sich besäuft; du hast hier niemanden und willst zu deinen Eltern nach Hause zurück; wenn man dich dann nach den Namen dieser Kumpel fragt, tu’ so, als ob du vor dem Antworten kurz nachdächtest und gib ihnen dann ohne zu zögern irgendwelche Namen an; mach’ einen naiven und sogar etwas dummen Eindruck.“

Der Bedienstete kam zurück und deutete ihr, ihm zu folgen. Am anderen Ende des langen Mittelgangs befand sich ein großer Schreibtisch, an dem ein Dandy saß. In der Hand hielt er einen Pass. Er sagte zu Lena:

„Hier ist Ihr Pass, gnädige Frau. Aber sie müssen warten, bis ihn der Chef unterschreibt und ihnen eigenhändig ausfolgt.“

Lena konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Also setzte sie sich mit dem ganzen Gewicht auf den Sessel vor dem Schreibtisch gegenüber dem Dandy. Die Luft schien ihr zu dick zum Atmen. Sanft begann sie, ihr Baby zu wiegen, und diese Bewegung tat auch ihr gut gegen den Stress. Aber in ihrem Kopf wurde die Angst, um nicht zu sagen Panik, immer schlimmer. Sie war sicher, dass sie diesen Ort nicht mehr verlassen würden, ganz einfach so. „Der Chef, die Unterschrift, eigenhändig...“ Es war ein Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte und für das sie keinen Schlüssel hatte. Sie hatten einen riesigen Vorsprung vor ihr. Sie tat, als ob sie den Pass nehmen wollte. Der Dandy hinderte sie daran und wiederholte, was er eben gesagt hatte. Sie sah im direkt ins Gesicht und erklärte auf Englisch, dass sie Persisch nicht verstünde. Er deutete ihr, sitzen zu bleiben.

Das Regime des letzten Schah-in-Schah war voller Widersprüche. Die Völker des Iran, denen es die grundlegenden Rechte verwehrte, erhoben sich gegen die blutige Herrschaft. Um sie nach Protestperioden ruhig zu stellen, wurden ihnen eine gewisse kulturelle Entwicklung gestattet, der Frau im Iran ein paar Rechte eingeräumt und sogar einige (ungeschickten) Schritte zugunsten einer gewissen Industrialisierung des Landes gesetzt. Aber jedes Mal, wenn der Widerstand sich wieder stärker zeigte, reagierte das Regime mit einer Verstärkung des Repressionsapparats, und die Verfolgung wurde intensiviert. In den 1950er Jahren quollen die Gefängnisse über.

Die Angst vor dem Schmerz ist manchmal schrecklicher als der Schmerz selbst. Aber es ist auch wahr, dass er einen unter Umständen zum Reden bringt. Die unbeugsame Entschlossenheit, auch unter Folter nichts zu sagen, spielt eine große Rolle. Aber, wenn das Leiden unerträglich wird, kann es sein, dass der Wille nicht mehr ausreicht. Dennoch gab es viele, die auch unter der Folter nicht redeten und dadurch starben. Um ein derartiges Stadium der „Desensibilisierung“ des Körpers zu erreichen, bedarf es grenzenlosen Mutes und Willens.

Niemand kann behaupten, dass er dem standhalten könnte. Das war allerdings den Widerstandskämpfern jener Zeit noch nicht bewusst, und für sie war der, der unter Folter sprach, ein Verräter. Im Gegensatz dazu waren jene, die es wussten, selbst Folterer. Sie hatten sich tagtäglich darin geübt und gelernt, sehr rasch die Widerstandsfähigkeit dessen einzuschätzen, den sie zum Reden bringen wollten. Allerdings überschätzten sie sich, indem sie meinten, dass alle unter ihren Händen sprechen würden. Trotzdem ist es wahr, dass es dem Schah-Regime gelang, eine große Zahl von Widerständlern zu eliminieren, indem sie verhaftet und getötet wurden. Sobald ein Aufstand unter Kontrolle war, verringerte das Regime die Wucht seiner Mittel. Dann erlaubte man es sich, bei der Behandlung der Gefangenen Unterschiede zu machen. Sie wurden nach ihrer jeweiligen Bedeutung aussortiert, und die Vorgangsweise bei der Folter „individualisiert“. Bis zur nächsten Revolte.

Lena wartete darauf, dass man sie holen würde. Sie konnte nicht mehr weggehen.

(„Warum habe ich ihnen gefolgt? Kein einziger von ihnen ist bis jetzt im Gefängnis gewesen! Keiner wurde gefoltert... Sie hatten keine Ahnung davon, was es bedeutete, Mutter zu sein. Wieso habe ich daran nicht gedacht? Bin ich verrückt, dass ich meine neugeborene Hiwa mitgenommen habe? Niemand konnte hierher kommen, um sie wegzuholen. Und, warum sollten sie kommen? Um selbst verhaftet zu werden? Die Kleine ist dazu verdammt, bei mir zu bleiben, und sie können das Kind als Instrument der Folter für mich verwenden. Mein Gott, warum habe ich Kinder geboren? Wie konnte ich einen so gewaltigen Fehler machen? Und was wird aus Mina ohne mich werden?“) Lena zitterte vor Reue.

Nach der Wanduhr hatte sie seit 40 Minuten gewartet. Alles schien bizarr. Sie hatte das Gefühl, schon viel länger hier gewesen zu sein. Zum ersten Mal in ihrem Leben nützte ihr die strenge Erziehung, die sie erhalten hatte: „Heul’ nicht! Behalte deine Meinung für dich. Sie interessiert niemanden! Zeig’ nicht, was du empfindest, man zeigt seinen Schmerz nicht, etc.“ Sie war nie liebevoll betreut, verwöhnt oder gehätschelt worden. Sie hatte sehr darunter gelitten, es als ungerechte Benachteiligung empfunden. Jetzt half es ihr. Als Kind hatte sie Entbehrungen erlitten, und seither begleitete sie eine Heidenangst vor körperlichem Schmerz. Sie bereitete sich darauf vor, gefoltert zu werden, und das Schwarze Loch vor ihr war erschreckend.

Damals hatte das Königreich eben gewisse Erfolge verzeichnet. Der Demokrat Mossadegh war 1953 neutralisiert, und die Organisation der Tudeh-Offiziere, die ein Teil der königlichen Armee gewesen war, 1956 zerschlagen worden. Für den König war das ein unerwarteter Gewinn. Ungefähr 650 hochrangige Offiziere und 1.500 Unteroffiziere waren hinter Gefängnismauern oder tot. Einigen war es gelungen, rechtzeitig zu entkommen, aber von jenen, die gefasst worden waren, überlebten nur einige wenige. Daraufhin hoffte der Herrscher, die Anführer der Tudeh-Partei sowie jene der Befreiungsbewegungen der Minderheiten ebenfalls eliminieren zu können, vor allem jene der Kurden. Kurzum, alle Freiheitskämpfer. Danach werde Ruhe herrschen. Das ist der Traum aller Despoten.

(„Was kann die Polizei wohl von uns wissen? Alles, was wir unternommen haben, ist in völliger Geheimhaltung geschehen. Wenn uns die Polizei aufgespürt hätte, wären wir schon alle hinter Schloss und Riegel. Aber, ihr wichtigstes Ziel, das ist Abdul Rahman! Er war immer unterwegs, und ich habe ständig meine Verstecke gewechselt. In diesem Labyrinth von permanent veränderten Orten konnten sie uns nicht finden. Und jetzt biete ich ihnen unverhofft eine Gelegenheit, indem ich selbst in die Höhle des Löwen komme! Dank dem Himmel, dass Abdul Rahman das Land verlassen hat.“) Lena war schwindelig.

Beide, Abdul Rahman und Lena, waren sich sicher, dass in ihrem Leben nichts anderes als der Weg des Kampfes für die Freiheit des kurdischen Volkes, für den sie sich entschieden hatten, mehr wert als jener sein konnte. Sie waren entschlossen, auf diesem Weg zu bleiben. Sie wollten die Welt verändern. Nichts weniger.

Und nun war sie in diese Falle geraten, wo sie sich nicht mehr als nützlich erweisen können würde.

Eine Hand legte sich auf Lenas Schulter und riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie stand auf und folgte dem Boten. Sie gingen durch endlose Korridore. Ihr Begleiter klopfte an eine sehr hohe Türe. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, dem er mitteilte:

„Hier ist die Dame, Sir“, dann trat er zurück, um Lena einzulassen.

