Kapitel 13 Zwischen Frankreich und dem Iran

Sommer 1978. Seit der Ausweisung aus Prag waren mehr als zwei Jahre vergangen. Schon bald, 1979, sollte die Monarchie im Iran nach mehr als 2.500 Jahren der Herrschaft verschwinden. Bei dem 1964 aus dem Iran in den Irak vertriebenen und von dort 1978 ins französische Exil geflüchteten Ayatollah Ruhollah Khomeini in Neauphle-le-Château herrschte offenes Haus. Im Garten der Villa warteten internationale Journalisten, Perser und andere Leute darauf, von dem „großen Retter“ empfangen zu werden. Das wollte auch Abdul Rahman.

Hingegen war Lena überzeugt, dass es nicht Sache einer Religion sei, sich in die Angelegenheiten eines Staats einzumischen. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass ein alter Geistlicher den Schah ablösen sollte, und die Iraner dies akzeptieren würden. Aber auch Perser mit anderen, politischen Ansichten hielten Khomeini für jenen Mann, der sie von der Diktatur des Schah befreien würde. Es stimmte, dass dieser erklärte hatte, es stehe nicht zur Diskussion, dass er die Macht übernähme. Trotzdem irritierte Lena all der Wirbel zugunsten Khomeinis.

Im Wissen um die Belesenheit ihres Mannes in politischen Fragen und trotz ihrer Vorbehalte fuhr sie ihn nach Neauphle-le-Château. Sie nahm an, dass er nicht so bald wiederkommen würde, und machte es sich im Auto gemütlich, um zu lesen. Schon kurz darauf kam Abdul Rahman völlig außer sich wieder. Als Khomeini seinen Namen gehört hatte, habe er ausgerufen:

„Wer hat ihn hereingelassen? Ich habe mit diesem Mann nichts zu besprechen!“ Abdul Rahman wurde hinausgeworfen.

„Fahren wir los!“ Während der gesamten Rückfahrt herrschte schlechte Stimmung, und Abdul Rahman sagte kein Wort mehr.

Seine Wutausbrüche waren selten und gingen normalerweise rasch vorbei. Eine Beleidigung konnte ihn nicht von einem Ziel abbringen, das er anstrebte. Ein paar Tage später bereitete er sich auf einen neuerlichen Besuch bei dem Ayatollah vor. Diesmal weigerte sich Lena, dabei den Chauffeur zu machen – es schien besser zu sein, wenn ihr Mann im Fall einer weiteren Niederlage alleine wäre. Tatsächlich war das Ergebnis nicht fruchtbarer als beim ersten Mal.

Abdul Rahman bricht in den Iran auf

Am 31. August 1978 verließ Abdul Rahman Paris. „Ich reise für einen Monat oder für immer ab“, hatte er Lena mitgeteilt. Dank des in Teheran herrschenden Chaos konnte er quasi legal dorthin kommen. Von Teheran ging es weiter in sein Geburtsland Kurdistan. Schon seit fünf Jahren stand er an der Spitze der DPKI, war in dieser Zeit aber nie mehr dort gewesen. Während der Abwesenheit des DPKI-Chefs hatte Dschalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), den Platz eingenommen. Er war dabei teils in Karadsch nahe Teheran, teils im iranischen oder auch im irakischen Kurdistan aktiv. Im Jahre 1978 war der Name Abdul Rahman Ghassemlou in Kurdistan wenig bekannt. Dennoch konnte dieser recht schnell die kurdischen Parteien des Iran und des Irak im „Tal der Parteien“ (dôla-ya hezbân) versammeln, damit sie ein gemeinsames Programm erstellten, demzufolge sie einander unterstützen, sich aber nicht in die Angelegenheiten der jeweils anderen einmischen sollten. Eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe konnte beginnen.

Die DPKI zählte in jenen Tagen nur einige hundert Mitglieder. Das sollte sich jedoch auf spektakuläre Weise ändern. Schon bald nach der Machtübernahme Khomeinis im Februar 1979 hatte die DPKI mehr als 50.000 Anhänger. Dazu müssen noch weitere Sympathisanten im Iran, im Irak und in der Türkei gezählt werden, die den Ideen der DPKI folgten.

Das Politbüro der DPKI bei Khomeini

Die Mitglieder des Politbüros hatten die Absicht, mit Khomeini einen Autonomiestatus für Kurdistan auszuhandeln. Khomeini empfing sie mit Abdul Rahman als deren Leiter. Hatten sie wirklich erwartet, dass Khomeini nun gastlicher, verständnisvoller und vernünftiger oder großzügiger sein würde als seinerzeit gegenüber Abdul Rahman in Neauphle-le-Château? Der Ayatollah ließ einen Schwall von Zitaten aus dem Koran auf sie niedergehen, wonach alle Menschen, ohne ethnische oder sonstige Ausnahme, Kinder Allahs wären. Somit stelle sich die Frage nicht, die Kurden von den Gesetzen des Koran auszunehmen. Zumal die DPKI schon damals eine hochangesehene, laizistische Partei war, war es nicht verwunderlich, dass sie den Alten wütend machten. Sie versuchten es ein weiteres Mal und erhielten dasselbe Resultat. Dieses Mal allerdings ließ Khomeini kurz nach ihrem Besuch die kurdischen Städte Sanandadsch und Naqadeh bombardieren. Alle Bemühungen der DPKI, den Krieg zu beenden, indem sie Khomeini zusicherten, es sei keine Rede von einer Abtrennung Kurdistans vom Iran (wie dies Abdul Rahman auch ständig im Radio und in den Zeitungen wiederholte), waren vergebens. Und dennoch forderte die Partei im Gegensatz zu Khomeinis Beschuldigungen für die Kurden nichts als elementare, soziale und kulturelle Rechte.

Die Wahlen zur Expertenversammlung (Madschlis-e Khebregan)

Anfang März begannen im ganzen Land die Wahlen zur Madschlis-e Khebregan. In Kurdistan wurde Abdul Rahman mit absoluter Stimmenmehrheit gewählt. An einem festgesetzten Tag sollte er sich in Teheran als gewähltes Mitglied dieser Expertenversammlung vorstellen. Am Vorabend seiner Abreise war er zum Abendessen bei Freunden in Mahabad eingeladen. Als er gerade ankam, begann Khomeini im Fernsehen eine Ansprache, und Abdul Rahman hörte ihn sofort toben:

„Überhaupt, wer ist dieser Ghassemlou? Wenn ich ihn in die Hände bekomme, werde ich wissen, was ich mit ihm mache.“

Es war klar, dass Khomeini Abdul Rahman sicher nicht in dieser Versammlung haben wollte: Alle übrigen Gewählten waren Angehörige der moslemischen Geistlichkeit, nur zwei laizistisch, einer davon Abdul Rahman. Die weiteren, gegen ihn und das Politbüro der DPKI in der Ansprache ausgestoßenen Drohungen ließen ihn seine Meinung ändern, und er beschloss, sich nicht in Teheran zu präsentieren.

Gegen Ende des Frühjahrs 1979 verfügte Khomeini gegen den Generalsekretär der DPKI, Abdul Rahman Ghassemlou, eine Fatwa (ein Todesurteil), und im August desselben Jahres startete das Regime einen Krieg gegen das kurdische Volk. Der überwiegende Teil der Kurden, die DPKI ebenso wie andere kurdische Parteien nahmen die Herausforderung an und kämpften mit aller Kraft. Abdul Rahman schrieb einen Satz von Andre Malraux in sein Notizbuch: „Ich habe Krieg geführt, ohne ihn zu lieben.“

Ein Teil des Territoriums im Zentrum von Kurdistan wurde von der DPKI befreit. Hier wurde das Leben entsprechend deren Programm neu organisiert, und der Umbau zu einer demokratischen Gesellschaft begann. Für fast drei Jahre genoss dieser Landesteil nahezu uneingeschränkte Freiheit.

In dieser Zeit hatte das Regime im ganzen Land bereits seine Scharfrichter-Politik eingeführt. Alle, die den Wünschen Khomeinis nicht entsprachen, wurden eliminiert. Nicht nur Oppositionelle wurden massiv verfolgt und ermordet. Ob ein Verurteilter der Opposition angehörte oder nicht, machte wenig Unterschied. Die Säuberungspolitik machte auch nicht vor Kindern und Greisen halt. Ein Witz vor einem unerkannten Eiferer genügte, und das Schicksal des Unvorsichtigen war besiegelt. Die Frauen wurden wieder an den Herd gedrängt, und der Mann à la Khomeini erhielt den Status des Allmächtigen zurück. Hinrichtungen wurde zu legaler Normalität, und Khomeini forderte die „echten Moslems“ zum Denunzieren auf. Vor dem grotesken Paradoxon, dass die bis dahin konziliante und friedensstiftende Religion nun zu Unerbittlichkeit und Brutalität aufrief, flohen viele aus dem Land. Eine gewisse Anzahl von Nicht-Kurden kamen und boten der DKPI ihre Dienste an.

Lena reist wieder nach Kurdistan

Anfang März 1980. Lenas Reise nach Kurdistan war mit nicht wenigen Schwierigkeiten verbunden. Mit dem Namen Ghassemlou, angesichts eines noch von der Polizei des Schah ausgestellten, aber wohl nach wie vor gültigen Haftbefehls gegen sie und vor dem Hintergrund des Krieges in Kurdistan verbesserte sich die Lage keineswegs. Trotzdem hatte das Chaos des ersten Jahres des Khomeini-Regimes das Land durchlässig und damit Ortsveränderungen mehr oder minder ungefährlich gemacht. In Paris organisierte ein intelligenter, kurdischer Kopf und guter Kenner der Lage die Reise. Lena erreichte Kurdistan über Stockholm, Kopenhagen und Teheran.

Beinahe dreißig Jahre waren vergangen, seit sie gelernt hatte, Land und Leute in diesem Staat zu lieben, der so reich an Geschichte, Lebenskunst und auch Unglück war – und dessen Menschen dennoch nie den Wunsch nach Freiheit aufgegeben hatten.

Ende 1979 war das Hauptquartier der DPKI in Gök Tapa nahe Mahabad angesiedelt worden. Es war ein kleines Dorf mit Häusern aus Beton. Am Ende der einzigen Straße stand ein etwas größeres Haus. Darin war das Hauptquartier untergebracht. Im März versteckt sich in dieser Gegend die Sonne oft. Es regnet und schneit, und der nasse Schnee macht alles feucht, schlammig und kalt. Das Haus war unbeheizt. Das dicke, kurdische Gewand schützt recht gut gegen Kälte. Aber Lena fror elendig in ihrer europäischen Kleidung. Abdul Rahman verbrachte den ganzen Tag in diesem Haus, wo er Sitzungen abhielt und Besucher empfing. Am Abend war er entsprechend müde. Jene Mitarbeiter, die über die künftigen Aufgaben Lenas in Europa entscheiden sollten, kamen und kamen nicht. Dabei war diese Entscheidung der Grund ihrer Reise gewesen.

Lena sah sich ein wenig in der Umgebung um. Sie ging dabei nicht zu weit weg, weil sie sonst die Begleitung von Peschmergas akzeptieren hätte müssen. Auf den nahen, völlig abgeholzten Hügeln ohne jeden Baum oder Strauch, rutschten unter ihren Füßen die Steine weg: aus Sand, Gneis, Eisen, weißem, rosafarbenem oder gemasertem Marmor. Sie füllte damit die Taschen des Anoraks ihres Mannes, den sie trug. Am Fuße eines Hügels wurde sie von Peschmergas umringt. Sie wollten den Neuankömmling kennen lernen. Um sie daran zu hindern, ihr jene Ehrerbietungen zuteil werden zu lassen, die der Frau des Chefs zustanden, zeigte sie ihnen die Steine und wies auf den Schatz hin, den sie unter ihren Füßen hatten.

„Das ist gar nichts! Da haben wir hier überall“, rief einer von ihnen.

„Wenn wir einmal frei sind, wird uns die Verwertung dieser Steine reich machen“, sagte ein anderer.

„Sobald die Zeit kommt, werden wir die Adschams ausbeuten!“, schrie ein Heranwachsender. („Adscham“ bedeutete ursprünglich „stumm“ und wurde im Laufe der Geschichte zu einer intoleranten Beleidigung.)

„Was für einen Unterschied machst du denn zwischen uns und denen?“

„Wir haben das Recht auf Rache. Sie beuten uns seit Ewigkeiten aus.“

„Aber, aber, kämpfst du denn nicht für die Demokratie? Ein Demokrat achtet die Rechte der anderen, er will Gerechtigkeit für alle. Dein Kampf gegen die Adschams ist gerecht, und, wenn du ihn gewinnst, wirst du frei sein. Willst du dann genau das werden, was der Adscham heute für dich ist?“

„Pass’ gut auf, mein Bub“, sagte ein Peschmerga fortgeschrittenen Alters, „wir sind Demokraten. Das heißt, dass wir besser sind als sie.“

Die Diskussion ging weiter und Lena wurde kalt. Sie verabschiedete sich von ihren neuen Bekannten. Der rachelustige Peschmerga begleitete sie und wollte seine Einstellung erklären.

„Komm’ auf eine Tasse Tee zu uns!“

Er stellte sie als „Khanom Journalistin“ vor. Damals kamen von überall Journalisten nach Gök Tapa. Er meinte also, sie wäre eine von ihnen. Zwei alte Peschmergas erhoben sich, um ihr die Hand zu drücken, und luden sie ein, sich zu setzen. Mit einem Glas heißen Tees wärmte sie ihre frierenden Hände auf. Es war ein ruhiger und heiterer Augenblick. Dann fragte der Greis an ihrer Seite:

„Bist du Gast bei unserem Doktor?“ (Abdul Rahman war für alle „der Doktor“.)

„Ja.“

„Warum sammelst du all diese Steine?“

Der Halbwüchsige hatte sie vor ihr auf dem Boden ausgebreitet. Nach und nach füllte sich das Zimmer mit Peschmergas, die zuhörten, sich in das Gespräch einmischten und erzählten, was das Land unter ihren Füßen alles so barg. Da gebe es Gold, dort Silber...

„Wirst du über den Reichtum unseres Bodens schreiben?“

„Und auch darüber, wie sehr ihr euer Land und die Freiheit liebt.“

„Das ist gut, sehr gut. Die Adschams, die uns foltern und töten, nur weil wir Kurden sind und unsere Rechte und unsere Ehre verteidigen, müssen die Wahrheit erfahren."

In diesem Moment trat Karim, Peschmerga bei Abdul Rahman, ein:

„Khanom, der Doktor fragt nach dir. Du hast Besucher.“

Im Hauptquartier waren Journalisten und eine Menge Kurden. Abdul Rahman kümmerte sich um erstere, Lena um die übrigen. Unter jenen befanden sich Abu Bakr und seine sehr junge Frau Parwin. Der erste Durchgang der Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung war eben zuende gegangen. Die DPKI hatte überall gesiegt, und Abu Bakr war von der Mehrheit in der Region Bokan gewählt worden. Er wollte Lena überreden, in Kurdistan zu bleiben. Sie hätte hier großen Einfluss auf die kurdischen Frauen und könnte bei Versammlungen zu Tausenden sprechen. Wenn er nur gewusst hätte, was für eine schlechte Rednerin Lena war! Dennoch hätte sie gerne mit den Frauen hier gearbeitet, aber Abdul Rahman hatte entschieden, es brächte ihnen mehr, wenn sie in Europa aktiv wäre.

