Kapitel 7 Im Irak

Während der gesamten Reise bis zur Grenze waren sie zu acht gewesen. Als Lena aufwachte, waren sie nur noch fünf. Drei der kurdischen Führer aus dem Iran waren zurückgekehrt, ihre Aufgabe war erledigt. Nur der Fahrer ihres Jeeps war noch geblieben.

Sie hatten ihr Lager in der Mulde eines Hügels.

„Dort unten ist Suleimanije“, hatte ihnen der frühere Chauffeur gesagt und mit dem Arm in die Richtung der Stadt gezeigt. „Wartet, bis ich zurück bin, und bewegt euch nicht weg. Niemand wird hierher kommen und euch stören. Aber, wenn das doch passieren sollte, vergiss nicht, dass du stumm bist!“, hatte er Lena ermahnt. Dann hatte er sich noch an Ismaïl gewandt: „Und du redest so wenig wie möglich.“

Die Kurden dieser Region sprachen denselben Dialekt, Sorani, und verstanden einander daher perfekt. Es gab allerdings Unterschiede im Vokabular und in der Aussprache, eine Auswirkung der verschiedenen Einflüsse ihrer jeweiligen Staaten, des Iran und des Irak.

Der Begleiter blieb lange aus. Wie immer war es schwierig, bei solchen Aufenthalten die Kinder zurückzuhalten und dazu zu bringen, ruhig und schweigsam zu bleiben. Abwechselnd nahm sie jeder der Erwachsenen in seine Arme, sang ihnen leise etwas vor oder erzählte eine Geschichte. Am späten Nachmittag kam der Führer endlich zurück. Ihr Kontaktmann war nicht anwesend gewesen und hatte nur eine Nachricht hinterlassen. Kurz vor Mitternacht kam er dann.

Suleimanije noch bunt und friedlich

In der Morgendämmerung trafen sie in einem kleinen Haus am Rand von Suleimanije im irakischen Kurdistan ein. Sie gingen sofort ins Bett und waren zuversichtlich, dass sie am darauffolgenden Tag nach Bagdad aufbrechen würden, wo die Pässe und die Flugtickets auf sie warten würden.

Je größer die Hoffnung, desto schlimmer die Enttäuschung. Eine Woche lang blieben sie in Suleimanije, weil das Auto, das sie nach Bagdad bringen sollte, nicht früher kam.

Schließlich ertönte der ohrenbetäubende Lärm des wohl ältesten Militärjeeps, den man sich vorstellen konnte, und sie sahen beim Fenster hinaus. Der Jeep war für sie, mit diesen Fahrzeugen hatten sie ohne jeden Zweifel kein Glück.

„Alle steigen ein!“

Während sie Suleimanije durchquerten, betrachtete Lena neugierig das rege Leben und Treiben dieser Stadt. Ihr Leben in Teheran schien ihr schon weit entfernt. Jetzt sah sie in hellen Farben bunt bemalte Häuser, umgeben von Bäumen und sonstigem Grün. Die Straßen waren sauber, in den Erdgeschoßen der Häuser gab es ansprechende Geschäfte, und alles wirkte friedlich.

Später sollte Lena die Stadt noch mehrmals wiedersehen, stets unter sehr verschiedenen Umständen. Suleimanije erlitt zahllose Schäden im Gefolge etlicher kriegerischen Auseinandersetzungen, die es schwer beschädigten.

Sie fuhren weiter durch Tschamtschamal und Kirkuk, dann ging es durch die Wüste, deren Staubwolken sie bis Bakuba nicht entkamen. Asemia war dann die letzte Etappe vor Bagdad.

Zu jener Zeit war die Architektur der irakischen Hauptstadt noch traditionell. Wolkenkratzer und moderne Villen tauchten erst viel später auf. Die Häuser klebten buchstäblich aneinander, hatten kleine Balkone, die mit einer Art Paravents aus geflochtenem Holz oder Metall abgegrenzt waren und den Bedürfnissen längst vergangener Zeiten entsprachen. Alles wirkte pittoresk. Im Zentrum der Stadt befindet sich die große Saadun-Straße und nicht weit davon war damals noch eine weitere, schmale, sehr lange Straße voller kleiner Geschäfte, die Schaara-al-Raschid – der uralte Suk (orientalische Markt), den Saddam Hussein nach einigen Jahren an der Macht voll Eifer zerstören und durch eine Autobahn ersetzen ließ.

Wie auch in Teheran hatten die Häuser Flachdächer. Sobald es Abend wurde, kamen die Bewohner dort hinauf, um frische Luft zu schnappen. Auf diesen Terrassen nachts zu schlafen bringt nach der Gluthitze der Tage dank der nächtlichen Kühle aus der Wüste Erholung – und die Schönheit der Sterne, die hier größer wirken als sonst irgendwo, scheint zum Greifen nah.

Weder Pass noch Geld in Bagdad

Der Jeep hielt vor einem kleinen Haus, aus dem zur Begrüßung Kurden kamen, die Lena nicht kannte. Sie begannen, mit den Ankömmlingen zu diskutieren, und es gab eine große Enttäuschung: Kein Pass und kein Geld für die Flugtickets.

„Reg’ dich nicht auf. Wir werden am Ende eine Lösung finden!“

Am nächsten Tag sagte Lena ihren Begleitern und dem rumpelnden Jeep, der sie trotz allem ohne Zwischenfälle ans Ziel gebracht hatte, Lebwohl.

Auf diese „Lösung“ sollte Lena viele, lange Monate warten, ohne jemals zu erfahren, wann dieses Warten denn enden würde. Die Jagd auf Regimegegner war im Irak nicht weniger intensiv als im Iran, und die Schwierigkeiten vervielfachten sich. Sie mussten eine Frau mit zwei Kindern finden, die sich bereit erklärte, ihren eigenen Pass „zu verlieren“, damit dieser der untergetauchten Lena dienen könnte. Das war für diese Frau keineswegs ungefährlich.

Lena wurde über die Lage im Land unter Nuri Saïd, dem starken Mann des Regimes, informiert. Man erzählte ihr von kurdischen Patrioten, Kommunisten und Demokraten, die in die Gefängnisse gesteckt, gefoltert und getötet worden waren. Sie erläuterten ihr, was sie geplant hatten, um sie und die Kinder zu beschützen. Sie hatten keine Wahl und mussten sich arrangieren.

Lena wäre mit dieser neuen Situation deutlich leichter zurande gekommen, wäre sie allein unterwegs gewesen. Aber da waren die Kleinen, und so musste sie etwa wissen, ob es im Fall einer Erkrankung einen Arzt geben würde, und ob sie sich bei Bedarf überhaupt an jemanden um Hilfe wenden könnte. Hinzu kam die Frage, was denn bereits wegen des Passes unternommen worden sei. Taufiq, irakischer Kurde und ihr Ansprechpartner, drehte seinen Kopf mit einem ohnmächtigen Lächeln von rechts nach links.

Sie befand sich unter Fremden in einer fremden Stadt und war allein in ihrer wenig aussichtsreichen Lage. Nicht einmal Ismaïl war da, um ihr Mut zu machen, denn er war anderswo untergebracht worden. Man habe sie aus Sicherheitsgründen getrennt, sagten sie.