Der Mann am Schreibtisch war mittleren Alters. Er ließ sie mit einer Handbewegung näherkommen. Es dauerte nicht lange, bis Lena begriff, vor wem sie stand. Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Sie klammerte sich an eine Ecke des Schreibtisches und drückte das Baby an ihre Brust. Ihr Gesprächspartner war kein anderer als Teymour Bachtiar. Das war nicht irgendein Chef: Es war der Oberkommandierende der königlichen Armeen, der Leiter der geheimen Staatspolizei SAVAK sowie des Spezialdienstes der Armee für die Verfolgung von Dissidenten, der politischen Polizei „Rokne-2“. Es war nicht seine Aufgabe, Pässe zu unterschreiben.

Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, durch den in ihr eine nie geheilte Wunde geblieben war, hatte sie als Siebenjährige mit „ihrer“ Pappel, ihrem Lieblingsbaum, einen Pakt geschlossen: Sie wollte niemals jemandem ein Unrecht antun. Heute, in der Präfektur, war sie im Begriff, ihren eigenen Kindern Unrecht zu tun. Aber es gab kein Zurück mehr.

Vielleicht ist das der Grund für dieses Buch.

Die Vergangenheit ist wichtig, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu bewältigen. Über das Geschehene zu schweigen, wie es manche empfehlen, um so die Leute sozusagen zu schonen, bedingt ein falsches Verständnis der Ereignisse. Die Vergangenheit auszublenden, ist ein Mangel an Mut. Das Leben ist niemals so einfach, wie man es sich als Kind vorstellt. Jenes von Lena war besonders kompliziert.

Vor dem Leiter der SAVAK gingen ihr Namen von Kameraden durch den Kopf, und sie fragte sich, welchen sie unter Druck als ersten verraten würde. Dabei vergaß sie völlig, dass sie weder die echten Namen noch Adressen kannte. Sie war vor Teymour Bachtiar gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange. Er sprach sie auf Persisch an. Sie schaute entgeistert. Sie musste dabei „ihre Rolle“ aus dem vorbereiteten Szenarium gar nicht „spielen“. Tief im Inneren musste sie sich anstrengen, um sich in Erinnerung zu rufen, was sie tun oder sagen sollte...

„I-don’t-speak-Persian“ (ich spreche nicht persisch). Sie hatte den Satz ausgesprochen, indem sie nach jedem Wort eine kleine Unterbrechung gemacht hatte.

Auf einmal fühlte sie sich besser. Sie hatte das Wichtigste nicht vergessen: nicht zuzugeben, dass sie diese Sprache konnte. Bachtiar seinerseits sprach wiederum nicht englisch. Er hatte als Fremdsprache Französisch gelernt, das Lena nicht beherrschte.

„Khanom, man midounam ke shoma farsi baladid.“ (Ich weiß, gnädige Frau, dass Sie persisch sprechen.)

Ohne mit der Wimper zu zucken, sah sie ihn weiter an. Trotzdem verunsicherte sie das, was er eben gesagt hatte. Wie konnte er wissen, dass sie persisch sprach? Sie durfte sich da nicht hineinziehen lassen und musste auf ihrem Feld weiter spielen und sehen, was herauskommen würde. Bachtiar blickte auf seine Hände und sagte leise: „Ba’ad ma’alum mishe“ (das werden wir später sehen).

Mit einer Handbewegung wies er sie auf eine Bank in einiger Entfernung von seinem Schreibtisch. Sie setzte sich und lächelte ihn an: „Thank you.“ Es war ein armseliger Versuch, die Unschuldige zu mimen. Was ihr Lächeln betraf, war dieses falsche Zeichen von Koketterie für ihn wirkungslos. Er war ein Monster.

Die Bank war hart. Aber sie befand sich neben dem Fenster im Schatten. Das, so sagte sie sich, schien sogar ein Vorteil für sie zu sein, weil Bachtiar von der Sonne geblendet würde. Aber das war ein Irrtum: Dunkle Augen werden nicht geblendet, und die seinen waren sehr dunkel.

Er läutete, und ein Bediensteter trat auf der Stelle ein.

„Bringen Sie diese Akten. Sofort.“ Und er gab ihm einen kleinen Zettel.

Ganz offensichtlich war er es gewohnt, Befehle zu erteilen, auch wenn dieser in freundlichem Ton gegeben worden war. Der Bedienstete kam mit zwei Aktenbündeln wieder: Eines war sehr dick, das andere schmal. Bachtiar öffnete das zweite, blätterte darin und wandte sich Lena zu.

«Ich lese hier schwarz auf weiß, dass Sie fließend persisch sprechen.“

Lena schaute durch ihn hindurch und gab keine Antwort. Er wartete einen Moment und fuhrt dann fort:

„Ich werde Sie ins Gefängnis werfen lassen, weil Sie sich dem kriminellen Widerstand Ihres Mannes angeschlossen haben.“

Sie sah den Mann an, der ihr Schicksal in seinen Händen hatte, entschuldigte sich wie eine höfliche, gute Schülerin, die ihre Hausaufgabe vergessen hatte:

„I do not understand you.“ (Ich verstehe Sie nicht.)

Sie fragte sich, was wohl über ihre Aktivitäten in dem zirka fünf Zentimeter dicken Aktenbündel enthalten sein konnte. Am liebsten hätte sie selbst darin nachgeschlagen. Das andere, dicke Bündel musste das über Abdul Rahman sein. Der Bürodiener wartete aufrecht vor der Türe.

„Rufe die Soldaten der Wache und sage dem Gefängnisdirektor, dass er für diese beiden eine Zelle vorbereiten soll.“ Dabei zeigte er mit dem Finger auf Lena und ihr Baby. („Ruhig. Bleib’ ruhig. Du darfst dich auf keinen Fall verraten.) Mit aller Kraft drückte sie ihren Rücken gegen die harte Lehne der Bank. Ihr Herz schlug zum Bersten, und alle ihre Organe schienen davon mitgerissen zu werden. Er darf meine Panik nicht bemerken!) Bachtiar ließ sie nicht aus den Augen. Um seinem Blick zu entgehen, neigte sie sich über die Kleine.

Es klopfte an der Tür. Versteinert vor Entsetzen sah sie zwei junge Männer in Soldatenuniform hereinkommen, jeder von ihnen trug ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett.

„Warten sie hier“, befahl Bachtiar. Sie stellten sich links und rechts von der Tür auf.

Zwei Wächter der Hölle, hübsch, gesund, und sie sahen so unschuldig aus. Im Zivilleben mochten sie nette Söhne und Brüder sein. Lena sah sie lange an und wandte ihren Blick dann fragend deren Chef zu. In dieser Lage zeigte sich die Schauspielerin in ihr. Sie war gerade 21 Jahre alt.

Bachtiar griff an: „Hören sie auf, Komödie zu spielen! Sagen sie mir, wo Ihr Mann ist, und ich lasse sie gehen.“

Eine Falle. Ihr Selbsterhaltungstrieb erwachte. Sie zeigte sich empört und begann sehr schnell, englisch zu sprechen und die mit den Kameraden vorbereitete Geschichte zu erzählen. Das war ein Versuch, das Schlimmste abzuwenden, und die Hoffnung auf eine wundersame Lösung. Sie wusste in jenem Augenblick noch nicht, dass sie diese gefunden hatte.

Bachtiar fasste das als ein Geständnis auf. Er öffnete die Türe, gab einen Befehl, und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz, ohne Lena aus den Augen zu lassen. Sie sah diesen so gefürchteten Mann dabei zum ersten Mal aufrecht, seit sie eingetreten war. Er war groß und schlank. Er betonte seine Schritte und blieb geschmeidig. Ein wahrer, apokalyptischer Reiter. Sie fühlte eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe, die noch ohne Gesicht war.

Sie hatte weitergeredet, immer auf Englisch. Wenn sie heftige Emotionen empfand, sprach sie ohne zu stocken, und das sogar in Sprachen, die sie nicht gut konnte. Die Worte kamen ohne Anstrengung. Es war ihr selbst unerklärlich.

Bachtiar beobachtete sie neuerlich ganz ruhig. Er wartete allem Anschein nach auf irgendetwas. Lena hatte das Gefühl, in eine Art Trance zu verfallen, durch die sie in den Kopf ihres Gesprächspartners eindringen und damit besser erkennen konnte, wo der rettende Ausweg war.