Ihr Mann machte den Eindruck, glücklich, zufrieden und voller Tatendrang zu sein. Aber es lastete eine gewaltige Verantwortung auf seinen Schultern. Lena schien das zu viel für einen Menschen allein zu sein: Die Mitstreiter entschieden nichts ohne ihn, und alle kamen, wollten Lösungen ihrer Probleme von ihm. Sogar während er aß, arbeitete er, ununterbrochen war Bewegung um ihn herum. Er war ein einsamer Chef geworden und für alles verantwortlich, was geschah.

Zwischen Glauben an und Wissen über Kommunismus

Weil die Sitzung noch immer nicht in Sicht war, bei der über Lenas Tätigkeit entschieden werden sollte, fuhr sie nach Mahabad, in die heroische Stadt der so kurzlebig gewesenen kurdischen Republik. Man zeigte ihr den Staudamm und die Umgebung, die Region, auf die sie so stolz waren. Die Bewohner machten hierher Ausflüge, um sich zu erholen. Im Klartext hieß das, dass die Männer und die Kinder im Stausee badeten, jedoch nicht die Frauen. Und es waren die Frauen, die ihr die Leviten lasen. Eine Frau in einem Rock galt hier als schamlos (khoïe rût daka: sie zieht sich nackt aus). Lena trug ein europäisches Kostüm mit einem knöchellangen Rock: „Ich hoffe, ich verletze das männliche Schamgefühl nicht mit meinen nackten Fußknöcheln, witzelte sie.

Sie erinnerte sich an die Frauen und Mädchen von Rezajeh vor inzwischen 27 Jahren. Sie hatten kurze Röcke getragen, und niemand hatte sich darüber gewundert. Wenn jetzt hier in Mahabad im Jahr 1980 schon Röcke unpassend waren, dann waren Badeanzüge das noch viel mehr.

Die islamische Änderung des Status der Frauen war von vielen Männern gerne angenommen worden, und sie beeilten sich, diese auch durchzusetzen. Der Weg des sozialen Rückschritts war rasch bewältigt. Die Frauen hatten keine Rechte und keine Wahl. Sie folgten den Männern. Zuhause aber überhäuften die Mädchen und die jungen Frauen Lena mit Fragen, die in klarem Widerspruch zu dem standen, was nunmehr festgeschrieben war: Sie stellten sogar heikle, politische Fragen, solche nach der Rolle und den Rechten der Frau im Kommunismus, wollten wissen, wie sich der demokratische Mann der Frau gegenüber verhielt, ob die Frauen in den sozialistischen Staaten wirklich respektiert würden und wie es mit dem Lohn für die gleiche Arbeit beider Geschlechter aussehe.

Die DPKI war eine linke Bewegung, die gerade der Illegalität entkommen war. Sie war auf der Suche nach einer adäquaten Haltung angesichts des Durcheinanders in der vielfältigen, iranischen Gesellschaft – und sie war schon im Krieg. Viele Kurden glaubten aufrichtig, dass ihnen der Kommunismus die ersehnten Freiheiten bringen würde. Lena, die Frau des Chefs dieser Bewegung, war angesichts dieser ehrlichen Fragen in Verlegenheit. Sie hatte den Glauben an die Gerechtigkeit der kommunistischen Regime schon lange zuvor verloren. Sie wusste, was den Völkern unter deren Herrschaft geschah. Sie selbst war wohl eine Linke, aber im Laufe der Jahre war dieses Linkssein ein sehr persönliches geworden: Es bedeutete, an der Seite derer zu stehen, denen es elend ging, aber ohne dabei jenen politischen Parteien zu vertrauen, die sie kennen gelernt hatte. Den jungen Frauen Antworten zu geben, war somit nicht leicht. Sie durfte die Bewegung ihres Mannes nicht kompromittieren und die jungen Menschen in deren Begeisterung für diese Bewegung nicht verletzen. Sie ahnte, dass die gerade erst gewonnene, zerbrechliche Freiheit, in deren Genuss ohnedies nur ein Teil Kurdistans gekommen war, auf längere Sicht ungewiss war. Diese Frauen aber zu belügen, hätte bedeutet, dass sie deren Intelligenz unterschätzte. Sobald sie die Wahrheit erfahren würden, was unvermeidlich war, nähme ihr Vertrauen in die Demokratie Schaden. Also log Lena nur durch Auslassungen und Verschweigen.

Diese stürmischen und schwierigen Zeiten waren, ohne dass dies schon klar gewesen wäre, der Beginn des Ruhmes der DPKI. Die Partei verankerte sich in einem großen Teil des Mittleren Ostens als eine für Jahre bestimmende und geachtete Kraft.

Die Geschichte von Dschuan

Das unglückliche Schicksal der Frauen zeigte sich Lena an zwei lebendigen Beispielen. Eines Nachmittags hatte sie für eine 39jährige ihre kurdische Tracht angezogen, die zu Besuch kam. Nennen wir sie Dschuan, das heißt, „die Schöne“. Sie war tatsächlich schön gewesen und sah immer noch gut aus. Lena hatte sie zum ersten Mal gesehen, als Dschuan ein gerade neunjähriges, lausbubenhaftes Mädchen gewesen war, das alle mochten.

Der Vater wollte die kaum Pubertierende mit einem seiner Bekannten verheiraten. Dieser war geschieden und Vater zweier Buben im Alter Dschuans. Möglicherweise war dieser Bewerber damals eloquent und fesch gewesen. Sicherlich konnte diese noch so junge Frau einen Angeber noch nicht von einem wirklich intelligenten Mann unterscheiden, aber das war inzwischen nicht mehr wichtig. Jedenfalls verliebte sie sich über beide Ohren in ihn, und damit wandelte sich ihr Schicksal zur Tragödie.

Ihr Vater änderte seine Meinung, und dieser Manaf war im Hause nicht mehr erwünscht. Dschuan begann also, ihn heimlich zu treffen. Als der Vater dahinter kam, verbot er seiner Tochter jeden weiteren Kontakt. Hier muss festgehalten werden, dass das Verhalten Dschuans in der moslemischen Gesellschaft völlig unzulässig war. Das Verbot des Vaters war allerdings wie Öl auf einem Feuer. Die starrköpfige Dschuan verließ das Elternhaus und zog zu Manaf. Ihre Mutter fühlte sich schuldig, und die Familie zerbrach. Aber Dschuan bestand auf ihrem Recht, den Mann zu heiraten, den sie liebte. Der Vater verstieß die Tochter und überließ sie deren Schicksal.

In jener Gesellschaft gilt ein Mann, der seine Frau betrügt und neben ihr Geliebte hat oder sogar mit einer anderen Frau zusammenlebt, als stark, oder er wird zumindest als Lüstling oder Schlawiner akzeptiert. Kaum jemand verurteilt ihn. Umgekehrt aber wird eine Frau, die es wagt, sich ebenso zu verhalten, verdammt und mit allen möglichen Schimpfwörtern bedacht. Es wird verlangt, dass sie auf das Strengste bestraft werde und Reue zu üben habe. Dschuan war charakterstark, bereute nie und lebte jahrelang mit dem völligen Unverständnis ihrer Umgebung. Der Ehe mit Manaf entsprang eine Tochter. Schnell hatten das Vulgäre und das Bösartige in Manaf zu dominieren begonnen. Dschuan durchlebte die Hölle auf Erden. Das einzige Glück, das ihr geblieben war, war die Tochter. Schließlich konnte sie nicht mehr, nahm ihr Kind und verließ das Haus. Das war wieder ein mutiger, aber ebenso untragbarer, Schritt. Und wieder stellten sich alle gegen sie. Ihrem Bruder gelang es, sie trotz allem mit ihrem Ehemann auszusöhnen und damit einen Skandal zu verhindern.

Im Hauptquartier stand Lena eine verzweifelte Dschuan gegenüber. Nach dem Recht des Koran bleibt ein Kind im Fall einer Scheidung beim Vater, und Manaf hätte auf diesen Anspruch nie verzichtet. Ein Kind von seiner Mutter zu trennen, ist die Strafe dafür, dass diese Frau ihrem Mann nicht gehorcht hat. Für eine Mutter ist das Weiterleben unerträglich, wenn ihr das Kind genommen wird. Aber, ist es erträglicher, mit einem solchen Mann zusammenzuleben? In einer Region, in der es kein Gesetz zum Schutz der Frauen gibt, bedeutet die Abnahme ihres Kindes lebenslanges Leid. Also unterwarf sich Dschuan einem skrupellosen Ehemann und akzeptierte ihre Versklavung.

Erst feindselig, dann doch freundlich

Eines Tags klopfte Lena an die Tür eines Hauses, in dem sie hinter dem Fenster eine Frau gesehen hatte. Manchmal sahen Frauen Lena voller Misstrauen und sogar Feindseligkeit an. Sie zeigten ehrlich, was sie empfanden, und Lena wollte gerne ein offenes Wort mit ihnen sprechen. Eine von diesen Frauen war Fatima, die Frau hinter dem Fenster.

In einem winzigen Hof bei der Tür lag eine große Hündin mitten unter ihren Welpen. Die kleinen Hunde sahen mit ihrem weißen, dichten Fell aus wie Schneebälle. Die Frau trug Holzschuhe und trat mit den Füßen nach links und rechts, um die Welpen zu vertreiben, die beim Eingang herumtorkelten. Mit ärgerlicher Miene fragte sie Lena, was diese hier wollte.

„Ich bin gekommen, um dich zu besuchen, Khoschka (statt „gute Frau“ wird häufig dieser Ausdruck für „Schwester“ verwendet).

Mit einer groben Handbewegung gestattete sie Lena einzutreten. Die Hausfrau verhehlte in keiner Weise, dass ihr der Besuch nicht willkommen war, aber Lena war entschlossen, sie zum Reden zu bringen. Sie überlegte gerade, wie sie damit anfangen könnte, als sie hinter dem Haus eine andere Frau sah.

„Ist das deine Schwester?“

Das war tatsächlich eine gute Frage für den Einstieg. Fatima wurde lebhaft und erzählte ihr Aminas Geschichte.

Diese war irgendwo im Norden des Landes mit einem Rohling verheiratet und hatte zwei Kindern von ihm. Sie war geschlagen, gefoltert und vergewaltigt worden. Er lachte sie aus. Mehrmals war sie mit den Kindern zu ihren Eltern geflohen, aber man hatte sie immer wieder zu ihrem Mann zurückgeschickt. Als sie die Übergriffe nicht mehr ertragen konnte, nahm sie Abschied von ihren Kindern und lief weg. Auf dieser Flucht schlief sie unter freiem Himmel, bekam in Dörfern von den Bewohnern zu essen und durchquerte die Frontlinien des Krieges. Sie bot vielen ihre Dienste an, aber niemand wollte sie aufnehmen. In Gök Tapa fand Fatima sie schlafend und nahezu leblos vor ihrer Türe. Sie behielt sie als Hilfskraft, und seit damals kümmerten sich beide gemeinsam um den Haushalt. Sie wurden Freundinnen.

Amina kam schließlich auch herein. Sie war eine hübsche Person, groß, schlank und muskulös. Sie hatte sanfte, schwarze Augen, volle Lippen und ein freundliches Gesicht. Fatima beantwortete alle Fragen Lenas und schilderte weitere Einzelheiten aus Aminas Leben, die jene, offenbar selbst wenig gesprächig, jeweils durch Kopfnicken bestätigte. Allem Anschein nach war Amina im Hause Fatimas zufrieden.

Die beiden Frauen begleiteten Lena lächelnd bis auf die Straße und versicherten ihr, dass sie künftig jederzeit wieder willkommen wäre.

Ein Europa-Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Finanzen

Nach langem waren die Mitglieder des Politbüros, die über Lenas Aktivitäten in Europa entscheiden sollten, doch noch gekommen. Lena legte aus ihrer Sicht die Bedingungen dar, die effiziente Arbeit zugunsten der DKPI in Europa möglich machen sollten. Sie schlug vor, im Zentrum Europas (Paris erschien ihr dafür am besten geeignet) ein Büro mit einem Stab einzurichten, der sich aus möglichst kompetenten Exilkurden zusammensetzen sollte. Die Gruppe würde sich mit den Außenbeziehungen der DPKI befassen. Damit dies alles funktionieren könnte, seien entsprechende, finanzielle Mittel erforderlich.

Im Jahr 1980 war „Kurdistan“ ein international noch kaum bekannter Begriff. Um das zu ändern, schien ein regelmäßig erscheinendes Bulletin nötig. Für dessen Erstellung sollten Journalisten und Schriftsteller engagiert werden. Außerdem müssten regelmäßig aktuelle, den Tatsachen entsprechende Nachrichten über die Entwicklung in Kurdistan und im Iran übermittelt werden – und zwar auch negative (normalerweise erklärten die Kurden immer, es liefe alles gut). Die gleichen Bedingungen hätten auch für jene zu gelten, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmerten. Abdul Rahman unterstützte Lena und ergänzte ihre Ausführungen.

Alle anwesenden Mitglieder des Politbüros waren mit ihren Vorschlägen einverstanden. Sie wurde ersucht, den Posten des Verantwortlichen zu übernehmen und sich darüber hinaus um finanzielle Angelegenheiten bei Banken außerhalb des Iran zu kümmern.

Lena übernahm die Öffentlichkeitsarbeit unter der Bedingung, dass ihr zwei Stellvertreter zur Seite gegeben würden. Eine einzige Person konnte diese Aufgabe nicht zufriedenstellend erfüllen (sie war mit solchen Dingen bereits allein beschäftigt gewesen und wusste, wovon sie sprach). Auf jeden Fall waren erfahrene Ersatzleute vonnöten, wenn sie abwesend sein sollte.

Sich mit den Finanzangelegenheiten im Ausland zu befassen, lehnte sie ab und erklärte, dass sie auf diesem Gebiet keinerlei Kenntnisse hatte. Aber Abdul Rahman bestand darauf und versprach, sich gemeinsam mit ihr darum zu kümmern. Also gab sie nach. Dabei mag es auch eine Rolle gespielt haben, dass sie über dieses Ersuchen amüsiert gewesen war und es nicht wirklich ernst genommen hatte. Die DPKI war zu jener Zeit bitterarm. Lena ahnte nicht, dass deren Konten schon bald ziemlich dick werden sollten.

An jenem Tag jedenfalls war ihr alles versprochen worden. Nach allen ihren Erfahrungen mit ihrem Mann und den anderen Kurden brach sie dennoch nicht in ein Siegesgeheul aus. Sie bat den Himmel, dass diesmal die Versprechungen nicht vergessen werden würden. Allerdings zeigte sich der Himmel wieder einmal taub. Um einiges später, als alles schief zu laufen anfing, bemühte sie sich zu verstehen, dass sich die DPKI auf ihre Reorganisation und vor allem auf den Krieg konzentrieren musste und daher die Tätigkeit in Europa sekundär geworden war. Aber dieses Europa würde der Partei ein „Fenster zur Welt“ öffnen, ihr einen Platz unter den relevanten Bewegungen sowie Gewicht geben, um wirkungsvoll zugunsten des Landes zu arbeiten. Ohne diese Auslandstätigkeit hätte die Gefahr bestanden, dass die Partei wieder nur lokal aktiv und entsprechend bedeutungslos geworden wäre.