So wie damals, als sie Teheran verlassen hatte, besaß sie keinen Groschen Geld. Sie müsste Kleider und Schuhe für sich und die Töchter kaufen... Sie alle hatten nicht einmal Zahnbürsten. An jenem Tag, an dem sie Abdul Rahman im Hauptquartier getroffen hatte, hatte sie mit ihm auch darüber geredet. Er hatte geantwortet, dass sie alles in Bagdad vorfinden werde, und dass sie auf jeden Fall nicht lange dort bleiben würde. Sie hatte ihm geglaubt.

Im Gegensatz zu Bagdad hatte sie sich in Teheran nicht als Fremde gefühlt. Hier war sie in den Händen von Menschen, die sie nicht kannte. Sie hatte nicht einmal eine Adresse, an die sie sich in einem Notfall hätte wenden können. Außerdem konnte sie nicht arabisch. Sie fühlte sich äußerst verletzlich, und sie konnte weder dorthin zurück, woher sie gekommen war, noch nach Europa aufbrechen, wie sie gehofft hatte. Aber sie musste sich selbst treu bleiben, schweigen können, sich nicht beklagen und schnell alles lernen, das zu wissen notwendig war, und wäre es nur den Kindern zuliebe.

Ihre einzigen Glücksmomente hatte sie, wenn die Kleinen ihre hübschen Köpfchen auf ihren Schoß legten. Das erfüllte sie mit Leben. Die Kinder waren ihr einziger Schatz, und den musste sie unversehrt erhalten. Auf diese Weise mussten sie während der acht Monate des Wartens fortwährend die Unterkünfte wechseln, wobei es freundliche Begegnungen, aber auch Augenblicke voller Gefahr gab.

Ein fatales Missverständnis im Haus des Rothaarigen

Er war mittelgroß, gut gebaut und ein Albino, sein Haar hatte die Farbe roten Golds. Mammadi Suraka (der Rothaarige) war Patriot und ein sehr netter Mann. Sein Arbeitsplatz war der British Council in Bagdad. Sein Bruder und er hatten zwei Schwestern geheiratet, und alle lebten mit ihren jeweiligen Eltern im selben Haus.

Die beiden Frauen waren im achten Monat schwanger, und insgesamt gab es 14 Kinder. Jedes der beiden jungen Paare hatte bereits sieben Kinder, und das achte war unterwegs. Inklusive der Neuankömmlinge Lena, Mina und Hiwa hatte das Haus nun 21 Bewohner.

Während ihres Aufenthalts bei dieser Familie war es Lena und deren Kindern verboten, in die oberen Stockwerke hinaufzugehen. Ihnen war im Erdgeschoß ein kleines Zimmer zugeteilt worden, dessen einziges Fenster mit Brettern vernagelt war. Von der Eingangstüre des Zimmers sah man nur einen kleinen Hof, an dessen Rückseite sich die Küche befand.

Die Frauen standen früh am Morgen auf, um das Frühstück und zugleich auch bereits das Nachtmahl vorzubereiten. Die Männer gingen zur Arbeit, und die Frauen und Kinder aßen die Reste des Vortags. So viele Münder zu stopfen, erforderte viel Zeit. Manchmal, wenn das bevorstehende Abendessen besonders viel Arbeit machte, endete die Nachtruhe der Frauen um vier Uhr früh.

Sie mochten Lena nicht. Zumal sie sich an den Arbeiten in der Küche beteiligte, übertrugen sie ihr die undankbarsten Aufgaben. Um diese zu erledigen, bekam sie die schadhaftesten Küchengeräte. Die Frauen zeigten ihr, was sie zu tun hatte, richteten aber darüber hinaus kein Wort an sie. Erst nach zwei Wochen begriff sie, warum.

Einige Tage nach ihrer Ankunft war Mina krank geworden. Sie hatte hohes Fieber und konnte nur schwer atmen. Die Frauen im Haus zeigten eine seltsame Gleichgültigkeit, etwas, das unter Kurden normalerweise unvorstellbar ist. Weiterhin erwarteten sie von Lena, dass sie ihren Teil der Arbeit in der Küche erledigte. Diese aber ignorierte die Aufforderungen der Frauen, blieb in der Nähe ihrer Tochter, die zu delirieren begann, und versuchte, das Fieber mit kalten Kompressen zu senken. Gleichzeitig wartete sie ungeduldig auf die abendliche Heimkehr von Mammadi Suraka. Als er kam, wollte Lena mit ihm reden, aber die Frauen stürzten hinzu, schrieen gleichzeitig durcheinander und warfen Lena wenig liebenswürdige Blicke zu. Am Ende konnte Lena Mammadi doch die Lage schildern und bitten, man möge einen Arzt rufen. Sie bekam zur Antwort, dass das Kind von selbst gesund werden würde. Hinter ihr drückten die Frauen deutlich ihre Zufriedenheit aus.

Lena verstand nichts. Die Kleine phantasierte weiter, und Lena kam am nächsten Abend neuerlich zu ihrem Gastgeber, ebenso am danach folgenden Morgen. Weil er sich weiterhin weigerte, einen Arzt kommen zu lassen, erklärte sie ihm mit entschlossenem Ton, dass sie Taufiq informieren würde, der in Bagdad für sie und die Kinder verantwortlich war. Das wirkte, aber Taufiq kam erst drei Tage später. Mina glühte und war reglos. Man gab Lena die Adresse eines Arztes, Geld für ein Taxi, aber keines, um dem Arzt sein Honorar zu bezahlen:

„Es genügt, wenn du ihm sagst, dass ich dich geschickt habe.“

Lena erinnerte sich an ihrer Erfahrungen in Teheran und war sehr beunruhigt.

„Das ist eine Lungenentzündung. Warum kommen sie so spät?“, sagte der Arzt. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und blieb stumm. Sie wagte es nicht einmal, ihm zu sagen, dass sie auch kein Geld hatte, um Medikamente zu kaufen.

Sie ging nach Hause und musste 20 Stunden voller Qualen warten, bis Taufiq kam und die Medikamente kaufen ging. Nach zehn weiteren Tagen stand Mina auf. Sie war schwach und abgemagert. Sie sollte wieder lernen, sich zu bewegen, aber sie kam damit nicht zurecht. Lena selbst war erschöpft und seelisch tief verletzt. Sie war wütend gegen alle und alles – aber sie schwieg, denn sie war hilflos.

Etwas später rief Mammadi sie zu sich.

„Du musst dieses Haus auf der Stelle verlassen.“ (Das konnte doch nicht ernst gemeint sein.)

„Ich werde das Haus nicht verlassen, bevor ich nicht weiß, wohin ich gehen kann. Du kannst doch nicht wollen, dass ich mit den Kindern auf der Straße stehe, hoffe ich. Das kommt nicht in Frage.“

„Meine Frau ist überzeugt, dass du meine Zweitfrau bist, und dass deine Kinder die Meinen sind.“

Jetzt endlich war ihr das Verhalten der Frauen klar. Lena konnte sie verstehen, aber sie hatte nicht die geringste Absicht wegzugehen.

„Du musst mit deiner Frau reden und auch mit unseren kurdischen Freunden. Ich werde gehen, sobald ich weiß, wohin.“

Am darauffolgenden Tag kamen zwei Kurden, die sie nicht kannte, um sie abzuholen. Sie stieg mit einem unguten Gefühl im Bauch in das Auto.