Man kann einwenden, dass es Jahrzehnte später unmöglich ist, dieselben Gefühle, denselben Zustand von Körper und Geist wieder aufleben zu lassen. Dennoch. Es verschwinden nur die damals verwendeten, exakten Ausdrücke. Aber alles, was geschah, bleibt klar und lebhaft. Das Entsetzen blieb in Lenas Erinnerung eingemeißelt wie in Granit, das Gefühl, durch die Furcht gelähmt zu sein und trotzdem nicht ihre Wahrnehmungsfähigkeit und den Selbsterhaltungstrieb zu verlieren. Es war wie ein schizophrener Zustand.

Sind überhaupt Begriffe wie „Angst“ oder sogar „Entsetzen“ passend, wenn die Empfindung so weit weg von normaler „Angst“ ist? Man müsste eine andere Bezeichnung finden, um jenen psychischen Zustand zu beschreiben, der einen schließlich erstarren lässt.

Wovor hatte Lena Angst? Sie stellte sich vor, dass man ihr Hiwa wegnehmen würde, um sie zum Reden zu bringen. Dann würde Mina drankommen, um ihnen die Möglichkeit zu einer neuen Erpressung zu geben. Sie hatte auch Angst vor dem physischen Schmerz, vor dem Verraten, vor dem Unbekannten... Nach und nach verschmolzen diese vielfachen Ängste, die ihrer Konzentration schadeten und sie schwächten, ineinander, und sie empfand eine unbestimmte Heiterkeit. Sie hörte auf, gegen eine wilde Meeresbrandung zu kämpfen, und es schien, dass sie in der Tiefe des Gewässers angekommen sein, wo scheinbare Ruhe herrscht. Lena hatte aufgehört, ihre Kräfte gegen das Unüberwindliche zu verschwenden. Man muss sich nicht an einzelne Augenblicke erinnern. Sie bleiben eingraviert wie ein Relief in Stein, ein wenig erodiert durch die Zeit, wie etwa der Löwe von Babylon und der zwischen dessen mächtigen Pfoten liegende Mensch nach 3.000 Jahren nicht verschwunden sind.

Lena fühlte sich im Büro von Teymour Bachtiar grenzenlos verlassen. In ihrem Innersten hatte sie mit den Kameraden, die ihr Leben und das ihres Neugeborenen in Gefahr gebracht hatten, Frieden geschlossen. Es hatte keinen Sinn mehr, an diese zu denken. Ebenso hatte sie den Kampf in ihrem Inneren beendet: Es gab keine Zeit mehr, sich selbst zu beschimpfen, sich wegen ihrer Naivität, Unwissenheit und ihres Leichtsinns Asche auf das Haupt zu streuen. Erschöpft wie sie war, wollte sie nur noch schlafen, alles vergessen, aufhören zu existieren. Das Gefühl, nicht mehr Teil dieser Welt zu sein, überflutete sie.

Der Retter

Die Türe ging schließlich auf. Ein hochrangiger Offizier trat ein. Er wirkte sympathisch, groß und robust. Lena erfuhr seinen Namen nie und sah ihn nach jenem Tag auch nie mehr wieder.

Er rettete ihnen das Leben.

Lena war bereit – nein, das ist nicht der passende Ausdruck. Bereit zu sein, bedeutet, dass man weiß, worauf man sich einstellen muss. Lena hingegen hatte nur eine auf Erzählungen anderer über das Schicksal gefasster Revolutionäre beruhende, vage Vorstellung von dem, was hier vorging. Sie war nur ein Irgendjemand, der aus dem Ausland gekommen war. Betroffen vom Unrecht, das anderen geschah, hatte sie sich diesen angeschlossen, um als Sympathisantin zu helfen.

Nun war sie für die Polizei unerwarteter Weise zu einem Instrument geworden, durch das diese hoffte, das Netzwerk der kurdischen Bewegung zerschlagen zu können. Sie wusste, dass diese Bemühungen vergeblich sein würden, weil die Polizei Informationen von ihr erhalten wollte, über die sie selbst nicht verfügte. Über ihr Baby gebeugt, horchte sie aufmerksam zu, was Bachtiar und der Offizier besprachen.

Bachtiar setzte den Offizier über den Inhalt der Dossiers in Kenntnis und gab sich überzeugt, dass sie keineswegs so unschuldig war, wie sie vorgab. Er sagte weiter, dass sie behauptete, nur englisch zu sprechen. Daher solle der Offizier als Übersetzer dienen.

„Ich höre, Sie sprechen nur englisch?“ Der Offizier wirkte neutral und sah sie an.

„Ja, Sir.“

Sie hatte beschlossen, nur einsilbig zu antworten, und hoffte, auf diese Weise mehr herauszubekommen.

„Herr Abdul Rahman Ghassemlou ist ihr Ehemann?“

„Ja, Herr.“

„Wissen sie, dass er gesucht wird?“

„Nein, Herr.“

„Wir würden ihm gerne ein paar Fragen stellen. Dann kann er gehen. Können sie uns sagen, wo wir ihn treffen könnten?“

„Nein, Herr.“

„Warum nicht?“

„Weil ich selbst nicht weiß, wo er ist.“

„Gnädigste, sie sind seine Frau und sie leben mit ihm, nicht wahr?“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, drehte sich der Offizier zu Bachtiar um und übersetzte ihm, was eben gesagt worden war. Die Augen des Polizeichefs begannen zu funkeln: Das war nicht, was er erwartete.

„Sag’ ihr, dass sie so lange im Gefängnis bleiben wird, bis sie uns angibt, wo sich ihr Mann und seine Bande verstecken.“

Die Worte klangen im Zimmer nach wie ein Zischen. Bachtiar deutete auf die beiden Wächter an jeder Seite der Türe und sagte: „Sie warten!“

Lena hielt den Blick gesenkt. Der Übersetzer wiederholte das Gesagte auf Englisch. Sie stand auf, streckte dem Offizier das Baby entgegen und sprach plötzlich sehr schnell:

„Dann müssen wir für immer im Gefängnis bleiben, denn ich kann nicht sagen, wo sie sind. Ich weiß es selbst nicht.“

Das war wirklich keine Schauspielerei. Was sie sagte, war die Wahrheit.

„Da ich nicht weiß, wo er ist, lassen sie uns gehen, mich und meine Kinder. Ich bin für sie keine Gefahr. Sie sollten auch wissen, dass der Botschafter der Tschechoslowakei für uns die Visa vorbereitet, über meinen Besuch hier auf dem Laufenden ist und auch über den Grund, weshalb ich hier bin. Schauen sie mein Baby an (sie ging auf den Offizier zu). Es ist eine Frühgeburt, und auch ich selbst bin nicht bei guter Gesundheit. Wenn sie uns ins Gefängnis stecken, werden wir nach nicht allzu langer Zeit sterben!“

Beim Reden war ihr der Atem ausgegangen und sie verlor das Gleichgewicht. Sie wich nun zurück und setzte sich wieder. Das war unerwartet gewesen, und es war erfolgreich.

Die Kleine, die bis dahin ruhig gewesen war, begann sich zu bewegen. Lena wandte sich wieder den beiden Männern zu und erklärte mit der Unverfrorenheit einer Mutter, die ihr Kind schützt:

„Ich muss den Säugling stillen. Bitte, drehen sie sich um.“

Sie stellte sich aufrecht vor die Beiden und fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Der Übersetzer hatte rasch mitgeteilt, was sie verlangte. Bachtiar stand auf, warf wütend seinen Bleistift weg, und beide gingen auf die Türe mit den Wächtern zu.

Das Kind trank, und Lena passte auf, was hinter ihr gesagt wurde.

Der Offizier betonte, es sei schwierig zu beurteilen, wie weit sie die Wahrheit angegeben hatte. Aber eines sei sicher, ihre Inhaftierung oder ihr Tod würden einen internationalen Skandal auslösen.

Was für ein Offizier war das? Lena war zudem erstaunt, dass Bachtiar dessen Argumentation nicht als Nonsens zurückgewiesen hatte. Sie stufte diesen Offizier als einen der getarnten Kommunisten ein und bewunderte dessen Mut. Aber innerlich hatte sie noch nicht die Kraft, auf einen glücklichen Ausgang zu hoffen. Sie kannte die internationale Konvention nicht, die das Verbot der Inhaftierung von Schwangeren oder von stillenden Müttern mit Säuglingen vorschreibt.