Noch standen der DPKI jedoch mehrere Jahre bevor, in denen sie an Kraft und Bedeutung gewinnen sollte. Das Jahr 1980 war nur der Anfang.

Am Tag des Treffens zwischen Lena und dem Politbüro war die Armee der Pasdaran gefährlich nahe an Mahabad herangerückt, das nur etwa ein Dutzend Kilometer entfernt war. Sie musste schnell nach Europa zurück.

Nach einem Jahr Khomeini Kurdistan voller Ruinen

Es wurde eine trostlose Reise. Sie wurde über sichere Routen ohne militärische Kontrollposten geführt. Auf dem Weg sah sie leere Gebäude, die zuvor Fabriken gewesen waren, ein Kraftwerk und anderes, wovon nur noch Ruinen übrig waren. Auch die Landwirtschaftsflächen waren verlassen. Es hatte nach der islamischen Revolution nur etwas mehr als ein Jahr gebracht, bis die Wirtschaft Kurdistans zugrunde gerichtet war.

In einer seiner Ansprachen, die auf Kassetten aus Frankreich in den Iran gekommen waren, hatte Khomeini gesagt: „Selbst, wenn das iranische Volk mich an seine Spitze wählt, werde ich nur so lange dort bleiben, bis ich sicher sein kann, dass jene, die mich ersetzen, ehrbare Leute und fähig sind, den Iran zu einer Demokratie für alle zu machen.“

Demokratie à la Khomeini bedeutete, den Fanatikern freie Bahn zu geben. Die Kriege gegen die Kurden und gegen den Irak bluteten das Land aus. Das Regime setzte bei den religiösen Gefühlen der jungen Burschen an, die fast noch Kinder waren, und stellte ihnen einen „Schlüssel zum Himmel“ in Aussicht: Sie würden ins Paradies kommen, wenn sie ihr Leben verlören – und schickte sie in der ersten Reihe vor, um die Schlachtfelder vor einem Angriff minenfrei zu machen.

Wenn die politischen Farben, Äußerungen und Bewegungen einander ohne Konfrontationen wechselseitig durchdringen, schaffen sie das Mosaik eines friedlichen Staates. Dann gilt die Devise „Leben und leben lassen“. Aber Regionen, in denen die Religion die Politik des Staates bestimmt, gleichen einander in ihrer Egozentrik, in ihrem religiösen Totalitarismus. Das Land verliert seine Erinnerung, wird einfärbig, reizlos und bedrohlich. Der Iran wurde ein von der Grausamkeit der Religiösen und kollektivem Fanatismus gelähmter Staat.

Und dennoch gibt es trotz aller Angst immer noch Männer und Frauen, die Widerstand leisten. Nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges und jenes in Kurdistan ist eine neue Generation geboren worden, und der Widerstand gegen den Obskurantismus des Regimes der Mullahs geht weiter.

Die Mentalität der Kurden im Iran hat sich geändert. Das Programm der DPKI, das von den gleichen Rechten der Männer und der Frauen spricht, hat den Menschen zu denken gegeben. Während jener Jahre, in denen die Partei die befreiten Gebiete verwaltet hatte, war der Wille zur Verbesserung der Lage der Kurden überraschend deutlich geworden. So etwas gerät nicht in Vergessenheit. Freilich braucht die Umsetzung so wichtiger Umbrüche in einer Gesellschaft ihre Zeit. Die Kurden hatten sie nicht.

Verständnis, aber keine Mitarbeiter für Büro in Paris

Kaum war sie in Europa zurück, wurde Lena sofort aktiv. Als Resultat ihrer Tätigkeit konnte sie ein Jahr später, neuerlich zu Besuch in Kurdistan, nicht nur die Gründung der französischen Hilfeorganisation für Irans Kurden (AKI - Aide aux Kurdes d'Iran) vermelden. Diese war Voraussetzung für das gute Funktionieren des Büros. Es gab auch bereits eine Wohnung, die der DPKI als Büro dienen würde. Die Reisen, die sie unternommen hatte, um finanzielle Mittel aufzutreiben, und etliche anderen Aktivitäten hatten allerdings gemischte Ergebnisse gehabt. Es fehlte ihr an Erfahrung, vor allem aber an Mitarbeitern. Somit konnte sie sich am Ende auf niemanden außer sich selbst verlassen. Der kurdische Mann behandelte sie zwar als Freundin, schätzte aber ihre Arbeit nicht und hatte kein Verständnis dafür, was notwendig war, um diese Aufgabe auch zu bewältigen. Abdul Rahman hörte sich ihre Beschwerden an, verstand sie, weil sie seinen Erfahrungen entsprachen, und sagte zu, ihr Unterstützer zu schicken. Diese kamen niemals an.

Sie vermittelte also weiterhin jene Treffen, die Abdul Rahman mit Ministerkabinetten und den Büros unterschiedlicher Parteien wünschte, sprach bei regierungsunabhängigen Organisationen um Unterstützung vor, vertrat die DPKI bei Veranstaltungen, bei denen sie das Kurdenproblem präsentieren konnte, und reiste auch außerhalb Frankreichs herum, um solche Aktivitäten zu setzen. Mit Unterstützung durch ihren Mann sowie durch Berater der Banken lernte sie, die Bankguthaben zu managen und war dabei finanziell erfolgreich. Sie redigierte und sandte ihre Tätigkeitsberichte an das Politbüro in Kurdistan, erhielt aber nie eine Antwort und somit auch keine Kritik.

Ein- oder zweimal im Jahr kam Abdul Rahman mit seinem eigenen Programm nach Europa, und Lena gab ihm jenes, das sie gemäß seinen Wünschen vorbereitet hatte.

Mitten in ihren manchmal enttäuschenden Aktivitäten passierten aber auch überraschende Dinge. Eines Tages war sie auf der Heimfahrt von Lausanne, wo sie unter anderem bei der regierungsunabhängigen Organisation „Terre des Hommes“ eine Bitte um Milchpulver für kurdische Kinder deponiert hatte. Um nur ja nichts zu vergessen, hatte sie sich eine handschriftliche Liste gemacht. An der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich wurde sie von den schweizerischen Zöllnern aufgefordert, das Auto abzustellen und ihnen ins Büro zu folgen. Sie wurde nach dem Zweck ihres Besuchs in der Schweiz gefragt. Weil sie diesen Grenzaufenthalt möglichst kurz halten wollte, antwortete sie, sie wäre als Touristin dort gewesen. Durch ein Fenster sah sie, wie einer der Zollbeamten ihr Auto öffnete und den kleinen Sack mit den Dokumenten, darunter auch diese Liste, herausnahm. Die Beamten schwenkten das Blatt vor ihren Augen und beschuldigten sie, gelogen zu haben, was ja stimmte. Also schwieg sie einmal und wartete ab, was geschah.

Ein etwa vierzigjähriger Mann kam herein und ersuchte um Entschuldigung, weil er sie hatte warten lassen. Er war der Chef dieses Grenzpostens. Lena protestierte gegen das willkürliche Verhalten der Zöllner, und er zeigte sich deswegen sehr unglücklich. Sie verstand nichts mehr. Aber der Mann erklärte es rasch: Nachdem er ihren Namen im Pass gelesen hatte, wollte er sie treffen, und hatte daher seine Leute aufgefordert, sie so lange festzuhalten, bis er Zeit hätte. Er war über die Geschehnisse in Kurdistan informiert und schätzte den Namen Abdul Rahman Ghassemlou sehr. Nun bat er sie, ihm doch mehr über den Kampf der Kurden zu erzählen. Er lud sie in sein Büro ein und bot auch den übrigen an mitzukommen, wenn sie sich für das Problem interessierten. Im Handumdrehen war das Büro voll mit schweizerischen Zöllnern und Polizisten, die Lena zuhörten, wie sie von den Kurden und dem Krieg sprach, den das islamistische Regime ihnen aufgezwungen hatte. Anschließend fanden die Fragen kein Ende. Das alles war eine sehr erfreuliche Überraschung, dies umso mehr, als sie auch viel weniger nette Erfahrungen etwa auf dem Londoner Flughafen Heathrow oder gar an der Grenze in Berlin gemacht hatte, die höchst unerquicklich und erniedrigend gewesen waren.

*

Zwischen 1980 und 1983 hatte die DPKI in ihrer Region Strukturen aufgebaut, die es dort nie zuvor gegeben hatte. Für die Kinder, Buben und Mädchen, wurde der Schulbesuch verpflichtend, und sie wurden in ihrer kurdischen Muttersprache unterrichtet. Für die ersten beiden Grundschuljahre wurden kurdische Lehrbücher erarbeitet. Die Lehrer, die bis dahin nur auf Persisch unterrichtet hatten, machten Kurse auf Kurdisch, um sich auch in dieser Sprache zu qualifizieren. Radio und Presse bedienten sich ebenfalls des Kurdischen.

Mitglieder regierungsunabhängiger Organisationen wie der „Aide Médicale Internationale“ (AMI), der „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF, „Médecins sans Frontières) sowie der „Médecins du Monde“ (MDM) und andere impften die Kinder, behandelten und operierten kranke Zivilisten oder Kriegsverletzte, gestalteten Radiosendungen über Hygiene und Säuglingspflege. Der Arzt Fréderic Tissot von AMI baute sogar eine Ruine, die einst die Gendarmerie beherbergt hatte, zu einem vollwertigen Spital neu auf und aus.

Es wurden auch Gefängnisse für die Kriminellen und die Kriegsgefangenen errichtet. Das Wachpersonal wurde geschult, um auch den gefangenen Feind mit Respekt zu behandeln. Es war sogar geplant, in den Haftanstalten Alphabetisierungskurse einzurichten.

Das vom Regime über Kurdistan verhängte Embargo belastete die Bevölkerung schwer. Es fehlte an allem. Abdul Rahman, von seiner Ausbildung her Wirtschaftsfachmann, schickte sich an, neben der staatlichen eine Parallelwirtschaft aufzubauen. Gleichzeitig lernte er das Kriegshandwerk.

Das Leben im Hauptquartier

Die Tage kamen und gingen, brachten gute und schlechte Nachrichten, und alltägliche Abläufe wiederholten sich: Die Eheleute gingen nach Mitternacht schlafen und standen um sieben Uhr früh auf, wenn alles gut ging. An den Vormittagen stattete Abdul Rahman den mit der Presse- und der Rundfunkarbeit beauftragten Leuten Besuche ab, teilte die Arbeit am Hauptquartier ein oder brach gelegentlich für mehrere Tage zu Einsätzen auf. Lena machte sich Notizen für spätere Berichte und kümmerte sich um alles, das im Haushalt anfiel. Sie wusch die Wäsche (selbstverständlich mit der Hand), bügelte (wenn die Stromversorgung nicht gerade unterbrochen war), schlug sich mit den Insekten herum, die während der Nächte in die Betten fielen und alle ihre Pestizide überlebten. Sie lernte Kfz-Mechanik, indem sie die aufgeklebten Beschreibungen für die Arbeiter übersetzte, damit diese Reparaturen durchführen konnten. Leute kamen und baten sie um Hilfe, überbrachten Neuigkeiten oder wollten sie einfach besuchen.

Im Hauptquartier arbeiteten vor allem junge Menschen. Ihr Leben war alles andere als normal. Sie waren in den Bergen, weit weg von ihren Familien, und sie wussten nie, ob sie selbst am nächsten Tag noch leben würden. Sie hätten fortgehen können, denn niemand hielt sie mit Zwang fest, aber sie blieben – beseelt von ihrem Wunsch nach Freiheit.

Zu ihnen gehörten auch die Leibgarden Abdul Rahmans. Sie waren insgesamt zwölf, standen aber nie gleichzeitig im Einsatz. Lena wollte wissen, wie sie sich die Zukunft vorstellten, sobald der Krieg zu Ende wäre. Als sie eines Tages auf eine Tasse Tee zu ihnen eingeladen war, stellte sie die Frage. Die Burschen aber dachten an nichts anderes als den Kampf bis zum Tod.

Lena hatte darüber auch schon mit Abdul Rahman gesprochen. Er hatte gemeint, die Peschmergas könnten in die Polizei eines autonomen Kurdistan integriert werden. Also fragte sie die jungen Leute, was sie davon hielten, Polizisten zu werden. Diese aber reagierten voller Abwehr: „Polizisten? Niemals!“ Das Schicksal nahm einen anderen Lauf, und diese Frage stellt sich nicht mehr. Einige von ihnen haben nicht überlebt, und die anderen haben die Anzahl jener vergrößert, die so gut wie überall auf der Welt in der Emigration leben.

Im Hauptquartier waren ausschließlich Kurden ständig anwesend. Andere Iraner, die vor dem Regime dorthin geflüchtet waren, warteten nur ab, dass die DPKI ihren Grenzübertritt vorbereite. Das dauerte jeweils mehrere Wochen oder sogar einige Monate. Während dieser Zeit waren sie Gäste im Hauptquartier.

Es wurde viel von Abdolhassan Bani Sadr gesprochen. Die Kurden hatten wenig für ihn übrig. Als der Krieg gegen Kurdistan ausgebrochen war, hatte der zum Präsidenten der Islamischen Republik gewordene Republikaner öffentlich erklärt, er werde seine Stiefel nicht ausziehen, bevor nicht der letzte, kurdische Rebell ausgelöscht wäre. – Nachdem er bei Khomeini in Ungnade gefallen war, flüchtete er nach Europa. Er ist derselbe Bani Sadr, der sich nach dem Mord an Sadek Scharafkandi (dem Nachfolger Abdul Rahmans) in Berlin 1992 dem Berliner Gericht freiwillig als Zeuge zur Verfügung stellte und zugunsten der Kurden sowie gleichzeitig gegen das iranische Regime und dessen Staatsterrorismus aussagte.

Lena reiste umher. Sie besuchte Spitäler der DPKI, Volksschulen und auch Kurse, in denen die jungen Leute für den Kampf ausgebildet wurden. Manchmal nahm sie gemeinsam mit ihrem Mann an Versammlungen der Instruktoren teil oder besuchte die Peschmergas, die mit ihren Gewehren die umliegenden Hügel verteidigten.

Die Deichsel des Großen Wagens weist auf die Gefahr

Eines Tages brach sie, begleitet vom Offizier Saadiq Zarza, einem der zahlreichen Neffen Abdul Rahmans, und den Peschmergas Faruk, Ali und Omar, nach Oschnavijeh nahe Urmia, dem früheren Rezajeh, auf. Sie wollte nur Mitgliedern ihrer Familie einen Besuch abstatten, die von Urmia dorthin gezogen waren, nichts sonst. Seit sie jene zum letzten Mal gesehen hatte, waren mehr als 20 Jahre vergangen. Aber während dieser Reise häuften sich die Missgeschicke.