Das Geisterschloss

Der Wagen verließ die Stadt und hielt vor einem riesigen Bauwerk mitten in der Wüste. Lena fragte, wo sie waren, aber sie erhielt wie üblich keine Antwort. Dieses Gebäude war tatsächlich ein Wüstenschloss. Es hatte etwas Unheimliches. Weit und breit war sonst nichts zu sehen. Alles schien wie ein böser Traum: Hitze, Sand, Geflüster...

Das große Tor öffnete sich. Drinnen war es kalt und düster. Seit Ewigkeiten war hier keine frische Luft hineingekommen, und es herrschte eine Stille, von der einem unbehaglich wurde. Die Kinder drückten sich an ihre Mutter. Die Schritte hallten wider. Gegenüber lag ein viereckiger Innenhof mit einem verfallenen Brunnen in der Mitte. Dürres Kraut und vertrocknetes, deformiertes Gebüsch wuchsen zwischen den Steinplatten auf dem Boden... Die Architektur war orientalisch und mochte dereinst ein angenehmes Wohnumfeld gewesen sein. Hinter jeder Säule der Arkaden war eine Türe. Es waren acht an jeder Kante und somit 32 Türen im Erdgeschoß, die gleiche Anzahl gab es im ersten Stock; der Eingang zum zweiten Geschoß war verschlossen. Das war alles, das von jener Zeit geblieben war, als hier ein Prinz mit seiner Familie und der Dienerschaft residiert hatte.

Sie wurden in das erste Stockwerk geführt, und eine Türe wurde für sie geöffnet. Das Zimmer war kein und hatte nur ein winziges Fenster. Lena sah zwei orientalische Matratzen, Bettlaken, zwei Teller, zwei Gläser, zwei Löffel, ein Messer und eine Karaffe. Ein kleiner Petroleumherd, ein Kochtopf und eine „taschte“, ein breites, flaches Wasserbecken, vervollständigten die Einrichtung. Der Lehmboden war mit einem uralten Teppich bedeckt.

„Hinten auf dem Gang sind die Klosette und ein Wasserhahn“, erläuterte einer der Begleiter. „Es gibt hier keinen Strom, aber ihr dürft nicht einmal eine Kerze anzünden.“ (Als ob sie eine gehabt hätten.) Er wiederholte seine Anweisungen:

„Ihr müsst so leise wie möglich sein. Zum Schlafen müsst ihr in diesem Zimmer bleiben. Niemand darf wissen, dass ihr hier seid.“

„Gibt es Leute, die hier vorbei kommen? Es ist rundherum nichts! Und, wenn du Kinder hast, sind die jemals 24 Stunden lang still gewesen?“

Es gebe sehr wohl Menschen, die hier vorbeikämen, wurde ihr geantwortet. Der Begleiter war streng. Das Schloss gehörte einem Kurden, der nicht verraten werden durfte. – Dann hatten es die Begleiter eilig wegzukommen.

Wie lange waren sie an diesem Ort geblieben? Vier Wochen oder 40 Jahre?! Zweimal pro Woche kam ein Mann und brachte ihnen Essen – wie Tieren in einem Käfig. Der Unbekannte kam die Stiegen herauf, stellte die Vorräte auf den Boden, sammelte die gewaschenen Gefäße ein, sagte „Aleikum assalam“ und ging wieder. Er beantwortete keine von Lenas Fragen. Er sah sie gar nicht an und er hatte nicht einmal ein Lächeln für die Kinder. Kurzum, er erfüllte gewissenhaft den Auftrag seines Herren und blieb stumm.

Die Kinder als kleine Gefangene

Die Kleinen litten unter ihrem Freiheitsentzug. Wie alle Kinder hatten sie das Bedürfnis zu laufen, zu spielen, zu schreien; das ist für das Heranwachsen ebenso notwendig wie die Nahrung. Noch dazu wollten sie das Essen nicht, das ihnen gebracht wurde.

Weil sie inständig darum bat, bekam Lena Kekse. Damit konnte sie den Hunger der kleinen Gefangenen stillen. Untertags machte sie mit ihnen Bewegung, indem sie im Erdgeschoß und im ersten Stock mit ihnen herummarschierte, bis sie müde waren. Dabei hielt sie die Kinder fest an der Hand, damit sie nicht zu laufen beginnen und mit ihren Schritten ein Echo auslösen könnten. Sie füllte Wasser in das Becken, ließ sie herumplanschen und hielt ihnen dabei mit der Hand den Mund zu, um die Freudenschreie zu unterdrücken. Sie rettete ihnen das Leben, indem sie ihnen die Lebensfreude austrieb.

Sie gingen mit Sonnenuntergang schlafen. Aber Lena schlief schlecht, und die kleinen Mädchen hatten häufig Alpträume. In der über so lange Zeit abgestandenen Luft dieses Geisterschlosses hallte jedes Geräusch wider wie ein Gongschlag. Das Echo vervielfachte sich und mit ihm die Beklommenheit.

In der ersten Nacht hatte Lena versucht, das Fenster zu öffnen, um ein wenig frische Luft in das Zimmer zu bringen, aber es war blockiert. Also ließ sie die Türe offen, was die Dinge kaum besser machte. Nun hörte sie, wie der Wind in den verkümmerten Bäumen rauschte, die alten Mauern und morschen Balken krachen ließ und damit in ihr Wahnvorstellungen auslöste. Sie meinte zu hören, wie jemand vorsichtig die Sperre am Eingangstor zu öffnen versuchte, wie jemand oder etwas mit nackten Füßen heranschlich, vernahm das unterdrückte Atmen eines Menschen, jenes von Raubtieren oder das Herangleiten giftiger Schlangen. Sie sah Diebe und Mörder. Ihre Nächte waren voller böser Geister, und sie stand verängstigt auf, um mit ihren Blicken die Arkaden, den Hof und das Stiegenhaus zu kontrollieren. Dann schloss sie die Zimmertür und war bald wieder schweißgebadet. Sie machte die Tür neuerlich auf, fiel für kurze Zeit in schlechten Schlaf und erwachte sitzend. Wenn sich ein Kind vom Bett wälzte und von ihr entfernte, suchte sie es in panischer Angst im Dunkeln.

Der Mann mit dem Essen kam nicht vor Einbruch der Nacht. Am Anfang begrüßte ihn Lena in der Hoffnung, er würde sie irgendwohin bringen, wo es Menschen gab. Dann sperrte sie, mit den Nerven am Ende, die Kinder ins Zimmer, und nahm die einzige verfügbare Waffe, das Messer, wenn die Stunde für die Lieferung kam. Sie wartete am oberen Ende der Treppe auf einen Feind und war bereit zu töten. Der Bote kam mit seinem „Salam aleikum“, stellte die Vorräte hin, und ging mit seinem „Aleikum assalam“ wieder weg. Das war ein Ritual.

Sie musste um jeden Preis durchhalten. Es nicht zu tun, wäre Verrat, sagte sie sich.

Bagdad , eine fremde und unheimliche Stadt

Wie war dieses Bagdad zu jener Zeit, als Lena sich dort aufhielt, während sie so viele, lange Monate auf ihren falschen Pass wartete, mit dem sie schließlich nach Europa heimkehren können sollte? Wie war diese Stadt , über die sie so viel gelesen hatte, die Stadt von Harun al-Raschid, Scheherezade und Sindbad, dem Seefahrer? Lena sollte es nie erfahren: Sie wohnte nicht hier, sie versteckte sich. Alles, was sie flüchtig sehen konnte, zog an den Scheiben der Autos vorbei, die sie von einem Versteck zum nächsten brachten. Sie konnte sich keine Vorstellung davon machen, wie die Bewohner hier lebten.