Bachtiar gab zurück, dass man keinen Skandal riskiere, da sie iranische Staatsbürgerin sei.

„Ja, sicher“, hielt der Offizier dagegen, „aber sie ist europäischer Herkunft, und die tschechoslowakische Botschaft weiß, dass sie hier ist!“

Jetzt befahl Bachtiar den zwei Wachen an der Türe, draußen zu warten. Der Offizier begann zu erläutern, dass er die Reaktion seiner Majestät fürchte, wenn trotz allem ein Skandal entstünde.

„Du weißt, dass du bei seiner Majestät nicht in besonderer Gunst stehst, Teymour!“

Sie duzten einander. Selbst, wenn sie große Freunde waren, bedurfte es doch gewissen Mutes, den Chef der Polizei an dessen Differenzen mit dem Schah zu erinnern, dem Oberkommandierenden aller Streitkräfte. Der Offizier äußerte die Idee, dass es viel leichter wäre, auf Abdul Rahman und die übrigen zu stoßen, wenn man die Mutter und das Kind daheim unter Hausarrest stellte; freilich käme es nicht Frage, dass sie das Staatsgebiet verlasse, und man müsse daher sehr wachsam sein.

Die eben noch aussichtslos gewesene Lage schien sich zu bessern.

Das Baby war satt, Lena knöpfte ihr Hemd zu, setzte sich ruhig auf die Bank und betrachtete den Schreibtisch ihr gegenüber. Sie durfte kein Interesse an der Konversation nahe an der Türe zeigen. Die Furcht, die sie zur mit einem Gehirn ausgestatteten Statue hatte erstarren lassen, wollte wiederkommen.

„Sag’ ihr“, befahl Bachtiar dem Übersetzer in barschem Ton, „dass sie ihren Pass nicht bekommen wird, so lange ihr Mann sich nicht stellt, und dass sie unter Hausarrest bleiben muss. Jetzt schick’ sie ins Büro, damit die Verwaltungsangelegenheiten geregelt werden.“

Sie war nicht fähig, auf das, was sie eben gehört hatte, richtig zu reagieren. Statuen sind eben nicht geistesgegenwärtig. Der Offizier übersetzte ihr, was gesagt worden war, und ging weg. Erst, als er fort war, fiel ihr ein, dass sie gegen das Verbot, den Iran zu verlassen, protestieren hätte müssen. Jetzt drückte sie, auf Englisch, ihre Empörung gegenüber Bachtiar aus und hoffte, er würde den Sinn ihrer Äußerung verstehen. Er aber stand nur auf, führte sie an die Tür und rief die beiden Wachen:

„Bringen sie die Dame zu Sarhang (Oberst) Zibaïe.“

Aug’ in Aug’ mit dem Folter-Chef

Wenn eines Tages ein Iraner diese Zeilen lesen sollte, der jene Epoche kannte, wird er verstehen, warum Lena die Knie wieder zu zittern begannen und warum das Entsetzen wiederkam. Sein Name, Sarhang (Oberst) Zibaïe, wurde von der Bevölkerung nur mit Angst im Bauch ausgesprochen. Es war er, der entschied, welcher Gefangene wann und wie gefoltert werden sollte. Manchmal übernahm er diese Aufgabe selbst. Alle wussten, dass nur die Stärksten seine Foltermethoden überleben konnten, und selbst von diesen nicht alle.

Vor und hinter Lena ging jeweils ein Wächter mit aufgepflanztem Bajonett. Bis heute kann sie nicht vergessen, was sich in ihrem Kopf und in ihrem Inneren abspielte (das alles sei nur ein Spiel gewesen, und Bachtiar habe den Offizier und Übersetzer angelogen). Ihre Vernunft setzte aus, die mentale Qual überkam sie wieder. Es kam ihr in den Sinn, dass ihr Körper die Folter nicht lange durchstehen würde und dass sie daher nur kurze Zeit durchhalten müssen werde.

Irgendeine Tür. Was für ein Unterschied zu jener bei Bachtiar! (Führt diese Tür nicht geradewegs in den Keller?) Der Mann saß in einem kleinen, düsteren Zimmer. Eine Lampe auf seinem Schreibtisch leuchtete, und dahinter war ein sonderbares Wesen.

Ein Dossier wurde ihm gereicht. Er sah hinein, stand auf und schickte die zwei Wächter weg. Er wirkte verwirrt und außerstande, seinen Zorn zu beherrschen. Er gebot ihr nicht, sich zu setzen, und blieb auch selbst stehen.

Es war ein kleiner Mann. Sein Eierschädel wirkte, als klebe er an den Schultern: Er hatte keinen Hals. Auch sein Körper hatte die Form eines dicken Eis. Lena erinnert sich nicht mehr, ob er eine Glatze hatte oder nicht, vielleicht wegen dieses zornroten Gesichts. Er fing mit einer Frage voller Ironie an:

„Was haben Sie getan, um den Chef so weit zu verhexen, das er sie nach Hause gehen lassen will?!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er immer lauter zu toben. Seine Gesichtsfarbe wechselte von purpurn zu violett. Er duldete keine solche Erlaubnis. Zwischen den Sätzen beschimpfte er sie auf derart vulgäre Weise, dass sie tatsächlich nicht all diese Worte verstand. Noch nie hatte sie ein so ordinäres Vokabular und so viele Obszönitäten gehört (wird er mich gegen die Anweisung seines Chefs doch einsperren lassen?).

Während sie darauf wartete, dass er zum Atemholen eine Pause machen würde, zwang sie sich, sein Fluchen nicht zu hören. Aber sie konnte es nicht vermeiden zu sehen, wie sie dieses wild an der Uniform zerrende, herumfuchtelnde, aufgeblasene „Ei“ mit geballten Fäusten von hinter dem Schreibtisch bedrohte. Lena stand die ganze Zeit aufrecht an der gegenüberliegenden Seite des Tisches.

Es war eine Mischung aus stummem Spiel und Gebrüll – in einer Welt jenseits von Zeit und Raum. Das kleine Gesicht vor ihr musste weder ein- noch ausatmen und war unwirklich. Das war ein für lächerliche Gestik geschulter Hampelmann, der Furcht auslösen sollte. Die verdatterte Lena vergaß die reale Situation, in der sie sich befand (das ist ein böser Traum, und er wird aufhören, wenn ich aufwache).

Der aufgezogene Hampelmann stand plötzlich still. Zibaïe schwieg, und die Augen quollen ihm aus dem Gesicht. Eine tiefe Stille herrschte auf einmal im Zimmer. Lenas Benommenheit schwand, und schnell sprudelte sie die stets bereite Phrase auf Englisch hervor:

„Ich verstehe sie nicht.“

In Verlegenheit gebracht, setzte er sich nieder. Das Ei schwoll ab. Dann rief er die Wachen. Die Tür öffnete sich, und ein Kopf tauchte auf.

„Bali, qorban!“ („Zu Befehl, Herr!“)

Zibaïe ließ den Übersetzter holen.

Lena betrachtete diesen still gewordenen Brüllaffen und fühlte sich niedergeschlagen. Auf einmal wurde ihr das Baby zu schwer. Sie hätte es gerne irgendwo hingelegt. Sie musste sich aufrichten, ihre Beine und den Rücken entspannen. Sie hatte nicht den Mut, es zu sagen. Zibaïe hatte wieder begonnen, in den Akten zu blättern und schimpfte von Zeit zu Zeit. Lena machte sich unsichtbar, sie wollte vor allem das Ei nicht provozieren.

Erstaunlicherweise war die Kleine während all dessen ruhig geblieben. War ihr Gehör vielleicht nicht ausreichend entwickelt? Oder fühlte sie sich in den Armen ihrer Mutter in Sicherheit?

In Lenas neuem Heimatland gab es junge Mädchen und Frauen, die von Freiheit und Gleichheit träumten und sich dem Widerstand angeschlossen hatten. Sie riskierten Gefängnis, Folter und Tod mit enormem Mut. Unter der Folter wurde ihnen nichts erspart, im Gegenteil. Man fügte ihnen noch unerträglichere Qualen zu als den Männern, indem man sie vergewaltigte. Über den Horror der Vergewaltigung selbst hinaus raubte man ihnen damit ihre Ehre, die für die Frauen im Orient so wichtig ist.