Entlang der Route vom Hauptquartier nach Oschnavijeh liegen drei Hügel rund um eine große, leere Ebene. In deren Mitte stand ein Haus. Es war der Posten, von dem aus die Peschmergas der DPKI den Zugang zum befreiten Territorium gegen die Pasdaran verteidigten. Letztere hielten die Hügel besetzt. Hinter den Hügeln lag wieder befreites Gebiet. Also musste die Ebene während der Nacht durchquert werden. Bei Tageslicht hätten die Reisenden perfekte Zielscheiben für die Pasdaran abgegeben, die auf alles schossen, das sich bewegte. Mit Einbruch der Nacht aber zog sich der Feind aus Angst vor Angriffen der Kurden in die Baracken zurück. Abdul Rahman schätzte die Zahl der Besatzer der Hügel auf 3.000 Mann.

Beim Eingang des Hauses lehnte eine eindrucksvolle Menge an Waffen an der Mauer, überwiegend Kalaschnikows. Drinnen waren nur neun Peschmergas. Neun Kämpfer gegen einen Feind mit 3.000 gut Bewaffneten, unglaublich! Angesichts von Lenas Verblüffung beruhigten sie die Peschmergas mit der Mitteilung, dass im Morgengrauen die übrigen Kämpfer eintreffen würden. Wie viele? Ungefähr fünfzig.

„Wenn das der Feind wüsste, würde er auf der Stelle kommen und euch umbringen!“

„Ach nein“, gab ein junger Bursche zurück, „er weiß genau, was ihm dann passieren würde.“

Seine Augen leuchteten, und er erwartete von Lena, dass sie seine Erfahrung als Kämpfer bewundern würde. Tatsächlich verdiente er das. Sie wusste, dass sich die Kurden auf ihr Know-how und ihren Mut mehr als auf ihre militärische Ausrüstung und die Anzahl ihrer Kämpfer verlassen konnten.

Die Nacht war tiefschwarz, als sie ihre Reise fortsetzten. Ein Viertel des Mondes war von einem Berg verdeckt, und die Sterne beleuchteten ihren Weg kaum. Sie mussten möglichst leise sein, und die Scheinwerfer ihres Jeep sollten ausgeschaltet bleiben, bis sie den Hügel umfahren haben würden. Das würde maximal eine Viertelstunde dauern, hatte man ihnen gesagt. Als sie an der Asphaltstraße am Fuße des Hügels angekommen waren, verringerte Saadiq, der Chauffeur, das Tempo noch weiter. In der Mitte der Hügel war es völlig schwarz. Ali und Omar stiegen aus und gingen vor dem Jeep weiter, um den Weg zu weisen. Dreißig Minuten vergingen, eine Stunde, zwei Stunden, und immer noch waren die Scheinwerfer dunkel.

Lena beobachtete die Sterne. Die Deichsel des Großen Wagens stand direkt und gerade vor ihren Augen. Einige Nächte zuvor hatte sie mit ihrem Mann den Himmel betrachtet – die Schönheit des nächtlichen Firmaments in dieser Region lässt einen beinahe erschaudern. Abdul Rahman hatte sie auf den Großen Wagen aufmerksam gemacht und gesagt, dass die Deichsel genau auf die größte Basis der Pasdaran in Kurdistan zeigte.

Sie gab den Befehl zu halten. Die Gruppe befand sich auf einem betonierten Plateau, wie es nur sehr selten in Kurdistan anzutreffen ist. Ihre Begleiter gestanden ihr, dass sie diese Gegend nicht kannten. Faruk erklärte, hier jemanden zu wissen, der das ganze Gebiet wie seine Westentasche kannte. Lena und Omar blieben also beim Jeep, während die anderen drei aufbrachen.

Bevor er sich den Peschmergas angeschlossen hatte, war Omar Bauer gewesen. Die beiden ähnelten einander. Sie waren schweigsam und warteten ab, dass man ihnen sage, was geschehen sollte, dazu waren sie ehrlich, verlässlich, intelligent und treu. Lena sah ihn an und fühlte, dass auch er sich Sorgen machte. Sie holte eine Tafel Schokolade hervor und teilte sie mit Omar, der immer froh war, wenn es etwas zu essen gab.

Nach zwei Stunden kamen die Männer in Begleitung eines kleinen, mageren Greises zurück. Dieser grinste in seinen Bart und wies mit einer Kopfbewegung in jene Richtung, die sie nehmen wollten:

„Hier seid ihr in ein paar Minuten bei den Pasdaran.“

Er begleitete sie und wies ihnen den Weg abseits der gefährlichen Route. In einem günstigen Augenblick stieg er aus.

„Ihr fahrt jetzt ganz geradeaus. Dann kommt ihr in eine Gegend, in der ihr euch auskennt.“

Er selbst ging zu Fuß zurück.

Faruk erzählte, dass der Greis ein guter Marschierer war, und in einer Hütte außerhalb eines Dorfes als Eremit lebte. Er wäre niemals krank, weil er ein ausgezeichneter Kenner der Heilpflanzen sei. Er rede wenig, aber er wisse viel. Als Partisan der DPKI hatte er sie nun vor der Höhle des Löwen gerettet.

Fast wieder daheim in Oschnavijeh

Gegen vier Uhr früh kamen sie in Oschnavijeh an. Lena hatte sich eine noch schlafende Stadt erwartet, aber die Straßen waren voller Leben. Alle waren aufgeblieben, um sie willkommen zu heißen, und hatten gehofft, sie würde mit ihrem Mann eintreffen. Dennoch zeigte niemand Enttäuschung, und die Begrüßung war äußerst herzlich.

Lena wurde im Haus von Khanom Ziba untergebracht, die sich auch um sie gekümmert hatte, als sie 1954 in Rezajeh bei ihren Schwiegereltern gewohnt hatte. Nun war Ziba mit Mohammed Agha verheiratet, einem Mitglied der großen Familie Zarza, die mit der Familie Ghassemlou verwandt war. Sie hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.

Lena war todmüde und schlief sofort ein. Es war kurz vor fünf Uhr früh. Eine Stunde später rüttelte Ziba sie wach:

„Wach’ auf! Du hast Besuch!“

„Ich?“, staunte Lena. Nach der anstrengenden Reise war sie so müde, dass ihr alles gleichgültig war.

„Lass’ mich schlafen, liebe Ziba!“

Aber Ziba war unbarmherzig:

„Sie warten im Hof auf dich. Steh’ auf!“

Der Hof war voll mit Frauen. Unter ihnen war auch Zibas Schwester, Khanom Gula, die Mutter von Asmar. Sie wollte wissen, wie es ihrer Tochter in den Reihen der Peschmerga ging, weil sie deren Stimme zwar in „Radio Kurdistan“ hörte, sie jedoch schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Die meisten der Frauen im Hof wollten sie nur umarmen und berühren. Aber es waren auch welche dabei, die sie für eine allmächtige Person hielten und von ihr die Lösung ihrer Probleme verlangten. Lena notierte sich ihre Namen und ihre Beschwerden und versprach, darüber mit dem Bürgermeister zu reden. Aber sie wollten nicht, dass sie mit dem Bürgermeister spräche. Sie erwarteten, dass sie alles selbst regeln könnte. Das war freilich unrealistisch. Am selben Tag ging sie zum Bürgermeister. Dieser zögerte ein wenig und sagte dann:

„Khoschka Nasrin, die Leute glauben, dass man ihre Probleme auf der Stelle lösen kann. Wir befinden uns im Krieg, und es gibt wichtigere Dinge zu erledigen. Ich kenne alle diese Frauen, aber sie werden warten müssen.“

Es gab auch noch andere Besucher, die von weit her gekommen waren, um ihr die besten Wünsche aus ihren Dörfern zu überbringen. Sie erzählten von ihrer Verbundenheit mit der DPKI und mit Abdul Rahman und wünschten ihr alles Gute. Sie sprachen nicht über ihre Bedürfnisse und verlangten nichts. In ihren Augen spiegelten sich die Hoffnung und das Vertrauen, die sie mit dem von der Partei angeführten Kampf verbanden, deutlicher als in Worten wider.

Faruk und Omar kehrten ins Hauptquartier zurück. Saadiq und Ali besuchten ihre Familien. Lena wollte für zwei Wochen in Oschnavijeh bleiben. Man hatte ihr als Wächter zwei Peschmergas zur Seite gestellt. Der eine war jung, der andere um die 60 Jahre alt. Letzterer hieß Ibrahim Ahmadi, aber er wurde „Mam Brahim“ (Onkel Ibrahim) genannt. Er wiederum nannte Lena „Daya“ (Mutter) und ließ sie von der Ankunft in Zibas Haus an nie mehr alleine. Rasch entstand zwischen ihnen eine Freundschaft.

Mam Brahim zeigte ihr ein Foto, auf dem sie sehr jung war und auf dem Rücken eines Pferdes saß.

„Ich war Peschmerga bei Qazi Mohammed (das war schon 35 Jahre her) und habe seit damals nie aufgehört, gegen alle diese Regimes zu kämpfen. Und da schau’, Mutter, da ist das Anerkennungsschreiben, das mir unser Präsident für meine geleisteten Dienste geschickt hat. Ich habe es all diese Jahre an meinem Herzen getragen. Nimm es und mache damit, was du möchtest.“

Lena sah ein durch die Jahre vergilbtes Papier, das von zahlreichen Knicken beschädigt war. Es trug die Unterschrift des ersten (und letzten) Präsidenten von Kurdistan aus dem Jahr 1946. Das war ein sehr wertvolles Geschenk. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte gesehen, wie Mam Brahim das Schreiben aus seiner Brieftasche gezogen und so vorsichtig berührt hatte, als wäre es etwas Heiliges – und nun wollte er, dass sie es aufbewahre. „Du kannst damit tun, was du möchtest“, das war als eine Art Gebet zu verstehen, sie möge etwas Bedeutendes daraus machen.

In Kurdistan galt ein Photoapparat als wertvolles und wichtiges Instrument. Lena holte ihren eigenen hervor, machte eine Aufnahme des Briefes und gab dem Freund das Original zurück:

„Du wirst es weiter an deinem Herzen tragen. Jetzt hat jeder von uns das Schreiben.“

Mam Brahim war gerührt. Er faltete den Brief sorgfältig zusammen, schob ihn in seine Börse und versteckte diese an seiner Brust.

Auch die Kinder waren vom Kampf um die Freiheit begeistert. Ein Bub namens Nadir rief sich selbst zum Peschmerga-Leibwächter Lenas aus. Seinem Vater hatte er erklärt, dass er sie nicht verlassen könnte, weil sie in Gefahr wäre. Er kam jeden Tag – ein sieben Jahre alter, hübscher, kleiner Schauspieler, der ihr Szenen aufführte, die sich nur wenig voneinander unterschieden. Sie musste sich dazu niedersetzen, und er rief:

„Schau’, schau’, Khoschka Nasrin, so werde ich den Feind bekämpfen!“

Sie sah ihn mit einem „Gewehr“ (einem Stock) posieren und hörte seinen Kommentaren zu. Als sie sich von einander trennen mussten, weinte der kleine Nadir.

Einer der angesehenen Männer der Stadt war Mohammed Amin, klein, reich und gesprächig, mit drei Frauen verheiratet und Vater von 19 Kindern. Er bestand darauf, dass Lena in das Dorf Qaltan nahe bei Oschnavijeh komme, um sein von Napalm-Bomben zerstörtes Haus dort zu sehen. Sie sollte vor der ganzen Welt bezeugen, dass das Regime Napalm gegen die Kurden einsetzte. Sie konnte dort feststellen, dass das Haus von Bomben ganz ordentlich ruiniert worden war, aber sie fand keine Spuren von Napalm. Um sich zu vergewissern, sandte die Partei einen Spezialisten. Auch dieser stellte fest, dass es keine Napalm-Rückstände gab. Es stand zwar fest, dass die Armee solche Brandbomben auf die Kurden abwarf, aber hier in Qaltan war das nicht geschehen. Mohammed Amin war enttäuscht.

Sie wurde auch ins Theater eingeladen. Der Saal war zum Bersten voll. Komplette Familien waren mit ihren Kindern und dem ganzen Durcheinander gekommen. Lokale Künstler hatten mit Notbehelfen ein Stück auf die Bühne gebracht, das von den menschlichen Werten und der wilden Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit erzählte – während der Krieg ihr Land verwüstete und ihre Stadt bedrohte.

Eine Woche nach ihrer Ankunft war Lena bei Saleh Zarza und dessen Frau, Khanom Afsar, zum Mittagessen eingeladen. Gegen elf Uhr saßen sie davor teetrinkend im Garten. Mam Brahim neigte sich an Lenas Ohr:

„Wir haben den 14. Galawesch (5. August). Zu Mittag wird es ein Unwetter geben, aber sei unbesorgt, es wird schnell vorüber sein.“

Es war angenehm warm, der wolkenlose Himmel war strahlend blau, und es herrschte vollkommene Ruhe. Warum sollte sie das glauben? Aber, dachte sie, es ist nicht die Art von Mam Brahim, derartige Witze zu machen. Wenn also er so etwas sagt..., und sie begann, den Himmel zu beobachten. Um 11.30 Uhr wurde die Ruhe nur durch die metallischen Geräusche der Töpfe, die Stimmen und das Lachen aus der Küche gestört. Der Krieg schien unendlich fern, und das Gewitter ebenso.

15 Minuten später erhob sich aus dem Nirgendwo heftiger Wind. Unter seiner Kraft bogen sich sogar die Stämme der jungen Bäume, Zweige brachen, Blätter flogen durch die Luft und, so wie diese, alles, das nicht gut genug fixiert war. Die Teetrinker liefen weg, um sich unterzustellen, aber bevor sie einen Schutz erreicht hatten, waren sie vom schweren Regen komplett durchnässt.

Tatsächlich war das Unwetter eine Viertelstunde später vorbei. Aber es hatte Schlamm und Verwüstungen zurückgelassen. Die Menschen in dieser Gegend kannten dieses Spiel der Natur. Sie wussten sogar das jeweilige Datum und die Uhrzeit. Weil sie nichts dagegen tun konnten, ließen sie es geschehen und ignorierten es.

Die Pasdaran rücken heran

Damit war es noch nicht zu Ende mit unerwarteten Geschehnissen. Bevor das Essen beendet war, kam ein Peschmerga und sagte, dass die Armee der Pasdaran in Richtung Oschnavijeh unterwegs und nur noch zehn Kilometer entfernt war. Lena und ihre Peschmergas mussten die Gastgeber eilig verlassen und sich auf den Rückweg machen.

Durch einen Abschneider konnten sie die Entfernung zur näher rückenden Armee vergrößern. Dieser führte über eine gerade Strecke quer über die Berge und war mit dicken Steinen gepflastert, die durch den Regen rutschig geworden waren. Wie alle Jeeps der DPKI hatte auch ihr Jeep alte Reifen ohne Profil. Plötzlich bewegte er sich nicht länger vorwärts, sondern fing an, langsam auf eine steil abfallende Felswand zuzurutschen. Der Fahrer quälte den Motor, aber der Jeep glitt weiter. In diesem Moment geschah etwas Unerklärliches. Mehrere unbekannte Peschmergas tauchten auf und schrieen:

„Tut nichts! Keiner bewegt sich!“

Sie hoben den Jeep an, setzten ihn auf die sichere Seite des Weges und liefen zu ihrem eigenen Jeep, der rund 20 Meter entfernt stand.