Nun war sie mit ihren beiden Töchtern allein, ihr Geschick lag in den Händen von Unbekannten, und sie hatte kein Recht, etwas zu entscheiden. Sie dachte an Teheran zurück, wo sie niemals dermaßen einsam gewesen war. Voll Nostalgie erinnerte sie sich an diese Stadt mit deren Mosaik aus Reichtum und Elend, die sie wegen der Diktatur des Schah hatte verlassen müssen. Es schien ihr, als wäre das damals ein anderes Leben gewesen. Bagdad hatte für sie kein Gesicht. Es war eine erschreckende Stadt, die unheilvolle Geheimnisse barg.

Im Gefolge des Aufenthalts in diesem „Geisterschloss“ fing Lena zu stottern an. Dieser Sprechfehler sollte ihr lange bleiben. Die Zeit des Eingeschlossenseins schien ihr eine Ewigkeit gedauert zu haben. Als sie das Schloss in einem Auto mit offenen Fenstern verließ, war das wie die Rückkehr von einem anderen Planeten. Sie atmete tief und lange die nächtliche Frische der Stadt ein und empfand Erleichterung und Glücksgefühl. Obwohl sie keineswegs frei war, fühlte sie sich befreit. Endlich verließen sie die Bleibe eines toten Fürsten, die für sie wie ein verwunschenes Gefängnis gewesen war. Auch die Kinder empfanden diese Freiheit. Endlich durften sie sich rühren und laut plaudern. Verzückt schauten sie auf die Wellen und Wirbel des Tigris, die bunten Girlanden der Ausflugsboote und deren Spiegelungen im Fluss. Mit weit aufgerissenen Augen zog Mina an Lenas Rock und rief sanft: „Schau, Mama, schau!“ , während sie mit dem Finger auf das vielfarbige Ballett auf dem Wasser zeigte. Hiwa machte es ihrer großen Schwester nach und streckte ihre Hand in die gleiche Richtung. Lena genoss das Glück ihrer Kinder, denen sie eine so wenig kindliche Schweigsamkeit hatte auferlegen müssen.

Die Straßen Bagdads ließen all ihre Sinne erwachen: Sie hörte die Sprache der Stadt, sog deren Gerüche auf, lauschte den Geräuschen, und alles war ihr neu. Sie durchquerte eine flache Stadt ohne Seele. Sie sah die Frauen in den Straßen, die ihre Kinder an der Hand führten, und hätte sich liebend gerne unter diese Leute gemischt, wäre eine von ihnen geworden. Aber eine leise, innere Stimme rief sie zur Ordnung: „Bleib’ hart, sonst riskierst du, nicht wieder gut zu machenden Schaden anzurichten.“

Es war in Bagdad, wo der Orient den Zauber verlor.

Ablehnung des Frauenbilds im Koran - theoretisch

Lena hatte nur zwei Töchter. In diesen Ländern kann eine Frau, die ihrem Mann nur Mädchen schenkt, niemals jene Wertschätzung erreichen, die einer Mutter von Söhnen zuteil wird. Lena brachte dieses Thema zur Sprache, wo immer sich dazu eine Gelegenheit bot. Im allgemeinen waren ihre Gesprächspartner dabei Männer, weil die wenigen Frauen, denen sie im Untergrund begegnete, in die Küchen abgeschoben waren und sich um die Kinder kümmern mussten. Wenn sie am Abend nach der Arbeit todmüde waren, wollte ihnen Lena keine Diskussion dieser Art mehr zumuten, die ihnen überdies noch unpassend hätte erscheinen können. Die Mehrzahl der Männer, mit denen Lena über die Lage der Frau in ihrer Gesellschaft sprach, war in Widerstandsbewegungen engagiert, deren Politik die Gleichheit von Mann und Frau betonte. Diese Männer äußerten sich enthusiastisch über Frauen, die am Kampf teilnahmen, und sie zeigten sich (vor allem Lena gegenüber, was zu betonen ist) liberal. Aber, wenn ihre Frauen, Schwestern, Töchter oder Nichten an einer Demonstration teilnehmen oder sich politisch engagieren wollten, war der männliche Teil im Haus dagegen. Das war nicht nur so, weil sie Angst um diese Frauen hatten, sondern weil das nicht deren Platz wäre. Solche Überlegungen haben freilich diese Bewegungen nie daran gehindert, sich der Frauen immer dann zu bedienen, wenn es nötig wurde, und sei es nur, dass sie dank der Verschleierung an Orte vordringen konnten, die für Männer unzugänglich waren. Lena wies auf das unterschiedliche Verhalten der Männer gegenüber ihren Frauen hin, je nachdem, ob diese Mütter von Söhnen (diesen zollten sie Achtung) oder nur von Töchtern (hier gab es mehr oder weniger Wohlwollen bis hin zu Gleichgültigkeit) hin. Sicher gab und gibt es Ausnahmen, aber diese bestätigen die Regel. In Lenas Augen war damals Abdul Rahman eine dieser Ausnahmen. Aber, um sich den Respekt der übrigen Männer zu erhalten, verlangte er von Lena, sich gehorsam und zurückhaltend, eben als Moslemin, zu verhalten.

Nichtsdestoweniger wiesen jene Männer, die Lena kannte, durch die Bank das Dogma von der Unterlegenheit der Frau, wie es in zahllosen Versen des Koran festgeschrieben ist, zurück. Wenn Lena mit ihnen diese Frage erörterte, betonten sie ihre Ablehnung des Frauenbilds im Koran, aber sie antworteten stets, dass ihre Gesellschaft noch zu rückständig sei, um die Gleichstellung der Frau mit dem Mann zu akzeptieren. Möglicherweise hatten sie recht. Aber Lena konnte und wollte sich nicht zurückhalten und fragte sie, warum sie nicht selbst es wagten, wenigstens im eigenen Umfeld den ersten Schritt zu tun. Auch große Veränderungen beginnen mit ersten, kleinen Schritten.

Vom Koran und den religiösen Traditionen der täglichen Praxis geformt, konnten sie sich nicht entschließen, diese Jahrhunderte alte Schutzhülle aufzugeben, die ihnen alle Macht über die Frauen gab. Ihre Männlichkeit und ihre Überlegenheit mussten demonstriert werden. Und doch war diese Haltung in den 1950er Jahren bereits brüchig geworden. Viele Koranverse, vor allem jene über das Heiraten, die Polygamie, das Erben, Scheidungen oder die rechtskonforme Befehlsgewalt der Mütter über ihre Kinder wurden von der Entwicklung weltweit überholt, auch in jener Welt, in der Lena damals lebte. Die Urbanisierung hatte diese Gesellschaft bereits teilweise verändert. Aber man musste es wagen, sich selbst in Frage zu stellen, was umso schwieriger war, wenn damit das Risiko eigenen Machtverlusts einherging. So bleibt die Vorstellung von der Überlegenheit des Mannes in den Köpfen und formt die sozialen Beziehungen.

Zugegeben, der Koran ist in diesen Angelegenheiten dermaßen deutlich, dass es ab einem gewissen Punkt schwierig ist, dagegen zu argumentieren, ohne schweren Ärger auszulösen.