Lena bewunderte den Mut dieser Frauen. Und sie fühlte sich ihnen in dieser Situation, einem der schlimmsten Folterer gegenüber, noch näher.

Eine Ewigkeit war vergangen, bis der Übersetzer kam. Es war der selbe, und er warf ihr kaum einen Blick zu. Er spielte seine Rolle gut. Zibaïe hatte den Gruß nicht erwidert und begann in drohendem Ton auf ihn einzureden, während er mit dem Finger auf Lena zeigte:

„Sagen sie ihr, dass wir sie nicht gehen lassen, bevor sie uns nicht sagt, wo sich ihr Mann versteckt!“

Trocken antwortete der Übersetzer:

„Seine Exzellenz Teymour Bachtiar meint, es ist besser, wenn diese Dame nach Hause geht und sich regelmäßig bei uns meldet. Sie soll uns ihre Adresse geben, damit wir sie überwachen können. Sie sollen das übliche Formular dafür ausfüllen.“

Zibaïe sah ihn respektvoll an, aber er gab nicht auf.

„Und wenn sie abhaut? Wenn sie in der freien Natur verschwindet?“

„Gehorchen Sie dem Wunsch Seiner Exzellenz. Exzellenz weiß, was sie tut“, sagte der Offizier ganz ruhig. Zibaïe unterwarf sich folgsam.

„Also, dann sagen sie ihr, dass sie sich jeden Morgen um neun Uhr bei mir einzufinden hat.“

Die Anwesenheit des Übersetzers hatte Lena wieder Mut fassen lassen. Sie brauchte Zeit, um zu verschwinden, vorzugsweise noch in derselben Nacht. Sie fragte sich, ob ihr das möglich sein würde.

„Bitte, sagen sie diesem Bediensteten, dass ich mit zwei Kindern alleine bin, dass wir sehr weit von hier wohnen, dass ich eben eine Geburt hatte und noch sehr müde bin. Außerdem ist es mir nicht möglich, jeden Tag hierher zu kommen. Ich kann mir das nicht leisten, ich habe kein Geld.“

„Wie oft könnten Sie mit Rücksicht auf ihre Mittel pro Woche kommen?“

Er hatte die Frage in strengem Ton gestellt.

„Nicht mehr als einmal“, wagte sie zu sagen.

Zibaïe war außer sich.

„Jetzt ist sie auch noch frech! Sie wird kommen, wie ich es gesagt habe, jeden Tag um neun Uhr. Das soll sie machen, wie sie kann!“

Der Offizier übersetzte alles bis auf das Frechsein. Aber Lena beharrte auf ihrer Aussage und am Ende gelang es ihr zu erreichen, dass sie nur montags und donnerstags um zehn Uhr kommen müsse. An diesem Tag war Montag. Sie würde somit zwei ganze Tage haben, um verschwinden zu können.

„Wer wird sie begleiten und die Hausdurchsuchung machen?“, fragte Zibaïe.

„Das ist schon geregelt. Kümmern sie sich nicht darum.“

Eilig forderte der Offizier Lena auf, ihm zu folgen.

Er hatte gerade sie und die Kleine vor dem Gefängnis bewahrt. Sie konnte es kaum glauben. Und was, wenn das eine Falle war?

Heimkehr von der Präfektur und wieder ein neues Versteck

In Begleitung eines jungen Offiziers verließ sie das Gebäude der Präfektur. Die Nacht brach herein.

Sie saß zwischen dem Fahrer des Jeeps und dem Offizier und erklärte letzterem den Weg, der für den Chauffeur übersetzte.

„Unser Haus steht in der nächsten Straße rechts“, sagte sie. Der Offizier teilte dem Fahrer sofort mit, dass er den Jeep anhalten, sich nicht entfernen, sondern hier warten sollte. Der Offizier und sie gingen zu Fuß weiter.

Sie schlug mit dem Türklopfer ans Tor. Die Straße war leer. Eine schwarze Katze setzte zum Sprung von der Mauer an, überlegte es sich aber anders. Aus etwas größerer Entfernung beobachtete sie ein Hund. In der Mitte der geraden Straße war die Rinne leer, die jeweils am Morgen das Wasser für die Stadt aufnahm. Es war üblich, dass die Bewohner jeden Tag vor ihren Häusern kehrten. Die staubige Straße war sauber. Die zahlreich im Boden verteilten Steine, über die man stolperte, waren ganz real.

Die älteste Tochter der Hausbesitzerin öffnete. Frau Suleika war gerade dabei, ihrem Sohn dabei zu helfen, die leblos wirkende Mina aus dem Wasserbecken zu zerren. Es war ein schmutziges und schlammiges Becken, das ständig von einem grünen Film bedeckt war, wie er sich auf stehendem Wasser bildet. Jetzt war das Wasser braun, weil es aufgewirbelt worden war. Lena vergaß die Anwesenheit des Offiziers, reichte der Tochter Suleikas ihr Baby und stürzte zu Mina hin, die kein Lebenszeichen gab. Frau Suleika schrie, dass sie ihr befohlen hatte, nicht in die Nähe des Wasserbeckens zu gehen. Lena versuchte, Mina zum Erbrechen zu bringen und holte sie so ins Leben zurück. Es war um wenige Sekunden gegangen. Lena hielt ihre Tochter fest in den Armen und hatte die Augen voller Tränen. Sie verlor beinahe die Nerven.

Der Offizier stand nahe an der Tür und beobachtete die Szene. Lena erwartete, dass er mit der Hausdurchsuchung begänne. Suleikas normalerweise so turbulente Familie war still. Der junge Offizier fragte die Hausfrau, ob Lena hier wohnte. Sie bestätigte es mit einem einfachen Nicken. Darauf wandte er sich an Lena, verabschiedete sich mit militärischem Gruß und ging schweigend weg.

Das Wunder dauerte an. Nun lag es an ihr, es bis zum Ende zu nützen. Tatsächlich war bis dahin nichts Tragisches passiert. Ein einziger Tag mit entsetzlicher Angst, aber nicht mehr.

Lena fragte sich, was der junge Offizier seinen Vorgesetzten wohl über die „Hausdurchsuchung“ erzählen würde und auch, warum er den Fahrer in einiger Entfernung vom Haus zurückgelassen hatte.

Sie richtete für Mina ein warmes Bad und kümmerte sich dann um Hiwa. Sie gab ihnen zu essen, und die Kinder schliefen sofort ein. Sie selbst nahm eine Dusche und hängte dann, wie vereinbart, das kleine, rosa Kleid Minas ans Fenster. Saddiq würde beim Passieren der Straße erkennen, dass der Boden heiß war.

Nun war es still im ganzen Haus. Die Nachricht vom Besuch des Offiziers musste sich bereits in der gesamten Nachbarschaft herumgesprochen haben. (Bachtiar kann seine Meinung geändert haben. Er wird seine Männer überall hin als Wachposten verteilen. Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden, sagte sie sich. Aber der junge Offizier war hier erst nach Dienstschluss weggegangen. Er werde also seine Meldung erst am folgenden Morgen machen. Jetzt heißt es, rasch zu handeln.)

Sie tauschte das kleine rosa Kleid am Fenster gegen ein weißes. Das war das Zeichen, dass es keine Gefahr mehr gebe. Saddiq sollte so schnell wie möglich kommen.

Jemand klopfte sanft an der Tür. Es war der Hausinhaber. Sie wollte sich ruhig und lächelnd zeigen, aber ihr Gesicht war angespannt. Ihr war klar, warum er zu so später Stunde kam. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Sie hätte ihm gerne geholfen, fand aber nicht die richtigen Worte.

„Gnädige Frau, sie müssen das Haus verlassen“, teilte er ihr schließlich mit.

Mit einer Kopfbewegung zeigte sie ihm, dass sie es wusste.

„Sie dürfen mir nicht böse sein“, fügte er hinzu, „ich habe fünf Kinder zu ernähren“.

Sie hinderte ihn fortzufahren: „Entschuldigen sie sich nicht. Ich bin es, die sich bei ihnen entschuldigen muss. Wir werden so schnell wie möglich ausziehen.“ Er erwähnte die Miete, die sie ihm schuldete, nicht.