Nun hatten Lena und ihre Peschmergas die Stadt alleine verlassen und bis hierhin keinen anderen Jeep auf der Route gesehen. Gerade wollten sie dem Jeep ihrer Retter nachfahren, aber da war er auch schon verschwunden. Lena meinte zu träumen. Irgendjemand rief:

„Das war ein Wunder!“

Vielleicht. Aber was ist, wenn man nicht an Wunder glaubt?

Im Hauptquartier waren alle damit beschäftigt, den Ort durch Tarnungen zu sichern. Auf einer Generalstabskarte zeigte Abdul Rahman Lena den allgemeinen Angriffsplan des Feindes. Er war stolz auf die mitgebrachten Informationen der eben Zurückgekommenen. Aber in Laufe des Tages geschah nichts mehr. Der Feind blieb in den Kasernen. Seine Strategen trieben immer wieder dieses Versteckspiel mit der DPKI. Abdul Rahman sagte:

„Umso besser. Er gibt uns Zeit, uns auf den Kampf vorzubereiten.“

Er sprach ruhig, als ob er mit einem sicheren Scheitern des Gegners rechnete.

Englischunterricht für die jungen Peschmergas

Unter den jungen Leuten im Hauptquartier gab es keinen, der eine Fremdsprache konnte. Lena beschloss daher, einen Englischkurs einzurichten. Sie würde nicht vor dem 5. Kongress der DPKI nach Europa zurückkehren, der im Winter stattfinden sollte. Sie war dazu als Photographin eingeladen. Es war gerade mitten im Hochsommer, und so hatte sie mehrere Monate Zeit, um Englischunterricht zu geben. Das Politbüro hatte ihr durch ihren Mann grünes Licht gegeben. Allerdings erwiesen sich die Vorbereitungen für diesen Unterricht als schwierig. Schnell hatte sie 36 Bewerber gefunden. Ein ausreichend großes Zimmer wurde ihnen zur Verfügung gestellt, eine schwarze Tafel wurde montiert, und ein Vorrat an Kreide bereitgestellt. Aber die Partei hörte nicht damit auf, die künftigen Schüler zu Einsätzen zu schicken, und das Datum für den Beginn des Kurses musste immer wieder verschoben werden. Eines Tages reichte es Lena, und sie wurde laut:

„Sag’ mir, wann ich endlich mit dem Kurs anfangen kann, und das sofort!“ Dieses Mal war ihr Gegenüber Dr. Saïd.

„Wenn du so darauf bestehst, dann fang’ jetzt gleich an.“

Sie schwieg. Hätte sie ihrem Ärger schon früher Luft gemacht und so wie eben geschrieen, wäre die Antwort vielleicht die gleiche gewesen. Warum hatte sie bis dahin so viel Rücksicht genommen? Statt sich freuen zu können, machte sie sich wegen der verlorenen Zeit Vorwürfe.

Wenigstens jetzt wollte sie sofort beginnen, aber die Sache war nicht ganz so einfach:

Eine beträchtliche Anzahl ihrer Schüler war abwesend. Die „schwarze“ Tafel war bestenfalls hellgrau, und die Kreideschrift darauf unleserlich. Sie wählte als erste Aufgabe ein Diktat mit kurzen, einfachen Sätzen, und musste feststellen, dass nur drei ihrer Schüler lateinische Buchstaben ohne Schwierigkeiten schreiben konnten. Auch bei diesen Dreien wimmelte es im Text vor Fehlern. Immerhin hatten alle nur wenige Jahre zuvor die Matura gemacht und gaben an, Englischunterricht gehabt zu haben. Das Dringendste war nun, dass sie ihnen das lateinische Alphabet beibrachte. Abgesehen von einigen Ausnahmen lernten sie es binnen drei Wochen. Angesichts des Umstands, dass immer einige Schüler fehlten, weil sie bei Einsätzen waren, und daher für sie der inzwischen durchgenommene Stoff bei deren Rückkehr wiederholt werden musste, war das ein Erfolg. Dann konnte der eigentliche Sprachunterricht anfangen, und sie wollte nur diesen vermitteln. Die Schüler jedoch waren neugierig und stellten zahlreiche Fragen darüber hinaus. Ihre Vorstellungen vom Leben in Europa und von Demokratie waren außerordentlich konfus. Lena ergänzte also den Sprachkurs durch Debatten über diese Angelegenheiten, die entweder in den Pausen oder nach dem Ende des Englischunterrichts stattfanden. Dies wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des täglichen Lebens im Tal der Demokraten.

Im Oktober machten es die Vorbereitungen für den Kongress nötig, dass die Schüler immer häufiger Einsätze durchführen mussten. Binnen vier Wochen war die Schülerzahl auf rund 20 gesunken. Das Datum des Kongresses war für Anfang Dezember festgelegt worden. Mitte November informierte Dr. Saïd Lena, dass der Unterricht binnen eine Woche eingestellt werden müsse. Alle Schüler wurden gebraucht. Also organisierte Lena für jene „Veteranen“, die durchhalten hatten können, eine Abschlussprüfung. Bei allen bis auf zwei war das Ergebnis zufriedenstellend, und sie erhielten ein positives Zeugnis über „elementares Englisch“.

Der Abschiedsabend anlässlich des Endes des Kurses war berührend. Lena war es schwer ums Herz. Ihre Schüler wussten, dass sie bald nach Europa zurückkehren würde. Einer von ihnen zog in seiner Rede eine sehr emotionale Bilanz des Unterrichts und schloss:

„Komm’ schnell zu uns zurück, Khoschka Nasrin.“

Die „überlegenen“ Volksmudschaheddin

Es ist unvermeidlich, auch über die Volksmudschaheddin von Massud Radschavi zu berichten, so wie wir sie kennen gelernt haben. Bei ihnen handelte es sich um eine pan-iranische Organisation, die gleichzeitig für Marxismus und Islam eintrat.

Eine Gruppe von etwa 40 Mitgliedern dieser Mudschaheddin war gekommen und suchte Zuflucht bei der DPKI. Sie wurden in einem eigenen Haus untergebracht, mit Essen versorgt, von den Leuten im Hauptquartier mit viel Respekt behandelt und unterstützt. Allerdings beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Der Großteil dieser Gruppe zeigte den Gastgebern, dass man sich diesen gegenüber klar überlegen fühlte. Abdul Rahman machte sich darüber lustig, und erzählte, wie er die Mudschaheddin nach deren Ankunft begrüßen gegangen war. Wie üblich schüttelte er jedem der Männer die Hand. Als er dasselbe aber bei den Frauen tun wollte, versteckten diese ihre Hände hinter dem Rücken. Abdul Rahman lachte sogar darüber.

Einmal pro Woche setzten sich die Bewohner des Hauptquartiers zusammen, um die Berichte der Mitglieder des Politbüros über die Neuigkeiten in Kurdistan, im Iran und auf der Welt zu hören. Auch der Chef der Mudschaheddin hielt eine Rede zur Lage des Iran und wies darin u.a. darauf hin, wie weit seine Leute über jenen der DPKI standen.

Die iranischen Mudschaheddin gehörten dem schiitischen Zweig des Islam an, die Kurden sind mehrheitlich Sunniten. Schiitische Frauen dürfen sich von keinem Mann berühren lassen, der nicht ihrer Familie angehört. Die Mudschaheddin-Frauen im Hauptquartier hielten sich strikt an dieses Dogma. Allerdings hatten sich im Iran bereits viele Frauen schiitischen Glaubens von diesem erniedrigenden Zwang befreit. Tatsächlich nahmen die Schiiten das Leben sehr ernst, während die Kurden, gleichgültig, ob sunnitisch oder schiitisch, ein fröhliches Volk sind. Sie nützen die Freuden des Lebens, lachen und scherzen gerne. Sie singen und tanzen im Kreis, Männer und Frauen Hand in Hand. Bei all dem sind sie wie die anderen gläubige Moslems und ebenso wie diese arm und gedemütigt. Sie glauben an einen Gott, der ihnen ihr Verhalten nicht übel nimmt, weil er „Der Gnädige“ ist.

1981 wurde in Paris der Nationale Widerstandsrat mit Massud Radschavi an der Spitze gegründet. Um eine gemeinsame Kraft gegen die Rückschrittlichkeit des Mullah-Regimes zu bilden, schlossen sich in diesem Rat Organisationen und Parteien aus dem Widerstand gegen Khomeini sowie auch bekannte Persönlichkeiten zusammen. Abdul Rahman und Dr. Saïd vertraten die DPKI. Aber sie fanden rasch heraus, dass gleiches Recht für alle Partner hier nicht galt. Daher verließ die DPKI den Widerstandsrat, und andere folgten ihr, weil sie die von Radschavi geforderte Unterordnung nicht akzeptierten.

Abdul Rahman zeigt herrisches Verhalten

Bereits seit einiger Zeit konnte es sich als ein Irrtum oder ein Missgeschick herausstellen, wenn man Abdul Rahman kritisiert hatte. Eines Abends war Lena mit Abo, Aras und Asmar beisammen. Ihre Freunde sprachen offen und waren der Meinung, sie könnte ihren Mann zur Vernunft bringen. Herrschaftliche und herrische Verhaltensweisen, die sich ihr Generalsekretär gegenüber einigen Parteimitgliedern zugelegt hatte, während er andere deutlich bevorzugte, beunruhigten die Freunde. Das zeigte sich in besonders verhängnisvoller Form, wenn es um Leute ging, die an die Front mussten. Lena verteidigte den Chef, aber ihre Freunde wandten sich gegen sie:

„Du bist nie mitten im Feuer eines Kampfes gewesen und du warst auch nie dabei, wenn Kak Doktor diese Menschen beleidigt.“ Das stimmte.

Bald darauf sprach sie darüber mit ihrem Mann. Zufällig befanden sich Abo und Aras in der Nähe. Abdul Rahman sah sie, stürzte sofort hinaus und warf ihnen vor, „Propaganda gegen die DPKI“ zu machen.

„Aber, das ist doch empörend und unzulässig! Statt nachzudenken, verdrehst du, was ich dir erzählt habe, und tust ihnen Unrecht!“

„Meine Frau wird mir nicht vorschreiben, wie ich mich meinen Untergebenen gegenüber zu verhalten habe!“, gab er zurück und sprach von ihr in der dritten Person. Sehr schnell aber fing er sich wieder und versicherte, das wäre nur ein Scherz gewesen.

Dennoch konnte er sich großzügig, ja sogar unbekümmert, zeigen. Seine Nichte Suheila war Mitglied der Organisation der Volksfedajin, die sich unter der Führung von Aschraf Dehqani in der Nähe im Tal niedergelassen hatten. Der Chef sandte die Nichte gelegentlich zu deren Onkel, damit sie Dinge besorgte, die den Fedajin fehlten. Abdul Rahman nahm diese Organisation nicht ernst und noch weniger seine Nichte. Aber er half ihnen. Einmal kam Suheila, bat um Papier für die Zeitschrift Aschrafs und erhielt Hunderte Blätter. Sie wurden für die Veröffentlichung eines von Aschraf gezeichneten Artikels verwendet, der voll mit Verleumdungen gegen die DPKI und deren Generalsekretär war. Abdul Rahman lachte darüber.

An einem Tag im November kam er völlig heiser nach Hause. Er hatte in einer eiskalten Moschee einen Vortrag gehalten. Daheim wartete ein Gruppe junger Leute auf ihn. Er ärgerte sich über einen darunter, und seine Reibeisen-Stimme wurde wirklich ulkig. So lange sie konnten, unterdrückten die Jungen ihr Bedürfnis zu lachen, dann aber konnten sie nicht mehr und platzten heraus. Abdul Rahman war tatsächlich ein intelligenter Mann. Das Gelächter hatte die Sturzflut seiner Vorwürfe gestoppt, und er schloss sich ihm mit seinem ansteckenden Lachen selbst an. In der allgemeinen Heiterkeit vergaß er seinen Ärger.

Kein Pardon für Mord als „Beweis der Treue“

Es kann immer passieren, dass aus einer Dummheit etwas Kriminelles wird, vor allem bei Menschen, die ein wenig einfältig geblieben sind. Sannar hatte die DPKI zwei Mal verlassen und sich ihr wieder angeschlossen. Bei der dritten Rückkehr wollte er beweisen, dass seine Absichten diesmal ernsthaft seien. Diesen Gedanken im Kopf, tötete er Rahman Qadri, eines der Mitglieder der „Gruppe der Sieben“ (die sich von der DPKI abgespalten hatte) und ließ ein anderes Mitglied dieser Gruppe einsperren. Als Abdul Rahman davon erfuhr, ließ er letzteren sofort enthaften und Sannar dafür verhaften. Aber Rahman Qadri konnte er nicht wiederbeleben.

Wenn er darum gebeten wurde, zögerte Abdul Rahman nicht zu helfen. Aber seine guten Dienste anzubieten, kann manchmal mit einem fragwürdigen Hintergrund verbunden sein und mit Undank gelohnt werden. Zwei Franzosen waren von der militärischen Abteilung der irakischen, kommunistischen Partei (KP) als Geiseln genommen und ins Hauptquartier gebracht worden. Sie waren Techniker, die sich auf den Bau von Bewässerungsdämmen spezialisiert hatten, und Angestellte einer französischen Firma, die einen Vertrag mit der irakischen Regierung hatte. Es war Abdul Rahman gelungen, die Militärs der KP des Irak zu diesem Transfer der Geiseln zu überreden (die Lage dieser Kommunisten im Untergrund war prekär, und der Quai d’Orsay – das französische Außenministerium – hatte die DPKI um Hilfe ersucht). Abdul Rahman hatte der irakischen KP aber sein Wort geben müssen, dass die Geiseln nicht nach Frankreich zurück gebracht würden, bevor nicht eine beträchtliche Summe an Lösegeld bei der Partei eingelangt wäre. Abdul Rahman akzeptierte diese Bedingung und dachte, die Firma der Geiseln würde dafür sorgen. Die Prozeduren im Bemühen um die Freilassung zogen sich dahin, der geforderte Betrag kam nicht.

Der Generalsekretär der DPKI musste sich an sein Wort halten. Täte er das nicht, wäre er unglaubwürdig, sollte sich neuerlich ein ähnliches Problem ergeben, und könnte niemandem mehr helfen. Nach einigen Monaten sandte er einen Boten der DPKI mit der geforderten Summe zur irakischen KP, und die DPKI konnte endlich die Geiseln nach Frankreich zurückschicken. Es hieß, dieser Betrag sei von der Regierung Frankreichs und von Angehörigen der Geiseln aufgebracht worden.

In Paris beschuldigten bestimmte Beamte der Verwaltung die DPKI des Betrugs.