Da ist etwa die Sure (Kapitel IV, Titel „Die Frauen“, Vers 38), die den Primat des Mannes gegenüber seiner Ehefrau festschreibt und ihn ermächtigt, sie zu bestrafen, ja selbst, sie zu schlagen, wenn sie sich ungehorsam oder widerborstig zeigt.

Ein anderer Vers (223, Sure „Die Kuh“) sagt dem Mann, dass eine Frau wie ein zu bearbeitendes Feld ist, auf das er sich nach Gutdünken begeben könne.

An anderer Stelle (dieselbe Sure, Vers 282) erfährt man, dass vor Gericht zwei Frauen als Ersatz notwendig sind, wenn ein Mann als Zeuge fehlt, weil diese weniger vertrauenswürdig als Männer sind.

Ganz in diesem Sinn wird eine Frau auch nie „großjährig“. Das erklärt, warum sie die Vormundschaft für ihre Kinder nicht bekommen kann, auch nicht als Witwe. Sie kann nur die Hüterin der Kinder sein, wenn der Vater es so entscheidet. Schließlich kann der Mann einseitig und nach Belieben seine Frau verstoßen (manchmal braucht es dazu einen Zeugen, aber nicht immer), eine Frau kann das im umgekehrten Fall nicht. Und wenn sie die Scheidung wünscht, sind die dafür nötigen Voraussetzungen zur Rechtfertigung des Begehrens derart, dass sie nur schwer erfüllt werden können – es sei denn, sie könnte jenes Brautgeld rückerstatten, das ihr Mann bei der Eheschließung bezahlt hat.

Weil sie moralisch schwach ist, so sagt es ein Vers, ist es besser, wenn sie stets unter der Vormundschaft eines Mannes aus ihrer Familie bleibt (Vater, Bruder...). Will sie geachtet sein, darf sie nicht alleine leben, auch nicht mit ihren Kindern. Schließlich ist es ihr, im Gegensatz zu Männern, verboten, einen Nicht-Moslem zu heiraten.

In dieser patriarchalischen Gesellschaft, die Ehen nur innerhalb der eigenen, religiösen Gruppe gestattet, gehören auch ihre Kinder von Amts wegen der väterlichen Linie an und müssen die Religion des Vaters übernehmen.

Gleichbehandlung für Lena

In diesen Regionen gehört Gastfreundschaft zur Lebensart. Man lädt gerne Gäste ein, und man wird gerne eingeladen. Das ist eine schöne Tradition, die die anderen einbezieht und auch den Reisenden nicht hungrig sein lässt.

Während der Jahre, in denen Lena im Orient lebte, war sie vielfach zu Mittag- oder Abendessen eingeladen. Wenn sie, eingestandenermaßen selten allein, im Haus der Gastgeber ankam, war alles schon vorbereitet. Der Gastgeber und die männlichen Gäste setzten sich im Wohnzimmer zusammen und warteten, dass die Frauen ihnen Getränke und Naschereien brachten. Die Männer unterhielten sich miteinander, und die Frauen machten sich in der Küche zu schaffen. Wenn es Zeit zum Essen war, brachten sie die Teller. Diese wurden entweder auf den Tisch oder auf das auf den Boden gebreitete Esstuch gestellt, um das sich die Gäste gesetzt hatten. Sobald die Hauptspeisen verzehrt waren, kamen die Frauen wieder, um abzuservieren und die nächsten Gerichte zu bringen. Sie selbst aßen mit den Kindern in der Küche. Hin und wieder durften die Kleinen sich bei ihren Vätern oder großen Brüdern dazusetzen, wenn sie sich gut benahmen.

Lena wurde eingeladen, gemeinsam mit den Männern zu essen. Ihr war bewusst, wie sehr das eine Ausnahme war, aber es war ihr auch klar, dass ihr diese Behandlung zuteil wurde, weil die Gastgeber damit zeigen wollten, dass sie die europäischen Sitten kannten. Das war ihre Art zu demonstrieren, wie sehr auch sie die Gleichheit von Mann und Frau akzeptierten. Aber sie waren sich nicht im Klaren darüber, wie scheinheilig das im Vergleich mit ihrem Verhalten gegenüber den eigenen Frauen war. Im Grunde beschämten unwillentlich und unwissentlich sie Lena, indem sie sich „modern“ zeigen wollten.

Wann immer es ihr die Höflichkeit erlaubte, entschuldigte sie sich, schloss sich den Frauen in der Küche an und nahm ihre Mahlzeit mit ihnen ein, wenn es ihr noch möglich war. Das geschah einerseits, um mit ihnen plaudern zu können, andererseits auch, um die Ungemütlichkeit zu leben, zu der die Traditionen die Frauen verdammten.

Wieder ein Ersatz-Ehemann und Ersatz-Vater

Eines Tages wurden Lena und ihre Kleinen vor ein Häuschen gebracht, wo sie von Neschad begrüßt wurde, den sie schon aus Prag kannte, und von dessen Neffen Suleiman. Neschad war ein ewiger Student, jung, fröhlich, vif, intelligent und sehr zufrieden mit seinen Erfolgen bei Frauen. Er war mittelgroß und wirkte zart. Von seinem Vater hatte er seinen Sinn für Witz und den Patriotismus geerbt.

Sich bei Neschad zu befinden, war vielversprechend: Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Lena mochte seine Frau Sadschida sehr. Darüber hinaus würden seine Kinder nette Spielkameraden für ihre eigenen Töchterchen sein. Weil sie Sadschida nirgendwo sah, fragte sie nach ihr und erfuhr, dass diese mit den Kindern in den Norden zu den Schwiegereltern geschickt worden war. Die Parteiführung hatte das Haus für Lena gemietet – und Neschad hatte die Rolle des Ehemanns und Vaters der Kinder zu spielen. Wieder einmal stand Lena vor vollendeten Tatsachen, was sie gar nicht schätzte. In diesem Fall war es umso unangenehmer, als damit das Ehepaar sowie die Kinder von ihrem Vater getrennt worden waren.

Neschad arbeitete in einem Jute-Geschäft. Um acht Uhr morgens kam jeweils ein Minibus, um ihn abzuholen. Lena stand um sechs Uhr auf und bereitete das Frühstück zu, Neschad folgte kurz danach. Noch im Pyjama und mit einer Zigarette im Mund stieg er auf sein Fahrrad und fuhr zum Markt. In der Früh ging es auf dem Markt lebhafter zu als an den Nachmittagen. Er war voll von schläfrigen Männern im Nachtgewand, mit struppigem Haar, die Einkaufstaschen in der Hand.

„Ihr Mann“ kaufte Lebensmittel für den Tag, Brot und Zeitungen. Gegen sieben Uhr kam er zurück. Es blieb ihm eine Stunde, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Jetzt begann das, was sie den „Veitstanz“ nannte. Er räumte einen Platz auf dem Tisch frei und stellte alles dort hin, was er zum Essen, Rauchen, Rasieren sowie zum Zeitungslesen brauchte. Bei letzterer Tätigkeit kommentierte er ohne Unterbrechungen den Inhalt. Er gab Lena Aufträge für den Tag, rief seinen Neffen, verließ den Tisch, um irgendetwas zu suchen, ging ins Badezimmer, regte sich über dies und das auf, tauschte den Pyjama gegen Hemd und Hose und warf ihn irgendwohin. Dann schlug er ein Buch auf, las ein paar Zeilen und fing an, offensichtlich völlig sinnlos Dinge zu kontrollieren, bis der Minibus kam, der nicht selten auf ihn warten musste. Manchmal wäre diese Wartzeit so lang gewesen, dass der Bus ohne Neschad weiterfuhr. Nach Suleimans Urteil war dessen Onkel unverbesserlich. Lena und die Kinder amüsierten sich.