Mechanisch packte sie den kleinen Koffer und wartete auf Saddiq. Er kam nach Mitternacht. In aller Eile informierte sie ihn über ihren Tag. Jeder von ihnen nahm eines der schlafenden Kinder auf den Arm, und sie gingen die Stiegen hinunter. In der Stille der Nacht murmelte Lena dem im Wohnzimmer sitzenden Hausherren ein Lebewohl zu und ergänzte, dass er über alles verfügen könnte, was in der Wohnung verblieben war.

„Gott möge euch schützen, inschallah!“

Draußen war keine Menschenseele. An jeder Straßenecke blieben sie stehen und drückten sich an die Wand, um zu horchen. Dann schob Saddiq den Kopf etwas vor, um zu überprüfen, dass niemand da sei, und sie schlichen weiter. Es gab keine Straßenlampen. Die Straße wurde nur vom Mond und den Sternen erhellt. Sie marschierten wie in einem Gemälde in Schwarz und Silber, ohne Perspektive.

„Wohin gehen wir?“

„Zu uns. Aber wir dürfen meine Mutter nicht aufwecken. Ich komme euch vor der Morgendämmerung holen.“

„Glaubst du, du kannst für uns für die Nacht ein Versteck finden?“

„Es muss wohl sein.“

In der Nacht war Teheran eine tote Stadt. Sie gehörte den Katzen und den Hunden. Die Stille hatte etwas Irreales.

Endlich waren sie im neuen Versteck angekommen, und Lena nahm aus dem kleinen Koffer das, was sie mitnehmen hatte können.

Im Laufe dieser Jahre und der fortwährenden Wechsel des Wohnorts hatte Lena nichts von dem gesehen, was Touristen besuchen. Die märchenhaften Namen von Schiraz, Isfahan oder Persepolis waren für sie hohle Begriffe. Sie kannte im Iran nur Wohnungen, Höfe und die angrenzenden Straßen sowie einige, kleine Verkaufsläden. Die Menschen, mit denen sie zusammenkam, waren alle Gegner des Regimes. Sie lebte in einer eingeengten Welt, in der die Wirklichkeit des normalen Lebens platt und unnatürlich schien.

Die „Alphabetisierung“ Lenas

Saddiq und Haschim hatten die Aufgabe, während der Abwesenheiten Abdul Rahmans auf Lena und die Kinder aufzupassen. Es war nun auch an ihnen, die Mittel zu finden, damit sie nach Europa zurückkehren konnten. Aber alle Pläne mussten nach der Vorsprache Lenas in der Präfektur geändert werden.

Haschim, ein Perser, war Mitglied der Tudeh-Partei und unterrichtete in einer Volksschule.

Saddiq war Kurde, Mitglied der DKPI, und Professor an einem Gymnasium. Er war außerdem Dichter.

Lena verließ die Wohnung zu Mittag, um einzukaufen, um eine Zeit, zu der die Leute beim Essen und die Geschäfte leer waren. Sie hatte gelernt, den Tschador mit der Geschicklichkeit der persischen Frauen zu tragen. Sie schätzte diese kurzen Ausgänge sehr, diese Augenblicke, die dem Körper ein wenig Bewegung brachten und die Gelegenheit boten, sich ganz normal mit den Verkäufern etwas zu unterhalten. Sie, die ein so starkes Bewegungsbedürfnis hatte, war in ihre vier Wände gesperrt, und all ihre Tätigkeiten waren in Innenräumen zu verrichten.

Im Gefolge des Besuchs auf der Präfektur war sie ängstlich geworden; sie schlief schlecht und hatte Alpträume. Die Bücher in tschechischer oder in englischer Sprache, die sie besessen hatten, waren irgendwo zurückgelassen worden; man kann nicht in aller Eile umziehen, und dabei Bücher mitnehmen. Aber das Lesen fehlte ihr sehr. Zum Ausgleich hätte es immer etwas auf Persisch zu lesen gegeben: Zeitschriften, Gedichte, Romane. Obwohl sie die gesprochene Sprache inzwischen gut beherrschte, konnte sie nicht persisch lesen. Noch dazu war ihr Vokabular das der Regimegegner. Sie kannte die normale Alltagssprache nicht und ebenso nicht jene der Kinder. Bis dahin war sie durch die Umstände zum Analphabetismus verurteilt gewesen. In dem Maße, in dem die Gefahr wuchs, musste sie außerdem das Tschechische vergessen und redete mit ihren Kindern nur noch persisch.

Sie hatte gehofft, dass Saddiq und Haschim, die ja beide Lehrer waren, ihr Stunden geben würden. Aber Saddiq war im Begriff, zu einer Mission aufzubrechen, und Haschim zeigte sich unter dem Vorwand abgeneigt, dass er kein Lehrbuch hatte. Sie schlug ihnen vor, jene Unterlagen zu verwenden, die sie auch in der Schule benützten. Auf diese Art erlernte sie binnen drei Monaten und mit unregelmäßigen Lektionen, weil der Lehrer nur kommen konnte, wenn er Zeit hatte, das, was Volksschüler in vier Jahren lernen. Als sie das Lehrbuch für die fünfte Schulstufe begonnen hatten, konnte Haschim sie nicht mehr zu besuchen, weil seine Schwester Dschalila auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Damit war die Alphabetisierung Lenas beendet.

Dschalilas schwere Verbrennungen und ihr langes Sterben

Ein Jahr vor dem Beginn dieses Unterrichts hatten Lena und Mina zwei Wochen zwar illegal, aber in Ruhe im ersten Stock des Hauses der Familie Haschims verbracht. Lena und Dschalila waren rasch Freundinnen geworden. Dschalila war auch im Widerstand aktiv.

Die Tragödie ereignete sich, während die Frauen das Abendessen zubereiteten. Lena hörte markerschütternde Schreie, die aus dem Erdgeschoß kamen. Sie stürzte die Stiegen hinunter und sah ihre Freundin, die Kleider in Flammen. Der alte Vater versuchte, ihr das Gewand vom Leib zu reißen, aber das Feuer loderte noch stärker. Lena warf eine Decke über Dschalila und konnte die Flammen ersticken. Die junge Frau stöhnte vor Schmerzen und schrie nach ihrer Mutter. Sie durchlitt ein Martyrium. Sie hatte die beiden Brenner des Petroleumherds angezündet und wollte den Herd verrücken. Der aber fiel dabei um, und die brennende Flüssigkeit ergoss sich über Dschalila.

Das Zimmer hatte sich binnen kürzester Zeit mit Nachbarn gefüllt, von denen jeder lauter als der andere schrie und alle unterschiedliche Ratschläge erteilten. Die Aufregung war enorm. Die Frauen schlugen sich an die Köpfe und verkrallten sich mit den Händen in ihren Gesichtern. Sie füllten das halbe Zimmer aus und machten einen Höllenlärm, der schon für einen Gesunden ohrenbetäubend gewesen wäre.

Lena hatte einen Erste Hilfe-Kurs besucht und wusste, was in einer solchen Situation zu tun war. Sie stellte sich zwischen ihre Freundin und die Nachbarn und forderte diese auf, nach Hause zu gehen.

„Du hast kein Recht, uns hinauszuwerfen. Das tut man nicht!“

Aber sie schob sie zur Tür, und sie mussten gehen.

Im Spital wurde festgesellt, dass Dschalila auf 80 Prozent ihrer Körperoberfläche Verbrennungen teilweise höchsten Grades erlitten hatte. Nur ihr Gesicht, ihr Kopf und der Brustkorb waren verschont geblieben.

Als Folge dieses schrecklichen Unfalls musste Lena dieses Haus verlassen, weil zu viele Leute sie gesehen hatten. Aus demselben Grund konnte sie auch Dschalila nur selten im Spital besuchen. Dabei schnürte es ihr das Herz zusammen, wenn sie die Freundin leiden und deren Kräfte schwinden sah, während die Ärzte machtlos waren. Die Familie hatte nicht das Geld, um Ölbäder zu bezahlen, die ihr das Leiden erleichtert hätten. Um für das Spital, die medizinische Betreuung und die Medikamente aufkommen zu können, hatte die Familie ihren Schmuck, die Teppiche und alles verkauft, das irgendeinen Wert hatte. Am Ende nahm sie sogar eine Hypothek auf ihr Haus auf.

Dschalila litt neun Monate lang, bevor sie starb. Die Eltern konnten nicht einmal mehr die Kosten für ein anständiges Begräbnis aufbringen.