Vorbereitungen für den 5. Kongress der DPKI

Kalte Nächte und Regenfälle wurden immer häufiger. Gegen elf Uhr brachte die Sonne die Morgennebel zum Verschwinden und ließ das Eis schmelzen. Die Straßen wurden unbenützbar, Wolken und schlechte Sicht behinderten Bombardierungen. Der Feind bedrohte sie nicht mehr so oft, obwohl die MiG-Kampfflugzeuge immer noch von Zeit zu Zeit das Tal überflogen.

Die Berge der Umgebung konnten das Regenwasser nicht mehr aufnehmen, und es strömte donnernd durch das Tal der Demokraten. Man watete durch Schlamm. In den Häusern war es feucht und kalt. Der Krieg ging in eine Winterpause.

Aus allen Richtungen kamen die Parteifunktionäre, um an den Ratssitzungen vor dem Kongress teilzunehmen. Abdul Rahman war überlastet und hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Eine dringende Nachricht besagte, dass sich Dschasch näherten, um das Hauptquartier anzugreifen. Ihre Anzahl war unbedeutend, aber man musste sich darum kümmern.

Die Geschichte der Vorbereitungen für den Kongress war turbulent, oder vielleicht einfach sehr kurdisch. Zuerst einmal war es nicht möglich, einen ausreichend großen Veranstaltungsort zu finden, in dem alle Delegierten untergebracht werden könnten. Man hatte am Anfang gedacht, eine Moschee wäre am besten geeignet. Aber darin hätten rund 300 Teilnehmer Platz finden müssen, und dafür waren alle erreichbaren Moscheen zu klein. Also entschied Abdul Rahman am 20. November, auf dem großen Platz im Tal eine Halle errichten zu lassen. Für den 5. Dezember war die Eröffnung des Kongresses fix geplant. Die Arbeiten zum Bau der Halle begannen erst am 27. November. Abdul Rahman beauftragte die Mitglieder des Politbüros, die Baustelle zu kontrollieren, und reiste zu einem Einsatz ab. Bei seiner Rückkehr nach zwei Tagen nahm er Lena mit, als er den Stand der Bauarbeiten sehen wollte. Er war der Meinung, dass bereits am Dach gearbeitet würde. Tatsächlich standen vier Mauern von gerade einem Meter Höhe. Zwei Maurer standen herum, ohne zu arbeiten, und überall war ein Durcheinander. Abdul Rahman sagte nichts, aber Lena fühlte, wie seine Wut wuchs.

„Komm’“, befahl er ihr mit versagender Stimme.

Sie stiegen in das Dorf Schiwadscho hinunter, wo sie die Verantwortlichen des Politbüros zu finden hofften. Dort erwartete sie eine weitere Überraschung. Die Häuser im Dorf, die Wind und Wetter nie wirklich hatten standhalten können, waren jetzt von neuen Mauern geschützt, die aus den für die Halle vorgesehenen Platten gebaut worden waren. Abdul Rahman brüllte und sein Gesicht wurde dunkelrot. Alles lief herum, um die Leute vom Politbüro zu holen. Diese kamen schließlich gelaufen. Sie hörten ihrem Chef zu, wie er ihnen seine Vorwürfe, seine Unzufriedenheit und seine Fragen entgegenschrie. Gegen Ende seines Wutausbruchs sagte er, dass er die fertige Halle am 3. Dezember sehen wolle. Das hieß, binnen vier Tagen, und es war unmöglich. Man müsste zuallererst die Baustelle wieder mit dem nötigen Baumaterial ausstatten, dachte Lena. Bevor sie noch den Mund aufmachen konnte, hörte sie ihren Mann wieder brüllen:

„Diesmal werde ich selbst die Arbeiten überwachen!“

Die Natur meinte es nicht gut mit ihnen. Überall standen durch den kalten Dauerregen Wasserlachen, und alles Erdreich war aufgeweicht. Am Nachmittag des darauffolgenden Tages gingen sie beide wieder zum Bauplatz hinunter, um sich ein Bild zu machen. Abdul Rahman hatte sich beruhigt und erkannte, dass er allein nicht in der Lage war, alles benötigte Material oder auch die notwendigen Arbeitskräfte aufzutreiben. Aber das Glück war ihm wohlgesonnen: Während sie gerade überlegten, wie denn dieser gordische Knoten aufgelöst werden könnte, trafen sie M. Bagdadi, ein eben eingetroffenes Mitglied des Zentralkomitees. Dieser kannte jeden in der Region und bot seine Dienste an. Er versicherte, das alles Nötige getan werden würde, damit die Halle am 5. Dezember bereitstehe.

Am frühen Morgen ging Lena alleine zum Bauplatz. Die Versprechungen von M. Bagdadi waren ihr etwas übereilt vorgekommen. In Europa dauert die Errichtung einer besseren Hütte mehrere Monate, und hier sollte eine riesige Halle in ein paar wenigen Tagen gebaut werden? Sie konnte kaum glauben, was sie sah: M. Bagdadi stand auf einer kleinen Anhöhe und leitete die Arbeiten. Die Mauern hatten die geplante Höhe erreicht, und die Zimmerleute sollten noch im Laufe des Tages das Dach aufsetzen. Das nötige Material befand sich bereits an Ort und Stelle und musste nur noch montiert werden.

Das Regime allerdings tat alles, um die Abhaltung des Kongresses zu behindern. Die von den umliegenden Hügeln ausgehenden Bombenattacken nahmen an Intensität zu. Die Garnison von Sardascht, der dem Tal am nächsten liegenden Stadt, war durch ein Kommando von 700 „Kolah-e sabs“ (Grünkappen) zur Unterstützung der Armee verstärkt worden, um die „Säuberung“ unter den Zivilisten und die Angriffe gegen die DPKI voranzutreiben. Die zahlenmäßig verstärkten Peschmergas wurden in die sensiblen Zonen geschickt, und die Dorfbewohner der Umgebung des Tals aufgefordert, außer Kongressteilnehmern niemanden in den kritischen Bereich hinein- oder daraus hinauszulassen.

5. Dezember. Eine gewaltige Halle mit Dach steht im Prinzip zur Verfügung, aber noch ist nicht alles bereit. Beleuchtung, Mikrophone, Fenster, Podium, Heizöfen, etc. fehlen noch. Und der Chef lässt keinen in Ruhe arbeiten. Er steckt seine Nase überall hinein, kritisiert alle und alles, regt sich auf, brüllt Befehle – und meint, dass ohne ihn nichts weiterginge. Es stimmt schon, dass ohne seine Tatkraft die Halle nicht in so kurzer Zeit hätte errichtet werden können, aber an jenem Tag übertreibt er. Von einer Leiter aus neigt sich ein großgewachsener, schlanker Bursche zu Lena und flüstert in ihr Ohr:

„Um Himmelswillen, bring’ ihn von hier weg. Er soll sich ausruhen. Wenn er da ist, kommen wir überhaupt nicht zum Arbeiten!“

„Liebling, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“

„Warum?“ Die Frage klang nicht freundlich.

„Du musst deinen Vortrag noch einmal durchlesen und dich außerdem ein wenig erholen.“

„Ach was soll’s! Ich habe noch genug Zeit.“

„Lass’ die Leute in Ruhe arbeiten, du störst sie.“

„Ich störe niemanden! Sie sollen nur ordentlich weitermachen“, ärgerte er sich. „Auf jeden Fall kann ich ohne Schuhe nirgendwo hingehen. Man hat sie mir weggenommen, um sie zu putzen.“

Er ärgert sich auch über Lena. Sie blickt auf seine Füße. Er steht in Socken da. Also macht sie sich auf die Suche nach dem Schuhputzer, zieht ihrem Mann die Schuhe an und schleppt ihn nach Hause ab.

Die DPKI wird nicht „sozialistisch“, sondern bleibt „demokratisch“

Rund um die Halle geht es zu wie in einem Ameisenhaufen. Die von überall her gekommenen Teilnehmer treffen einander nach langem wieder. Der Regen, der Schnee, die Kälte, der Wind und der Schlamm machen ihnen nichts aus.

Auch am 6. Dezember sieht es ähnlich aus wie am Tag davor. Abdul Rahman ist überall, leitet alles, kritisiert alle – und wird müde. Dann der 7. Dezember. Der Himmel unterstützt den Verlauf des Kongresses: Es regnet, die Wolken hängen tief, hindern die feindlichen Flugzeuge am Starten, und der Kongress kann mit nur zwei Tagen Verspätung beginnen.

Der 5. Kongress war lebhaft, voller Widersprüche, Kritik, Vorschläge und Ablehnungen. Nur ein Beispiel: Im Zuge der Diskussion über das Parteiprogramm schlugen einige der Delegierten vor, das Wort „demokratisch“ im Parteinamen zu streichen und durch „sozialistisch“ zu ersetzen. Ein weiterer Vorschlag dazu wollte „realsozialistisch“ im Namen haben. Letzten Endes beendete Abdul Rahman die Diskussion:

„Ihr habt Angst vor dem Wort ‚demokratisch’? Gut. Nehmen wir also das Wort ‚sozialistisch’ unter Berücksichtigung der spezifischen Verhältnisse im iranischen Kurdistan.“ Eine Mehrheit stimmte diesem Vorschlag zu. Und dennoch wurde der Name der „Demokratischen Partei Kurdistans im Iran“ (DPKI) niemals geändert.

Lena dachte voll Verbitterung an den „realen Sozialismus“ der Tschechoslowakei, an die von der Nomenklatura bestimmte „Freiheit“ der Völker. Sie sah, wie tief überzeugt die Kurden waren, wie sehr sie sich frei äußern konnten und wie heftig sie für ihre eigene Freiheit kämpften. Die mit Füßen getretenen Freiheiten im sowjetischen Block waren aus der so großen Entfernung nicht wahrnehmbar; und unter den kurdischen Verantwortlichen gab es im Jahre 1981 noch immer solche, die den sowjetischen Sozialismus verteidigten.

Die Wahlen waren geheim. Die Mehrheit stimmte für das vorgelegte Programm, aber die Zahl der Gegenstimmen war beträchtlich. Es würde also nötig werden, das Programm besser zu erklären und schließlich abzuändern.

Bereits zum vierten Mal nacheinander wurde Abdul Rahman zum Generalsekretär gewählt. Dazu ist festzuhalten, dass er niemals die Mehrheit der Stimmen erhalten hatte. Bei der 3. Konferenz 1973, als er für diesen Posten vorgeschlagen worden war, ging die Stimmenmehrheit an Mohammed Amin Sarradchi, beim unmittelbar darauf gefolgten 3. Kongress an Karim Hussami, beim 4. Kongress dann an Ghani Bulurian und beim 5. schließlich an Asis Mameli. Aber das jeweils neu gewählte Politbüro bestimmte den Generalsekretär.

Die Abschlussfeier fand ebenfalls in der Halle statt. Es war bereits nach Mitternacht, als ein Peschmerga mit kraftvoller und schöner Stimme zu singen begann: „Dayaki Kurdistan, magri“ (Weine nicht, Mutter Kurdistans), ein langes Lied, das vom Unglück der Kurden erzählt. Es war völlig still in der Halle. Alle hier hörten dem Sänger mit dem Respekt jener zu, die Zeugen desselben Schicksals sind.

Die schreckliche Geschichte von Hassan Schiwassali

Als DPKI-Verantwortlicher für den militärischen Bereich war Hassan Schiwassali Chef der Garnison des freien Mahabad. Er war ein tapferer Kämpfer und intelligent, alle mochten ihn. Zwei seiner alten Freunde hatten versprochen, ihm ein Buch eines großen, iranischen Poeten zu senden, den er besonders schätzte. Als bei ihm ein schweres Paket eintraf, hielt Hassan es für das versprochene Buch. Im Augenblick, als er es öffnete, hallte der Knall einer Explosion in den Bergen wider. Die Bombe hatte Hassan beide Hände weggerissen und seine Augen zerstört. Dazu kamen noch mehrfache, weitere Verletzungen. Im Spital in Bagdad wurde sein Fall als hoffnungslos eingestuft. Man beschloss, ihn nach Frankreich zu bringen.

Bei der Ankunft auf dem Flughafen Orly in Paris delirierte Hassan und glühte vor Fieber. Im Spital von Créteil kamen international renommierte Spezialisten zur selben Diagnose wie ihre Kollegen in Bagdad: „Die Überlebensaussichten sind so gut wie null“, konstatierten sie.

Aber das gesamte Personal des Krankenhauses machte den Fall Hassans quasi zum jeweils eigenen Anliegen. Monatelang versuchten sie alles, um ihm ein trotz allem lebenswertes Dasein zu ermöglichen. Aber wie kann man jemandem die Kraft für ein Leben ohne Augen und Hände geben?

Es heißt, dass man dem Unglück nicht in den Bergen begegnet, sondern unter den Menschen. Hassan hatte in Kurdistan eine Verlobte gehabt. Sie verließ ihn. Es heißt auch, dass das Schicksal manchmal seinen Lauf ändert. Die Schwester dieser verlorenen Verlobten wurde seine Frau. Aber Hassan verbrachte Jahre mit der Suche nach einem Zweck seines Lebens. Dank der Liebe seiner Frau wurde er ein glücklicher Ehemann und Vater mehrerer Kinder, wenn man das von einem Menschen sagen kann, der vom Schicksal so schwer geschlagen wurde.

Als Hassan außer Lebensgefahr war, vertraute Abdul Rahman Lena seine eigene Gemütsverfassung als Chef der Krieger an:

„Am Anfang des Krieges hatte ich Gewissensqualen. Ich habe Menschen in den Kampf geschickt und gewusst, dass ihnen der Tod drohte. Die ersten Opfer waren entsetzlich. Ich konnte nicht schlafen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Das ist der Krieg.“

Der Krieg an sich ist eine reine Perversion. Er drängt sich verstohlen in die Seele jener, die ihn führen, manipuliert sie und lässt sie nicht mehr frei. Eine empfindsame Seele kann darunter leiden, aber sich nicht aus den Verpflichtungen lösen.

Das schlimme Los der freien Gebiete Kurdistans

Die militärischen Kräfte der DPKI waren zahlen- und ausrüstungsmäßig weit davon entfernt, denen der Armeen Khomeinis zu entsprechen. Sie hatten der schweren Bewaffnung des Regimes nur leichte Waffen entgegenzusetzen. Hinter ihnen stand keine Macht zu ihrer Unterstützung. Von Seiten der demokratischen Staaten gab es bestenfalls moralische Stärkung. Die Partei konnte nur auf den Mut und die Überzeugung ihrer Peschmergas zählen, die sich mit der Entschlossenheit jener schlugen, die für eine gerechte Sache kämpfen. Aber sie hatten nicht die für ihren Kampf nötige, materielle Ausstattung. Es ist ein Faktum, dass das Eine ohne das Andere fruchtlos bleibt.

Nach fast drei Jahren des Fronten-Krieges gegen die Regierungsarmeen sah sich das Hauptquartier zum Ortswechsel gezwungen. Das Dorf des Tals der Demokraten wurde den Dorfbewohnern übergeben. Die Kampftaktik wurde der neuen Situation angepasst, und der Partisanenkrieg begann. Die Mitglieder des Hauptquartiers lebten wie die Peschmergas in Zelten und manchmal unter freiem Himmel. Der Kampf um die Autonomie des iranischen Kurdistan sollte seine Kehrseite zeigen. Die befreiten Gebiete fielen Stück für Stück an den Feind zurück.