Nächtliche Besucher

Um zwei Uhr früh weckte Neschad Lena:

„Steh’ auf und mach’ Tee für uns. Wir haben Besuch.“

Also verließ sie das Bett und war ausnahmsweise einmal froh, eine Frau zu sein, weil sie sich wieder niederlegen können würde, nachdem sie den Tee serviert hätte.

Als es so weit war und sie sich anschickte weiterzuschlafen, forderte Neschad sie auf zu bleiben. Sechs Männer in kurdischen Hosen und Gilets waren hier. Auf den Köpfen trugen sie ihre im kurdischen Stil gebundenen Turbane. Die Rolle der Frau, die nicht spricht und den Blick ständig gesenkt hat, kam ihr um diese Zeit in der Nacht ja gerade recht. Sie setzte sich gegenüber den Unbekannten nieder. Es war kurz vor drei Uhr früh und sie fluchte innerlich. Irgendeine Bewegung, sei es durch den Wind oder durch eine Hand, zwang sie, den Blick zu heben und die Männer anzusehen. Sie hatten ihre Turbane abgenommen und diese vor sich auf den Tisch gelegt. Sie hatten teils volles Haar, teils waren sie beinahe kahl rasiert. Die Männer sahen auch sie an, aber ihre intensiven Blicke sagten ihr nichts.

Um zu verhindern, dass ihre Verlegenheit auffiele, senkte sie neuerlich den Blick. Die Männer begannen zu lachen, und sie erkannte die Stimme, die sie so sehr liebte. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie auf und sah in die Richtung, aus der dieses Lachen gekommen war. Abgemagert und fast kahlköpfig war er nicht zu erkennen. Nur seine lachenden Augen verrieten ihr, dass er es wirklich war.

Sie betrachtete ihn genau und war verletzt, weil er sich nicht früher zu erkennen gegeben hatte. Da stand sie vor diesen völlig angekleideten Kurden, die sich seit mehr als einer Stunde über sie lustig machten, hatte nichts als ihr Nachthemd unter einem abgewetzten und zu kleinen Schlafrock an. Sie war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen, und ihre Augen begannen zu brennen („das fehlt gerade noch, dass ich zu heulen anfange!“). Verärgert brachte sie sich in Sicherheit. In ihrem Zimmer weinte sie still – als ob all ihre Ängste und Sorgen, ihre Müdigkeit und die Plagen der vergangenen Monate von den Tränen hinweggeschwemmt werden könnten.

Die Türe wurde vorsichtig geschlossen. Sie schluckte die Tränen eilig hinunter, wischte sich das Gesicht ab und war froh, dass es dunkel war (Abdul Rahman mochte es nicht, wenn sie weinte). Er stand lächelnd vor ihr, extrem mager, aber bei guter Gesundheit. Wieso hatte er so sehr abgenommen? Lena sah ihn an, und ihre Wut schwand. Nach Monaten des Eingeschlossenseins und ohne viel Bewegungsmöglichkeit hatte sie im Gegensatz zu ihm an Gewicht zugelegt.

Die DPKI war einer massiven Verhaftungswelle ausgesetzt gewesen, und eine große Zahl ihrer Mitglieder war ausgeschaltet worden. Sie brauchte frisches Blut, neue Kämpfer. Abdul Rahman und seine Kameraden zogen in allen Richtungen durch die Berge Kurdistans und suchten Kombattanten, die bereit waren, sich ihnen anzuschließen. Das war eine äußerst anstrengende und schier endlose Aufgabe. Das Marschieren hatte ihnen viel von ihren Kräften geraubt, und sie hatten nur gelegentlich etwas gegessen. Die Bauern und Bergbewohner hatten für sich selbst nicht genug zu essen, aber dennoch boten sie das Wenige, das sie hatten, den „Reisenden“ an: Tee, Brot, Käse..., manchmal auch etwas mehr, aber es reichte nicht. Trotz allem hatte ihnen das Leben in der frischen Luft die gute Gesundheit erhalten.

Sie hörte ihm zu, erfasste den Sinn seiner Worte, war aber schon betrübt, weil er sofort wieder gehen würde. Ihr Mann gehörte voll und ganz Kurdistan. Sie schworen einander ewige Liebe, und, schon vor Tagesanbruch, waren Abdul Rahman und seine Gefährten weit weg.

Taufiq, der Gerechte

Eines Tages kam Taufiq von einer Baustelle, die er leitete, und war völlig außer sich. Der Irak unterhielt geschäftliche Beziehungen mit der UdSSR, und Taufiq, ein Bauingenieur, überwachte die Errichtung eines Gebäudes am Rande Bagdads. Die Pläne waren von sowjetischen Architekten gemacht worden. Die Bauarbeiten waren erst am Anfang. Bei hochsommerlicher Hitze gibt es in Bagdad wahre Hundstage. Deshalb wurde mit den Arbeiten sehr früh am Morgen begonnen. Über Mittag gab es eine Unterbrechung, und es wurde erst wieder weiter gearbeitet, wenn es relativ kühler wurde. Die sowjetischen Techniker trafen vor sechs Uhr auf der Baustelle ein, arbeiteten bis Mittag und dann wieder ab zwei Uhr am Nachmittag. Taufiq zufolge trödelten sie wahrlich nicht. Das war jedoch bei den irakischen Arbeitern anders. Wenn diese kamen, hatten die Sowjets bereits einiges geleistet. Dennoch fand Taufiq die Iraker gegen neun Uhr im Schatten der Palmen, wo sie sich erholten, rauchten, den Durst löschten und sich unterhielten. Der Ingenieur konnte ihnen sagen, was er wollte, sie weigerten sich, bei der Hitze zu arbeiten. An diesem Tag hatte er rot gesehen. Ein Vertreter der irakischen Arbeiter hatte ihn körperlich attackiert, nachdem Taufiq den Arbeitern wieder einmal Vorhaltungen gemacht und auf die Arbeitsdisziplin der Sowjets hingewiesen hatte:

„Na, wenn sie unbedingt wollen, sollen sie doch schuften!“, war deren Reaktion gewesen.

Bei seiner Ankunft im Haus hatte sich Taufiq noch immer nicht beruhigt. Er sagte zu Lena, diese Arbeiter dächten nur an Geld, und das alles sei politische Gewissenlosigkeit, völlig inakzeptabel für die „Avantgarde der Gesellschaft“ in seinem Land. Was Taufiq nicht verstanden hatte oder nicht wusste, war, dass die Sowjets königlich entlohnt wurden, während die lokalen Arbeiter nur ganz elende Löhne erhielten.

Dschalal Talabani erfindet „Nasrin“

Mit der stoischen Haltung einer Verzweifelten akzeptierte Lena die häufigen Wechsel ihrer Unterbringung. Es war unmöglich abzuschätzen, wann ihre Freiheitsbeschränkung zu Ende gehen würde. Sie musste sich der geforderten Disziplin unterwerfen.