In den Augen der Familie war Lena die Ursache für deren Fluch. Die Familie warf Lena vor, Dschalila nicht sterben gelassen zu haben. Weil sie diese hatte retten wollen, habe sie das Leiden und das Sterben verlängert sowie den Ruin der Familie verursacht. Trotz dieser Tragödie gab Haschim Lena noch für eine gewisse Zeit Stunden. Dann kam er nicht mehr. Als Saddiq zurückkehrte, fragte sie ihn nach Neuigkeiten von seinem Freund.

„Er ist nicht mehr gekommen, weil man ihm berichtet hatte, dass du von neuem aktiv von der Polizei gesucht wirst.“ Er musste zudem auf die Bedürfnisse seiner Familie Rücksicht nehmen, die er durch weitere Besuche bei Lena ebenfalls in Gefahr zu bringen riskierte.

Abdul Rahman zurück, aber Frau und Kinder nicht in Europa

Abdul Rahman hatte gehofft, dass seine Frau und seine Kinder bei seiner Rückkehr den Iran verlassen haben würden. Stattdessen fand er sie in Teheran untergetaucht. So konnte er seine zweite Tochter, Hiwa, kennen lernen. Die Ausreise war zu einem Problem geworden, und alle hofften, dass er es lösen können werde. Die Jagd auf Oppositionelle war wieder aufgenommen worden und hatte sich noch intensiviert. Zusätzlich zwangen die Ereignisse auf der Präfektur Lena und ihre Familie, in noch weiter verschärfter Verborgenheit zu existieren.

Die Mitstreiter Abdul Rahmans

Die Tage der Inaktivität erlaubten es Lena, die Mitstreiter ihres Mannes genauer zu beobachten. Seit damals denkt sie oft daran. Viele von ihnen hatten Heldenmut bewiesen, über den niemand sprechen würde – außer ihr. Jeder hatte auf seine Weise gekämpft und harte Prüfungen erfahren.

Da war zum Beispiel Asis Jussefi. Er war ein lustiger und intelligenter Geselle, bei allen beliebt und furchtbar faul. Deshalb legte er sich etwa neben dem Rand des Soffreh (des auf den Boden gelegten „Tischtuchs“, auf das die Teller mit den Speisen gestellt werden) der Länge nach seitlich hin wie die alten Römer, statt sich wie alle anderen im Schneidersitz daneben niederzulassen. Wenn er Salz wollte, bat er, auch wenn es in seiner Reichweite stand, seinen Nachbarn, es ihm zu geben, damit er seine Position nicht ändern musste. Seine Bequemlichkeit war Gegenstand für Scherze, und Asis lachte in seiner fröhlichen Art mit den anderen darüber.

Einige Zeit nach den gemeinsamen Ferien in Ghassemlou war Asis verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und gefoltert worden. Er war subversiver Aktivitäten gegen den Schah-in-Schah sowie der Mitgliedschaft in der DPKI beschuldigt und zu 25 Jahren Haft verurteilt worden.

Im Gefängnis begann Asis, ein kluger und anständiger Mann, englisch zu lernen und übersetzte englischsprachige Autoren ins Persische; in den Haftanstalten des Schah hatten die Gefangenen Zugang zu Büchern und zur offiziellen Presse. Asis las viel. Vor seiner Verhaftung war er überzeugter Kommunist gewesen. Im Laufe der Jahre in der Haft bildete er sich eine andere Meinung. Als er entlassen wurde, hatte er dank seines Konsums von Lesestoff keine allzu großen Schwierigkeiten, die aufgrund der Jahre im Gefängnis entstandene Lücke zu überwinden.

Zwei Jahre vor seiner geplanten Freilassung hatte ihn Amnesty International zum „Gefangenen des Jahres“ gemacht und es damit geschafft, dass er ein Jahr früher entlassen wurde. Asis kam wieder mit Abdul Rahman zusammen. Er und Abdul Rahman waren schon lange Freunde gewesen und verstanden einander gut. Elf Monate, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war, versagte Asis’ Herz.

G., ein Freund von Asis, wurde zur selben Zeit festgenommen und machte das Gleiche durch. Er musste seine Strafe komplett verbüßen. Um sich dem aufgezwungenen Nichtstun zu entziehen, vielleicht auch aus Verzweiflung, flüchtete er sich in den Alkohol und ins Kartenspiel... Nach seiner Entlassung erwartete er sich für die im Gefängnis verbüßten Jahre eine gewisse Anerkennung von Seiten seiner Kameraden und strebte nach der Führungsposition in der Befreiungsbewegung der Kurden, die allerdings schon von Abdul Rahman besetzt war. Aus Verdruss distanzierte er sich und verließ die Partei. In der Überzeugung, ein Held zu sein, dem das gesamte, kurdische Volk folgte, gründete er gemeinsam mit anderen unzufriedenen Mitgliedern des Zentralkomitees seine eigene Partei. Aber das Schicksal war ihm nicht gewogen und er emigrierte – vor langer Zeit – nach Europa.

Da war dann noch Ahmad Taufiq, ein junger, intelligenter Dorfbewohner, dem es allerdings an Allgemeinbildung sowie auch an politischer Ausbildung mangelte. Durch die Umstände und durch Zufall kam er ins Umfeld der Leitung des Widerstands und wurde maßlos. Auch er war überzeugt, ein Anführer werden zu können (der Wunsch wurde ihm für eine kurze Periode erfüllt). Weil ihm jedoch die Fähigkeiten seiner Kollegen fehlten, begann er zu intrigieren und wechselte das Lager. Er gab den Widerstandskampf in der DPKI auf und schloss sich dem Lager Mustafa Barzanis an, des Chefs des Stammes der Barzan und der irakischen KDP (Kurdische Demokratische Partei). Wenige, politische Führungspersönlichkeiten schätzen ehrgeizige Kollaborateure, und der alte Barzani, der für die Seinen ein wahrer Held war, machte keine Ausnahme. Er durchschaute die Absichten Ahmads rasch. Jener wandte sich daraufhin an die Baath-Partei, also an das Regime Saddam Husseins. Abgesehen von seinen politischen Ambitionen war er auch profitgierig und fing an, Schafe und Ziegen weiterzuverkaufen. Die Verantwortlichen der Baath-Partei ließen ihn verhaften und wegen illegaler Wiederverkäufe verurteilen. Im Gefängnis wurde er ermordet. Von wem? Darauf gibt es unterschiedliche Antworten.

Hassan „tchawi kuere“ (der Einäugige) war ein netter, mutiger und fleißiger Mann. Er war auch einer von jenen elf Personen gewesen, die sich die Wohnung des Anhängers Zarathustras oberhalb des Gendarmeriepostens Nr. 1 geteilt hatten. Nachdem sie sich hatten trennen müssen, verschwand er. Es verbreitete sich eine Nachricht, wonach er bei einer militärischen Auseinandersetzung in den Bergen Kurdistans getötet worden sei. Viele Jahre später fand Lena mit Freude heraus, dass er völlig lebendig war – an einem Ort in Europa!

Parvis Hekmadschu war der einzige Nicht-Kurde in ihrer Gruppe. Er war Perser und hatte als Offizier in der königlichen Luftwaffe gedient. Lena hatte seine Familie schon kurz nach ihrer Ankunft im Iran kennen gelernt. Sie war bei seiner Hochzeit dabei gewesen, und, wenn Parvis ein Problem mit seiner Frau hatte, vertraute er sich Lena an. Sie hatte auch eine sehr gute Beziehung zu seiner Mutter. Parvis’ Schwester hatte Abdul Rahman in Teheran vor einer Verhaftung bewahrt. Viel später konnte Lena helfen, Parvis’ todkrankem Sohn das Leben zu retten: Auf Empfehlung der Tudeh-Partei hatten Vater und Kind Visa für die Reise nach Prag zur Behandlung und dort auch Unterkunft erhalten.

In der Illegalität in Teheran und später in Bagdad hatten sie unter dem selben Dach gelebt. Lena meinte, ihn gut zu kennen: Ein starker Esser, bequem und großsprecherisch. Ein wahrer Herkules. Sein Lachen ließ die Fensterscheiben vibrieren. Er lachte oft. Wenn er mit seiner lebhaften, metallischen Stimme flüsterte, hörte man es noch im Nebenzimmer. Außer dem Kommunismus war ihm nichts auf der Welt heilig. Er lachte über Henker und Folterer und versicherte jedem, der es hören wollte, dass er ihnen zu widerstehen wüsste, auch auf die Gefahr hin zu sterben. Für Lena war das Angeberei, weil niemand derartiges behaupten konnte. Wenn sie ihn mit seiner mächtigen Stimme die heldenhaften Phrasen verkünden hörte, bat sie den Himmel, dass er nie verhaftet und nie gefoltert werden möge, denn die Lautesten hielten im allgemeinen nicht durch. Eines Tages erwähnte sie das Thema. Er sah sie mit strengem Blick an und drückte, ohne zu zucken, seine Zigarette auf seinem Handrücken aus, um zu beweisen, dass er kein Angeber war. Das ganze Haus roch nach verbranntem Fleisch.