Mitten im Krieg gegen den Irak und gegen die Kurden installierte Khomeini ein Regime, das alle zum Schweigen brachte, die anders dachten als er selbst. Seine Analysen der Koranverse variierten rund um die Bedürfnisse dieses Anhängers des religiösen Totalitarismus. Er setzte Größenwahnsinnige und Komplexbeladene auf Posten, die es ihnen ermöglichten, das Leben der Bürger zu kontrollieren und sie zu bestrafen. Sie hatten dabei grünes Licht. Kinder und Erwachsene landeten vor den Erschießungskommandos, und das Regime beglückwünschte sich dazu.

Trotz allem war von den verschiedenen Völkern des Iran und auch jenseits der Grenzen in den kurdischen Regionen der Nachbarländer der Anfang des Aufbaus einer von allen anerkannten Demokratie durch die DPKI während deren Verwaltung in den befreiten Gebieten sehr begrüßt worden. Der Kampf der Kurden des Iran war zu einem Beispiel für deren Mut geworden, und es wehte einen Hauch von Hoffnung durch die Region.

Die Zweifel wachsen

Lena hatte viele Freunde unter den Kurden. Die meisten waren Mitglieder der DPKI. Sie sah sie bei ihrer Arbeit, sie hörte ihnen zu und sie diskutierte mit ihnen. Man konnte niemals an deren Hingabe für die Sache der Kurden und deren Treue zur DPKI zweifeln. Aber nach und nach erhielt sie Nachrichten, denen zufolge bestimmte Leute die Partei verlassen hätten. Was konnte eine solche Änderung ihres Verhaltens ausgelöst und ihren Einsatzwillen zerstört haben? Sie verstand es nicht. Wenn sie ihn dazu fragte, antwortete Abdul Rahman, dass das Ausscheiden dieser Leute nur der Reinigung der Partei diene, weil man niemanden brauche, der Zwietracht säe.

Hatte sich Lena so sehr in Menschen getäuscht, die sie geschätzt hatte? Vielleicht. Aber, was wäre, wenn es für deren Verhalten vollwertige Gründe gäbe, über die ihr Mann nicht mit ihr reden wollte? Er war stets sehr zurückhaltend, wenn es um Probleme der Partei ging, und sie respektierte diese Diskretion. Aber manchmal zögerte sie nicht, sich in jene Angelegenheiten einzumischen, die sie ihrem Mann zufolge nichts angingen, besonders, wenn es um die Entfernung von seinen Kampfgefährten ging. Die Antworten, die sie erhielt, konnten sie nicht zufrieden stellen und ließen sie weiter zweifeln. Sie war in der Materie der politischen Wissenschaften nicht ausgebildet und wusste das wohl, also bestand sie nicht weiter darauf und lehnte sich nicht auf. Vorerst.

Nach dem Verschwinden des Verantwortlichen für die Leibwächter Abdul Rahmans wurden ihre Zweifel noch schwerer. Vor seinem Abschied war Khalend noch zu ihr gekommen. Er blieb aufrecht in der Tür stehen.

„Ich möchte mit dir reden, Khoschka Nasrin.“ Er war verlegen und wusste nicht, wie er anfangen sollte. Er war ein völlig der kurdischen Sache ergebener junger Mann, der sie durch seine intelligente Bescheidenheit für sich eingenommen hatte.

„Worüber willst du mit mir reden? Komm’ doch herein und sag’ es mir.“

„Geh’ nicht weg, Khoschka Nasrin, bleib’ bei uns.“ Er fühlte sich nicht wohl.

„Warum verlangst du das von mir?“

„Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht weggehen darfst!“

Das war eine erstaunliche Aufforderung. Er wusste, dass ihre Abreise in zwei Tagen bevorstand.

„Aber du weißt sehr gut, dass ich in Europa für euch abreite. Wie könnte ich das von hier aus machen?“

„Das stimmt. Aber geh’ nicht weg...“

Er war doch näher gekommen und sah sie mit besorgten und bittenden Augen an.

In dem Moment ging die Türe weit auf, und Abdul Rahman kam herein.

„Was tust du hier?!“, fragte er Khalend mit ernstem Blick und strenger Stimme.

„Er ist gekommen, um sich von mir zu verabschieden“, antwortete Lena anstelle des jungen Mannes, der nicht wusste, wohin er blicken sollte und auf die Tür zuging. Die ohnedies schon unangenehme Atmosphäre wurde noch mehr aufgeladen. Sobald Khalend draußen war, bestand ihr Mann darauf, dass sie ihm sage, worüber die beiden in seiner Abwesenheit gesprochen hatten. Lena ärgerte sich:

„Willst du mir vielleicht sagen, seit wann die Leute nicht mehr das Recht haben, mit mir zu reden?“

Es war offensichtlich, dass er Angst hatte, sein Leibwächter könnte etwas offenbart haben. Seit damals hatten die Bitte Khalends und das aggressive Verhalten ihres Mannes die irritierenden Besorgnisse in ihr nicht mehr schwinden lassen.

Neun Monate später fand Lena bei ihrer Rückkehr nach Kurdistan an Khalends Platz dessen Bruder Karim. Sie fragte ihn, wo der Bruder sei, aber er senkte nur den Blick. Ihr Mann informierte sie später, dass Khalend verhaftet, gefoltert und in einem der Militärgefängnisse exekutiert worden war.

„Lieber Gott! Was ist passiert? Das wirst du mir doch wohl sagen! Khalend ist nie zu einem Einsatz in Gebiete des Feindes geschickt worden!“

„Er wollte seinen Dienst bei mir aufgeben. Er war müde. Was konnte ich tun?“

„Khalend! Müde? – Du hättest ihn zurückhalten können, ihm sagen, in welche Gefahr er kam. Du wusstest es besser als irgendjemand sonst!“

Lena war außer sich vor Zorn und verübelte dem Generalsekretär dessen Verhalten. Khalend hatte Kinder, eine große Familie. Sie alle waren von ihm, von seinem Gehalt als Leibwächter, und von seiner Hilfe abhängig gewesen. Er hatte seinem Chef loyal über Jahre gedient – warum hatte er so etwas getan! Sie argwöhnte, dass der Abschied Khalends etwas mit dessen Bitte vom vorangegangenen Jahr zu tun gehabt habe.

Nicht verschwundene Zweifel werden zu Verdacht und vervielfachen sich.

Alle politischen Parteien verbergen vor ihren Anhängern, ja vor der ganzen Welt, in gewissen Angelegenheiten die Wahrheit. Aus Gründen, die sie für gerechtfertigt halten, modifizieren sie diese Wahrheit oder unterdrücken sie völlig. Die DPKI war dabei keine Ausnahme. Lena hätte es gerne verstanden: Da war der Feind, es gab Krieg, Gefahr, Tote, den Mangel. Aber sie wollte das alles in einem Fall wie jenem Khalends nicht akzeptieren.

Trotz Scheidung weitere Zusammenarbeit

Lena musste sich damit abfinden. Schon seit langem hatte sich ihr Mann von ihr entfernt, und sein Privatleben fand ohne sie statt. Die Sache, für die er kämpfte, hatte diese Beziehung erdrückt. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, beanspruchte ihn voll und ganz. Das persönliche Leben hatte seine Bedeutung verloren. Trotzdem empfand er das Bedürfnis, von Menschen umgeben zu sein, die ihm emotional zugetan waren – vielleicht nur, um einen Augenblick lang die Bürde zu vergessen, die auf ihm lastete. Lena, seine Frau und engagierte Zeugin, gehörte nicht mehr zu diesen Menschen.

Er stand auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, und ihre Trennung würde keine Auswirkung auf seine Position innerhalb der Partei haben. Lena wusste das. Deshalb verlangte sie die Scheidung. Manche Leute meinten, es habe sich dabei um ein Manöver mit politischem Ziel gehandelt. Das war falsch. Ihr Zusammenleben als Paar hatte keinen Sinn mehr.

Die Trennung hatte übrigens nichts daran geändert, was Lena für die Kurden empfand, die sie liebte und denen sie ihr gesamtes, erwachsenes Leben gewidmet hatte. Sie war weiterhin in deren Diensten aktiv und blieb, bis zu dessen Tod, Vertraute sowie gelegentlich Übersetzerin Abdul Rahmans sowie Verantwortliche für bestimmte Angelegenheiten der DPKI.

Die letzte Reise nach Kurdistan im Krieg

Ihr letzter Besuch in Kurdistan unter Kriegsbedingungen nahm von Anfang an einen ungünstigen Verlauf. Gemeinsam mit Mala Rahman, dem dortigen DPKI-Vertreter, sollte sie Bagdad verlassen. Er war der Begleiter, der sie durch die kurdischen Berge führen sollte. Den üblichen Schutz gab es nicht. Das Hauptquartier hatte ihnen nicht, wie sonst allen Gästen, Peschmergas als Wächter zugestanden. Mala Rahman fuhr den Jeep und schimpfte über seinen Chef, bis sie an einer kleinen Straße ankamen, wo der Leiter des Gefängnisses, Kak Abdollah, auf einer Anhöhe stand und sie erkannte.

„Wo sind eure Bewacher?!“, rief er, „die Komala (die Kommunistische Partei des Iran) blockiert die Route zum Hauptquartier nahe bei Miraweh. Ihr könnt nicht alleine weiterfahren!“

Zwei seiner Peschmergas setzten sich auf die Rückbank des Jeep. Nahe Miraweh wurden sie von Komala-Mitgliedern angehalten. Mala Rahman hatte Lena seine Anweisungen gegeben:

„Sie dürfen nicht erfahren, wer du bist. Ich werde ihnen sagen, du seiest Journalistin. Wenn sie wüssten, dass du die Frau vom Doktor bist, könnten sie dich als Geisel nehmen.“

„Was machen sie mit ihren Geiseln?“

„Sie fordern, dass wir jene Leute von ihnen freilassen, die wir verhaftet haben, oder sie verlangen alles, was ihnen fehlt, Geld, Munition, Nahrung...“

Lena erinnerte sich an die Diskussion, die sie mit ihrem Mann über die Freilassung der französischen und der kanadischen Geiseln gehabt hatte. Er hatte ihr gesagt:

„Du wirst aufpassen, dass du nicht als Geisel genommen wirst! Ich würde nichts tun, um dich frei zu bekommen.“

„Warum?“

„Ich kann das für die anderen tun, aber nicht für meine Familie.“

„Aber... warum?“

„Darum.“

Was folgte, war kein Gespräch. Es war ein Monolog ihres Ehemannes, der ihr nicht mehr antwortete. Hoffte er, jenen den Mund zu stopfen, die ihn der Bevorzugung der einen bei gleichzeitiger Missachtung der anderen beschuldigten, indem er Mitgliedern der eigenen Familie Desinteresse zeigte?

Die Komala-Leute befragten Mala Rahman, konsultierten ihre Verantwortlichen und ließen die Besucher passieren.

Während des Aufenthalts im Hauptquartier bewegte sich die Front, und der Feind kam näher. Bald war es Zeit, zu packen und in Richtung des Tales von Dolatu aufzubrechen. Dort waren bereits Stoffzelte an einem steilen Hang aufgestellt. Lena teilte eines mit Asmar. Im Laufe der Nacht ging sintflutartiger Regen über dem Lager nieder, und alle mussten den Schutz ihrer Zelte verlassen. Das Wasser rann unter ihnen durch und brach die stützenden Stangen. Es war „Rette sich wer kann“.

Lena sollte eigentlich bereits nach Europa zurückkehren. Aber sie musste auf die Entscheidung des Generalsekretärs warten. Die Tage vergingen, und die Abreise wurde ständig hinausgeschoben. Die meisten Verbindungen in den Irak waren bereits geschlossen, und jene, die noch geblieben waren, wurden zunehmend gefährlich. Abdul Rahman wählte die Route durch Vavan. Sie befand sich in Reichweite der Kanonen des Feindes, der am anderen Ufer des Flusses Kalveïe Position bezogen hatte. Dennoch war die Flussüberquerung im Schutz der Nacht möglich. Eines frühen Morgens teilte ihr Abdul Rahman mit, dass sie aufbrechen musste. „Die Reise wird lange dauern“, sagte sie sich, „und wir werden nicht vor Einbruch der Nacht ankommen.“ Sie war bereit, der Fahrer an seinem Platz, und die drei Peschmerga-Wächter waren auch zur Stelle. Ein alter Jeep, fünf Personen und das Gepäck.

Nachdem sie zwei von der Luftwaffe des Feindes zerstörte Phantom-Dörfer, Miraweh und Vavan, passiert hatten, erreichten sie um die Mittagszeit den gefährlichen Abschnitt der Route. Lenas Kenntnisse der Geographie Kurdistans waren lückenhaft, aber sie erkannte, dass die Gruppe zu früh hier angekommen war. Sie waren gerade dabei, im Schutze von Unterholz abzuschätzen, wie die Passage möglich sein würde, als plötzlich eine kleine Anzahl von Leuten auf ihrer Seite des Berges erschien:

„Wohin wollt ihr mit diesem Jeep?“

„Ins Spital, hier entlang.“ Kak Fathullah, der für alle sprach, hatte mit dem Kopf die Richtung gewiesen. Die Reisenden sahen ihn ungläubig an:

„Was redest du da! Ihr könnt diesen Weg nicht nehmen, da kommt ihr nicht lebend durch. Mietet einen Esel für das Gepäck und marschiert zu Fuß über die Berge. Oder dreht um!“ Und die Leute setzten ihren Weg fort.

Fathullah war nachdenklich geworden. Er stieg auf eine Anhöhe, von der man den Fluss und einen Teil der staubigen und steinigen Route sehen konnte. Er sagte:

„Wir können nicht ins Hauptquartier zurück, und wir haben nicht genug Geld, um einen Esel zu mieten.“

Sie wusste das. Am selben Tag übersiedelte das Hauptquartier, und man hatte ihnen nicht gesagt, wohin.

„Hast du eine Lösung?“

„Im Moment keine.“ Er fühlte sich gar nicht wohl.