Eine dieser Zufluchtsstätten musste sie mit drei jungen Männern teilen. Einer von ihnen war ein Student der Rechtswissenschaften und hatte eben das Studium aufgegeben, um der Polizei zu entkommen. Er war ein sympathischer und gesprächiger Mann und trat unter einem Decknamen auf. Sein wirklicher Name war Dschalal Talabani.

Jedes Mal, wenn Lena ihr Versteck wechselte, musste sie auch ihren Namen ändern. Noch am Abend des Tages ihrer Ankunft begannen die drei jungen Burschen, für sie einen Namen zu erfinden. Talabani entschied:

„Du wirst dich Nasrin nennen. Das ist eine weiße Blume, die in den Bergen wächst. Du bist weiß und du bist von den Bergen zu uns heruntergestiegen.“

Lena musste danach noch mehrmals die Namen wechseln, aber Nasrin passte offenbar so gut zu ihr, dass die Kurden sie weiterhin so nannten.

Dieser Dschalal Talabani wurde schließlich Präsident des Irak.

Die „Höhle des Vampirs“

Lena und die Kinder wurden wieder einmal an einen anderen Ort gebracht. Diesmal war es ein Haus in der Umgebung Bagdads. Sie sollten es nicht mehr verlassen müssen, bis sie den so sehr erwarteten Pass in Händen haben würden. Es war eine der elendsten Unterkünfte. An den staubigen Straßen gab es nicht das geringste Grün und sie waren von kleinen Häusern gesäumt, die einsturzreif schienen.

Sie kamen zu einer niedrigen, halb kaputten Tür. Rechts davon gab es ein blindes Fenster zur Straße, das einst verglast gewesen war, dahinter ein verrostetes Gitter. Von Mammadi, dem Rothaarigen, begleitet, waren sie in einen düsteren und engen Gang getreten, in dem „Dämonen“ Spuren hinterlassen zu haben schienen: Von den schwarz gewordenen, rissigen Wänden war der Verputz heruntergefallen und hatte Flecken undefinierbarer Farbe sowie gelbliche Spuren wie Schwefel hinterlassen. Der Gang mündete in einen winzigen Hof. Auf der rechten Seite befand sich die Tür zu dem Zimmer, dessen Fenster zur Straße hinausging. Aber sie ging nicht auf. Die Angeln waren wie in die Mauer geschweißt. Zur Linken führten kleine Stufen auf das Dach. Der Zugang war durch eine Gittertür versperrt, die sich mit ihren verrosteten Angeln ebenfalls nicht öffnen ließ. Unter den Stufen gab es einen Wasserhahn als einzige Wasserquelle, und darunter war ein kleines Becken aus Stein. Gegenüber dem Wasserbecken befand sich ein weiteres Zimmer, das nahezu völlig finster war. Der Fußboden war von undefinierbarem Schottermaterial bedeckt. Ein einziges Möbelstück war da, ein Bett mit Metallgestänge, das aus vorsintflutlichen Zeiten stammen musste. Es stand unter dem einzigen Fenster, das auch kein Glas mehr hatte. Lena erzählte den Kindern, dass dieses Bett noch von Scheherezade stammte, was ihnen sehr gefiel. Sie nützten es rasch als Trampolin.

Sie versuchten, die Auflage vom Boden zu entfernen, aber, als sie sahen, was darunter war (eine klebrige Schicht und eine dickflüssige Mischung), zogen sie es vor, den Kies an Ort und Stelle zu lassen. Das hielten sie für hygienischer. Wenigstens gab es hier keine Schlangen und keine anderen Tierchen. Nur ein einziges Mal missachteten die Mädchen das Verbot, barfüßig aus dem Bett zu steigen. Sie klebten im Kies und schrieen um Hilfe.

Das letzte Zimmer grenzte an den düsteren Raum und hatte eine L-Form als Grundriss. Es war sehr klein und dennoch das größte von allen. Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen und schließen, und das vergitterte Fenster war bis auf ein paar Stellen verglast. Es war unmöglich zu erraten, wann dieses Haus errichtet worden sein konnte. Nach den niedrigen Türen und der Größe des ganzen Häuschens musst es sehr alt gewesen sein. Die ersten Bewohner waren offenbar viel kleiner gewesen als die heutigen Menschen.

Nachdem sie alles begutachtet hatten, nannte Lena das Haus „Höhle des Vampirs“, weil es wirklich unheimlich war. Die Mauern schienen zwar auf den ersten Blick recht dick zu sein, dies aber nur, weil sie durch die Feuchtigkeit aufgequollen waren. Sie trugen noch Spuren von Fackeln, und auf dem Boden zeichneten sich Abdrücke von Herden ab, auf denen Frauen gekocht haben mussten.

Das erste erfreuliche Ereignis war die Ankunft Ismaïls. Er war da, und er war gesund. Zuerst sahen ihn die Kinder an, als ob sie ihn nicht erkannten. Aber es dauerte nicht lange, bis sie ihre Freudenschreie ausstießen.

Er musste sich auch in der „Höhle des Vampirs“ einrichten, ebenso Mammadi, der Rothaarige, und Hadschi Agha, der aserbaidschanischer Herkunft war. Lena stellte letzterem keine Fragen, aber sie hielt ihn für einen Vermittler oder Boten zwischen den kurdischen Bewegungen im Irak und im Iran. Jedenfalls verschwand er und kehrte nach einer gewissen Zeit müde, schmutzig und hungrig wie eine streunenden Katze wieder.

Durch die Anwesenheit Ismaïls spielten und lachten die Mädchen wieder. Und Lena hatte wieder jemanden bei sich, den sie gut kannte, dem sie voll vertraute und mit dem sie endlich ungehemmt reden konnte.

Nach und nach gewöhnten sie sich an die „Höhle“, was am Anfang unvorstellbar erschienen war. Die Gegenwart der drei Männer änderte alles, vor allem, wenn Lena sich an das „Geisterschloss“ und ihre tödliche Einsamkeit dort erinnerte.

Die Hausfrau der „Höhle“

Die Besitzerin des Hauses war eine dicke, alte Frau, von Kopf bis Fuß unter einer schwarzen „Aba“ aus mehreren Metern Stoff verhüllt, wodurch sie noch dicker schien („Aba“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung der „Abaya“, eines arabischen Umhangs für Frauen). Sie konnte kaum durch die Türe gehen. Um die Stirn trug sie ein schwarzes, aber schmutzigbraun schimmerndes Band, das wahrscheinlich noch nie gewaschen worden war.

Sie kam unangemeldet und setzte sich auf den einzigen Sessel im Hause, der unter dem Fenster stand. Die Mieter nahmen ihr gegenüber auf dem Boden Platz und lehnten sich an die Mauer. Lena wurde wieder die Stumme, servierte ihnen sehr starken Tee nach irakischer Art, ein Glas nach dem anderen, und kommunizierte nur durch Lächeln.