Er wurde verhaftet. Er hat niemanden verraten. Er ist unter der Folter gestorben.

Saddiq Andschiri, um den es schon gegangen ist, war ein Dichter. Als Professor der Geisteswissenschaften war er ein guter Literaturkenner, verehrte Sadeq Hedayat, einen berühmten, zeitgenössischen, persischen Autor, und Albert Camus. Er war ein ruhiger, stiller Mann ohne Überheblichkeit und sehr großzügig. Er hatte den Mut und die Tapferkeit der schweigsamen Weisen, war dabei äußerst sensibel und ertrug nur unter psychischen Leiden die Wahrheit über Stalin, die Enthüllungen über die Gulag-Strafarbeitslager und die Korruption der Mächtigen im sozialistisch-kommunistischen Bereich. Der Bericht Chruschtschows im Jahr 1956 beim 20. Kongress der KPdSU hatte ihn zutiefst erschüttert und in ihm Zweifel geweckt. Er sprach darüber sehr vorsichtig mit den Kameraden. Jene antworteten, dass man nicht die ganze Wahrheit kenne, und meinten, „wer ist das, dieser Chruschtschow? Auf jeden Fall ist es nicht möglich, dass ein Schurke allein imstande sei, die ganze Substanz einer Ideologie zu ruinieren.“ Seine Hoffnung auf eine humane Veränderung der Gesellschaft, für die er kämpfte, war in den Grundfesten erschüttert. Er hatte für die Geburt einer Gesellschaft gekämpft, durch die Kurdistan aus dem Elend und der Unterdrückung herausgeführt werden würde, und er hatte geglaubt, nur der Kommunismus könnte das zu Wege bringen.

Es war der Selbstschutz der Verratenen. Diese Enthüllungen hatten Verwirrung in die Köpfe der Leute gebracht, deren Glaube ganz einfach war. Dieses Gefühl, verraten worden zu sein, hatten nicht nur Menschen in Teheran oder in Kurdistan, die Linke in der ganzen Welt war verwirrt. Die Freiheitskämpfer dachten, es sei ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt worden, daher lehnten sie diese en bloc ab. Sie mussten ihren Kampf weiterführen. Wenn sie diese Wahrheit aber akzeptierten, riskierten sie es, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Indem sie sich weigerten, sie anzunehmen, verteidigten sie die Bühne, auf der ihr Kampf stattfand. Chruschtschow hatte diese Bühne zerstört und sie hatten keine andere.

Saddiq hatte verstanden. Nicht wissend, was er tun sollte, widmete er sich den kleinen, täglichen Aufgaben, die für den Freiheitskampf notwendig waren. Abdul Rahman hatte ihn auf eine Mission ins irakische Kurdistan entsandt, wo er mit Mustafa Barzani über eine potentielle Zusammenarbeit der beiden Parteien sprechen sollte. Im Gegensatz zu Abdul Rahman zweifelte Saddiq am Erfolg dieses Unternehmens. Aber als disziplinierter Kämpfer nahm er den Auftrag an. Er war ein fähiger Diplomat und kannte die Differenzen zwischen den beiden Kurdenführern gut. Außerdem hatte er die Gabe, seine Argumente geschickt zu präsentieren. Allerdings regte er sich leicht auf, was nicht sehr günstig für einen Diplomaten ist.

Die Diskussion zwischen Barzani und Saddiq war stürmisch. Barzani war gerne bereit, eine solche Zusammenarbeit zu akzeptieren, wenn dabei die KDP des Irak die entscheidende Stimme hätte. Für die iranische DPKI, die auf ihre Unabhängigkeit bedacht war, kam das nicht in Frage. Einzig eine Kooperation auf Basis von Gleichberechtigung wäre zulässig gewesen und keine Unterordnung einer Partei gegenüber der anderen.

Saddiq wurde im Zuge seiner Rückkehr ermordet und seine Leiche an der Grenze zwischen dem irakischen und dem iranischen Kurdistan aufgefunden. Weil es in dieser Gegend keinerlei polizeiliche Ermittlungen gab, wurde nie mit Sicherheit bekannt, wer dieses Verbrechen in Auftrag gegeben hatte.

Voller Energie und ideenreich, war Suleiman Moini in den 1960er Jahren Mitglied der kollektiven Führung der DPKI und in diesem Gremium eine der am meisten geschätzten Persönlichkeiten geworden. (Zu jener Zeit lebte Abdul Rahman, der 1973 Generalsekretär der DPKI werden sollte, in Prag, wo er an der Universität unterrichtete und an seiner Dissertation arbeitete.)

Die DPKI stand damals den bis an die Zähne bewaffneten Truppen des Schah im Kampf gegenüber und leistete 18 Monate lang von 1967 bis 1968 Widerstand. Fast alle Mitglieder der Parteiführung wurden massakriert. Die Partei war enthauptet.

Die von Kugeln durchsiebte Leiche Suleimans wurde an eine Leiter gehängt. Auf einem Schild, das an seinem Hals befestigt war, stand: „Suleiman Moini. So sterben Verräter.“ Schergen des Regimes transportierten den Toten von Dorf zu Dorf, um die Bevölkerung durch diesen Terror von jeglicher Opposition abzubringen.

Cousin Ismaïl war ein gescheiter, junger Mann voller Opferbereitschaft, der sich aus ganzem Herzen für die Partei engagierte. Es war er, der 1957 Lena und die Kinder auf der Flucht über die kurdischen Berge des Iran und dann des Irak bis nach Bagdad begleitete. Bei seiner Rückkehr nach Teheran wurde er aufgegriffen und kam ins Gefängnis... Nach seiner Entlassung nahm er den Vorschlag der Leitung der DPKI an, sein Studium abzuschließen und die Politik zu vergessen. Er wurde ein angesehener Ingenieur, heiratete, hatte Kinder, und starb mit 60 Jahren in seinem Bett.

Abo, ein Cousin Abdul Rahmans, übertraf ebenfalls viele seiner Kameraden durch seine Ehrlichkeit und den Einsatz für sein Volk. Auch sein Elan war beliebt. Er hatte 13 Jahre lang in den Gefängnissen des Schah gelitten. Als er herauskam, hatte er Probleme mit dem Gleichgewichtssinn und konnte nur noch unsicher gehen. Seine hohe Sensibilität ließ die erlittenen Wunden nicht mehr verheilen. Er ging in die Berge, um seine alten Kampfgefährten zu suchen. Schließlich wanderte er aus und lebte in Armut.

Es passiert, dass man nach Jahren der Freiheitsberaubung und der unmenschlichen Behandlung völlig aus der Bahn geworfen aus dem Gefängnis kommt. Der Wortschatz ist verändert, die Begriffe von früher haben nicht mehr den selben Inhalt, und diese Unterschiede sind Anlass für Missverständnisse. Das ist eine andere Art von Verzweiflung.

Die Gegner des Schah wussten, was ihnen bevorstand, wenn sie in die Hände von dessen Polizei, SAVAK, gerieten. Sie wussten, dass die Strafe ebenfalls maximal sein würde, wenn die Polizei ihnen ein Kapitalverbrechen zur Last legte. Dennoch war ihr Tod immer unerwartet, inakzeptabel und schmerzlich. Trotz allem wagten sie sich in die Höhle des Löwen, um die Geschichte des Staates ein wenig voranzubringen. Sie kannten die Gefahr, trugen ihr aber nicht Rechnung.

Das kurdische Volk hat Jahrhunderte des Kampfes und der Repression hinter sich, in denen es gesehen hat, wie seine Kinder verstümmelt, ermordet und massakriert wurden. Der Terror hat dieses Volk nicht gefügig gemacht. Es besitzt seinen Kampfesmut nach wie vor, der es weiterhin Widerstand leisten lässt, um seine Existenz und seine Kultur zu erhalten.