Lena hatte eine Idee, aber sie wusste nicht, ob es eine gute war. Sie wandte sich an den Chauffeur:

„Welche Höchstgeschwindigkeit kannst du aus dem Jeep herausholen?“

„60 vielleicht. Aber vergiss’ nicht, dass er überladen und die Straße beschädigt ist.“

„Ich vergesse es nicht. Du wirst das Tempo oft ändern, einmal beschleunigen, dann wieder verlangsamen. Das wird es schwierig machen, die Kanonen auf das Ziel zu richten. Hast du verstanden? Seid ihr alle einverstanden oder habt ihr eine bessere Lösung?“

Sie hatten keine und stimmten zu. Im Jeep zogen sie die Köpfe ein, um nicht gesehen zu werden, und auch der Fahrer machte sich hinter dem Lenkrad so klein wie möglich. Sie mussten nur einige, wenige Kilometer durchhalten. Auf etwa der Hälfte der Strecke schlug eine Bombe direkt hinter dem Jeep ein und rüttelte sie kräftig durch. Ansonsten bewährte sich Lenas Vorschlag. Das Spital lag in einer Talmulde inmitten eines bewaldeten Berggebiets fast schon außerhalb der Reichweite der Geschütze. Um dorthin zu gelangen, mussten sie die Straße verlassen, die entlang des Flusses weiterlief, und einen steilen und engen Weg zum Spital hinauffahren. Der Jeep stotterte, schien den Geist aufzugeben, und der Chauffeur konnte die Geschwindigkeiten nicht mehr wechseln. An beiden Seiten des Weges schlugen Bomben ein und setzten den Wald in Brand. Als sie ankamen, stiegen sie so rasch wie möglich aus und suchten Deckung. Sie waren lebend herausgekommen, aber der Fahrer hatte den Jeep zu früh angehalten. Er stand nun an einer für die Schützen gut einsehbaren Stelle. Glücklicherweise zielten diese schlecht, und die Bomben zündeten weiterhin den Wald an. Der Chauffeur nützte schließlich eine Pause des Feindes, der die Geschütze nachlud, und brachte den Wagen an einen geschützten Ort. Die vier Reifen waren jedoch platt. Um die Fahrt fortzusetzen, mussten sie dieselbe Route wieder benützen und warteten auf die Nacht. In dieser Zeit konnte der Fahrer die Reifen notdürftig flicken.

Das Spital war leer. Die Kranken waren abtransportiert worden. Nur ein Ehepaar war geblieben, um die Fliehenden zu empfangen. Die Vorräte waren nahezu aufgebraucht und würden bald völlig erschöpft sein. Auch dieses Verwalter-Paar sollte dann den trostlosen Ort verlassen. Es wurde erwartet, dass die Armee den Hügel binnen Kurzem besetzen würde.

Ein wegen seiner Ortskenntnisse unersetzliches Ekel

Am Nachmittag hörten sie plötzlich merkwürdige Geräusche vom Gipfel des Berges her. Wenige Momente danach kugelten vier Peschmergas einer nach dem anderen herunter und landeten gemeinsam mit dem Chef vor ihren Füßen. Sie kamen von der anderen Seite des Berges und waren beim Herunterfahren von den Kanonieren geortet worden. Es war ihnen gerade noch gelungen, sich zu retten, bevor ihr Jeep von einer Bombe getroffen worden war. In ihrer Panik waren sie den Berg, sich im Buschwerk überschlagend, bis zur Lichtung beim Spital heruntergelaufen. Bis auf einige Abschürfungen waren sie gesund und wohlbehalten.

Auf diese Weise begegnete Lena H.M., einen der Verantwortlichen der DPKI. Das, was sie sah und kennen lernte, gereichte weder diesem Mann, noch der DPKI zur Ehre. Sobald er wieder auf den Füßen war, forderte er, dass sofort für ihn Wasser heiß gemacht würde, damit er sich duschen könnte. Gleichzeitig habe Essen für ihn vorbereitet zu werden. Die Verwalterin sagte ihm, dass es fast keine Vorräte mehr gebe und fragte ihn, ob er trotz allem außer Reis noch Erdäpfel oder Paradeiser wolle. Er stolzierte vor allen herum, spielte den großen Chef und erteilte rüpelhaft Befehle, ohne sich jemals zu bedanken. In arrogantem und verletzendem Ton bestand er darauf, dass sämtliche verfügbaren Lebensmittel für ihn zubereitet würden. Die tapfere Frau rief ihrem Mann im Haus zu, sich beim Wärmen des Wassers für die Dusche zu beeilen und verschwand selbst in der Küche. Sogar der Generalsekretär der Partei, der dieser Peschmerga-Kommandant angehörte, gestattete sich kein derartig forderndes Auftreten und sprach mit niemandem in einem vergleichbaren Ton.

H.M. hielt sich aus allem heraus. Die Peschmergas standen beisammen und schwiegen. Sobald H.M. unter der Dusche war, wollte Lena mehr über dieses Ekel wissen.

„Ist er immer so?“

„Ach ja, und noch schlimmer“, antwortete Fathullah.

„Das heißt?“ Sie schaute jetzt die Peschmergas von H.M. an. Diese zögerten mit einer Antwort und blickten auf Fathullah, der ihnen ein Zeichen machte, dass man unter sich sei.

Das, was sie überstürzt erzählten, war schwer zu glauben. Aber die vier Peschmergas in Lenas Begleitung hatten selbst mit H.M. ähnliche Erfahrungen gemacht und ergänzten, was die anderen erzählten. Wie konnte man diesen acht Zeugen nicht glauben? H.M. behandelte die Leute wie Lakaien, denen gegenüber er sich alles erlaubte. Er bestand darauf, dass sie permanent anwesend sein mussten, und gab ihnen nur seine Reste zum Essen. Seine Stiefel mussten jeden Morgen glänzen, und die Kleidung sauber und gebügelt sein. Als gewaltiger Schürzenjäger ließ er sie in sengender Sonne oder auch im Schnee stundenlang warten; er nahm die Mädchen oder die jungen Frauen mit Gewalt, lachte den Ehemännern oder Vätern ins Gesicht und drohte ihnen für den Fall, dass sie etwas erzählten. Einige waren zu Abdul Rahman gegangen, um Klage gegen ihn zu führen, aber H.M. stritt alles ab, lachte und machte sich lustig.

H.M. kam halb nackt und prustend aus der Dusche, zog sich vor allen Leuten fertig an und setzte sich dann zum Essen. Alleine. Vor ihm standen ein Berg Reis, Erdäpfel und Paradeiser auf einer großen Platte. Es war genug für fünf Personen. Die Verwalterin sah, wie er alleine aß, rang die Hände und zog sich ins Haus zurück. Die Peschmergas warteten, bis er fertig würde. Von seinem Essen blieb gerade so viel zurück, dass es kaum für eine Person genügte.

Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, sprach Lena darüber mit ihrem Mann. Er war bereits informiert, aber er sagte:

„Was willst du, dass ich tue? Es gibt keinen zweiten, der die Topographie von Kurdistan so gut wie er kennt!“

„Und die Opfer von diesem Herren? Und der Ruf Deiner Partei?!“

„Im Moment kann ich nichts dagegen tun, bis wir einen anderen finden, der seine Qualitäten hat.“

Der wurde bis zum Tod von Abdul Rahman nicht gefunden. H.M. Kurdistan verließ schließlich Kurdistan und ging nach Europa.

Die Nacht wurde durch die Flammen aus dem Wald erhellt. Sie verließen diese Hölle, und sie mussten sich beeilen. Der Feind hatte gute Sicht auf die Straße und zielte bald auf sie, allerdings nach wie vor nicht genau. Die Bomben regneten weiterhin auf die Wälder.

Auf der anderen Seite des Berges angelangt, waren sie gerettet. Der Rest ihrer Reise verlief ohne Zwischenfälle. In Bagdad sagte sie ihren Freunden Lebwohl und flog nach Paris.

Abdul Rahman in Europa kaum geschützt und unbewaffnet

Lena nahm die Öffentlichkeitsarbeit wieder auf. Die meisten Menschen hörten ihr interessiert zu oder taten wenigstens so. Es gab allerdings einen wahrhaft unangenehmen Zwischenfall. Der Sprecher eines Minister-Kabinetts schnitt ihr sofort das Wort ab und teilte ihr arrogant mit, sie könnte die Hoffnung aufgeben, dass der Herr Minister jemals den Chef einer Opposition gegen das Regime Khomeinis empfangen würde. Er möge sich doch wenigstens anhören, was sie zu sagen hatte, insistierte sie. Er aber erklärte ihr:

„Strengen sie sich nicht an! Sagen sie Ghassemlou, dass er mich besuchen kann.“

Lena übermittelte diesen Vorschlag ihrem Mann und kündigte ihm an, dass sie ihn dieses Mal nicht begleiten würde (normalerweise wollte er, dass sie bei diesen Treffen anwesend war). Sie wollte sich nicht noch einmal in der Gegenwart dieses Mannes befinden.

Am Tag des Termins ließ sie ihren Mann diesen alleine wahrnehmen und wartete in einem Café gegenüber dem Ministerium. Normalerweise war Abdul Rahman von Natur aus ruhig, aber diesmal kam er nach etwa fünf Minuten wutentbrannt zurück. Er war von diesem Beamten schon verabschiedet worden, als er kaum über die Schwelle von dessen Büro getreten war. Nun lud er seinen Zorn auf Lena ab. Er brauchte einen Prügelknaben. Sie ließ ihn wettern und wartete, bis er sich beruhigte.

Um mit Abdul Rahman zusammenzuarbeiten, war es zunehmend nötig geworden, gute Nerven zu haben. Die Resultate der Tätigkeiten seiner Mitarbeiter waren für ihn eine Art Bringschuld, und deren Know-how etwas ganz Selbstverständliches, das nicht der Rede wert war.

Noch dazu verstieß er in Europa ständig gegen die elementarsten Sicherheitsregeln. Er hatte nur einen einzigen Leibwächter um sich, und dieser war auch noch unbewaffnet. Er verschwand, und ließ den von Sorge geplagten Wächter warten. Wie auch andere Kurden kamen die Leibwächter zu Lena und baten sie, auf ihren Mann einzuwirken. Sie hatten Angst um ihn. Aber was hätte sie ihm, außer dem so oft Wiederholten, noch sagen können? Er habe Verantwortung gegenüber seinem Volk, gegenüber seinem Leibwächter, er gefährde sich selbst angesichts eines Feindes, der nur auf die Gelegenheit wartete, ihn zu töten.

Sein letzter Leibwächter, Kak Abdollah, redete oft mit ihr darüber und sagte ihr einmal beim Weggehen:

„Vergiss’ nicht, Khoschka Nasrin, an dem Tag, an dem der Doktor ermordet wird, werde ich bei ihm sein.“

Er war dabei. In Wien.

*

Wenn Lena mit ihrem Mann über die Sorgen sprach, die sich die Kurden um ihn machten, gab er ihr oft zurück, das gehe sie nichts an. Manchmal aber schmeichelte ihm ihr Tadel: Dann lachten seine Augen, die Mundwinkel hoben sich und er war geneigter, Vertrauliches mitzuteilen. In solchen Momenten erinnerte er an einen Lausbuben, der eine Dummheit gemacht hatte, das wusste, aber nicht mehr daran dachte und froh war, dass die Eltern erst von der vollendeten Tatsache erfahren hatten. Er nahm Lenas Zurechtweisungen nicht ernst, er war einfach zufrieden damit.

Tatsächlich nahm ihm die ständige Überwachung die Luft zum Atmen. Zumal er an der Spitze einer Partei stand und den Kampf gegen einen starken und hinterhältigen Feind führte, ermüdete ihn die Last der Verantwortung und er versuchte, seine Unabhängigkeit zu bewahren. In seinem Tagebuch hatte er ein Zitat von Maria Callas notiert: „Ich hätte glücklich sein können, aber ich habe die Unabhängigkeit gewählt. Um glücklich zu sein, ist man im allgemeinen von anderen abhängig. Und das ist der Anfang vom Ende.“

Aber hat ein politischer Anführer das Recht, sich wie ein normaler Mensch zu verhalten? Darf er es sich erlauben, die Verantwortlichkeit eines Kriegführenden an die Verantwortungslosigkeit eines Durchschnittsbürgers zu koppeln?

Abdul Rahman führte Krieg ohne Begeisterung dafür. Man wird einer Sache rasch überdrüssig, die man ungern tut.

Man konnte vermuten, er hätte seine ideologische Aufrichtigkeit verloren, seinen Sinn für die Logik. Man konnte auch denken, er wäre ein gebieterischer Chef geworden und hätte sich durch die Ausübung seiner Macht korrumpieren lassen. Das wäre zumindest zum Teil falsch. Die Ideologie und die Logik, mit denen er vertraut war, gaben ihm die Ideen und zeigten ihm den einzuschlagenden Weg, aber sie konnten ihn nicht aus Fallen oder Sackgassen führen. Von seinem hohen Rang aus musste er Entscheidungen für ein ungebildetes Volk treffen, das einem furchtbaren Feind gegenüberstand. Der Zeitraum, der ihm zwischen der Information über ein Faktum und der dadurch nötig gewordenen Entscheidung zur Verfügung stand, war minimal. Der Krieg verdammt jenen zum Tod, der zögert. Zu zweifeln, zu philosophieren und damit Zeit zu verlieren, wäre gefährlich gewesen, ein Luxus, und in der Sache war er allein. Diese Einsamkeit machte ihn manchmal bitter, oft unnachgiebig. Aber er verhielt sich auch wie ein verantwortungsloser Bürger, weil er das Leben liebte.

Jedenfalls lässt der Tod das aus dem Leben des Verstorbenen deutlicher hervortreten, was wichtig war, und das weniger Wichtige in Vergessenheit geraten.

*

Das kurdische Unglück entspringt dem Status eines Volkes, dessen Existenz nicht anerkannt oder nur mühsam geduldet ist. Es entspringt dem Unrecht, das die Geschichte den Kurden angetan hat. Sowohl die lokalen als auch die internationalen Mächte lassen sich zu viel Zeit, um dem Unrecht gegenzusteuern. Das kurdische Volk erwartete von Abdul Rahman die endgültige Wiedergutmachung für diese Unterdrückung, während er selbst wohl wusste, wie sehr eine solche Erwartung überzogen war. Dennoch kapitulierte er nicht, im Gegenteil. Die Autonomie, die von der DPKI gefordert wurde, war nur die Frage einer kulturellen Anerkennung. Wenn es ihm gelänge, den Staat vom friedlichen Charakter dieses Verlangens zu überzeugen, wäre der Kampf nicht ohne Hoffnung. Die Hoffnung ist der Anker für den Glauben an die Zukunft, und für Abdul Rahman war es unvorstellbar, diesen Anker zu verlieren. Die Kurden erkannten sich in ihm wieder, weil er ihrem Traum von Freiheit entsprach. Sie stellten ihn auf ein Podest der Partei, und er fühlte sich wie jemand, dem nichts Böses zustoßen könne, weil er unverletzlich wäre. Leider.

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Während der Zeit, als die DPKI die befreiten Gebiete Kurdistans verwaltete, hatte sie es verstanden, in der Region einen außerordentlichen Enthusiasmus entstehen zu lassen. Eines Tages war Lena mit dem Team einer regierungsunabhängigen Organisation unterwegs, die in den Dörfern Kinder impfte. Sie machten Rast in einem Teehaus, dessen Wirt Lena für die Übersetzerin hielt. Er zeigte ihr zwei große Photos an der Wand. „Weißt du, wer diese Beiden sind?“

„Du wirst es mir sagen, Bruder.“

„Der rechts war unser erster und letzter Präsident, Qazi Mohammed. Die Männer des Schah haben ihn vor langer Zeit vernichtet. Aber der Zweite lebt! Das ist unser Doktor Ghassemlou. Er wird uns aus unserem Unglück hinausführen, du wirst sehen! Übersetz’ das diesen Damen und Herren.“

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Im Jahr 1984 fiel das, was noch von den befreiten Gebieten des iranischen Kurdistan geblieben war, den Armeen Khomeinis in die Hände. Die Leitung der DPKI überquerte den Kleinen Zabfluss und fand Zuflucht im irakischen Kurdistan.