Die Alte beehrte sie häufig mit ihrer Anwesenheit, bis ein Ereignis sie schließlich definitiv vom Haus fernhielt. Die Bewohner waren von Flöhen befallen worden. Sie kratzten sich ununterbrochen, Tag und Nacht. Lena begann einen verzweifelten Kampf gegen das Ungeziefer. Aber es ließ sich trotz ihrer drakonischen Maßnahmen nicht so leicht ausrotten. Es war eine sehr mühsame Zeit. Niemand hatte eine Idee, woher diese Flöhe gekommen sein konnten – bis zu dem Tag, an dem die Hausfrau ihren Tee getrunken hatte und von ihrem Platz beim Fenster aufstand, wobei aus ihrer Aba eine ganze Wolke von Flöhen entkam. Im Gegenlicht und unter den Strahlen der Sonne glänzte ein Regen aus Flöhen! Mit weit aufgerissenen Augen konnten die Mieter kaum glauben, was sie sahen.

Sobald die Türe sich hinter der Alten geschlossen hatte, stürzten sie los, um etwas für die Reinigung zu suchen. Diese Heerschar von Flöhen musste an der Ausbreitung gehindert werden. Die Arbeit dauerte mehrere Tage. Dann musste eine brauchbare Entschuldigung gesucht werden, um die Alte davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr kommen sollte. Mammadi, der Rothaarige, fand sie. Man würde ihr sagen, dass Lena an einer ansteckenden Krankheit litt, und es daher besser für die Hausbesitzerin wäre, sich dem Infektionsrisiko nicht auszusetzen. Das funktionierte. Sie blieben bis zum Ende ihres Aufenthalts in diesem Haus flohfrei.

Endlich Papiere – und neue Identitäten

Insgesamt hatten Lena und ihre Töchter acht Monate in dieser Stadt verbracht und dabei nie über irgendetwas Bescheid gewusst, das sie betraf. Endlich brachte Taufiq den Pass, dessen Foto eine mit einer Aba halb verhüllte Lena zeigte. Aus Mina war ein Bub namens Amin geworden, und Hiwa blieb ein Mädchen, hieß aber nun Fatima. Lena hatte ihren Pass in den Händen und freute sich, nun doch bald diesen Staat der Leiden und der Hoffnungslosigkeit zu verlassen.

Sofort begannen sie, sich mit ihren neuen Identitäten vertraut zu machen und die Namen richtig auszusprechen. Das war sehr wichtig: Eine fehlerhafte Aussprache konnte sie in Gefahr bringen. Auch durften weder Mina noch ihre Mutter vergessen, dass sie von nun an ein Bub war und sich auch nicht mehr wie ein Mädchen benehmen durfte, sogar wenn sie Pipi gehen musste. Lena neckte ihre Freunde, die ihr solche Empfehlungen gaben.

„Glaubt ihr, dass die Reisenden nichts anderes zu tun haben werden, als sich für das Geschlecht eines Kindes zu interessieren?“

Was das korrekte Tragen einer Aba betraf, war das wieder einmal eine Lernaufgabe. Man musste aufpassen, dass sie nicht herunterglitt und sich mit ihr richtig bewegen. Das alles war schwierig. Die Männer konnten ihr keine Ratschläge geben, und die Erfahrung, die Lena mit dem Tschador hatte, war nutzlos. Die irakische Aba ist viel weiter, schwerer und sie wird auch auf andere Weise angelegt. Am nächsten Tag erklärte ihr Mammadi, wie alles richtig gemacht wurde, nachdem er sich bei den Frauen seines Hauses informiert hatte.

Lena übte, trug das Ding schließlich korrekt und verkündete:

„Jetzt hab’ ich’s, ich weiß, wie es geht!“ Die Zuschauer applaudierten, und sie machte einige Schritte: zwei nach vorne, zwei nach hinten (mehr Platz war nicht im Zimmer). Dann setzte sie sich, mit ihrem Erfolg zufrieden, auf den Sessel. Der bewundernde Gesichtsausdruck der Männer verschwand, und die Kinder fingen an, wie verrückt zu lachen. Die Aba war ihr beim Hinsetzen hinuntergefallen, und sie hatte es gar nicht bemerkt. Nun aber hätte sie sich ohne Aba buchstäblich nackt fühlen müssen. Es blieb ihr nichts übrig, als mit dem Üben neuerlich zu beginnen. Noch war es nur ein Spiel, und alle amüsierten sich gemeinsam mit ihr. Sobald sie den Umhang außer Haus tragen würde, musste sich die Handhabung freilich sicher beherrschen.

Plötzlich war Lena mit ihrer Geduld am Ende. Sie wollte so schnell wie möglich aufbrechen. Also stellte sie alle möglichen Fragen über ihre bevorstehende Reise. Die Gefährten sahen einander an, bis einer schließlich in einem Ton zu reden begann, der jede weitere Frage unterband:

„Das alles muss mit Taufiq besprochen werden.“

Die Verschlossenheit verunsicherte sie. Es gab offenbar irgendwo ein Problem, und keiner der drei Freunde wollte darüber sprechen.

Änderung der Reisepläne – retour nach Teheran

Ursprünglich hätten sie von Bagdad nach Damaskus reisen sollen, wo seit acht Monaten Kak Haschar, Qadri Dschian, Ezzedin und Sabihi auf sie warteten. Aber die Situation hatte sich inzwischen geändert, und sie konnten nicht mehr direkt nach Damaskus fliegen. Die Beziehungen zwischen dem Irak und Syrien hatten sich verschlechtert.

Die aneinander grenzenden Staaten Iran, Irak, Syrien und Türkei standen permanent unter wechselseitiger Beobachtung. Sie hatten kaum Sympathien für einander, und Allianzen zwischen ihnen änderten sich ständig. Einmal schlossen sich zwei von ihnen gegen einen dritten zusammen, dann wieder kehrten sich die Unionen um. Einzig die Weigerung, die Rechte der Kurden anzuerkennen, war ihnen wirklich gemeinsam.

Während Lena in Bagdad gewesen war, hatte die Feindseligkeit zwischen Syrien und dem Irak Ausmaße angenommen, dass ein Krieg zu befürchten war. Zuvor hatte sie sich noch auf Wortwechsel beschränkt gehabt. Zum Krieg war es nicht gekommen, aber eine direkte Reise vom Irak nach Syrien war für Lena unmöglich geworden. Die Türkei schied aus, weil es keine Verbindungen zwischen den kurdischen Parteien gab.

Aber, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, findet man am Ende doch einen Ausweg. Unter den verbliebenen Möglichkeiten blieb nur der Iran übrig. Die Beziehungen zwischen den Herrschern im Irak und im Iran waren gerade nicht zu schlecht, man ignorierte einander. Die Grenze war durchlässig und, mit ihrem irakischen Pass hätte Lena nichts zu fürchten, war ihr versichert worden. Aber sie war bei der Vorstellung, neuerlich wie acht Monate zuvor über das Gebirge zu marschieren, beinahe in Ohnmacht gefallen. Letztlich fiel die Entscheidung zugunsten einer Autobusfahrt.

„Zu wem sollen wir in Teheran gehen? Ich habe keinerlei Adressen!“

„Mach’ dir deswegen keine Sorgen! Du wirst zu Abdul Rahman gehen. Er ist schon seit zehn Tagen in Teheran.“

„Da bin ich aber beruhigt! Wisst ihr überhaupt, ob er noch immer dort ist? Kennt ihr seine Adresse?“

„Kein Problem. Der Kamerad, der ihn bereits besucht hat, weiß den Weg. Er wird dir sagen, wie du per Taxi von der Endstation des Busses dort hinkommst.“

Lena blieb skeptisch. Ihr Mann wechselte ununterbrochen den Aufenthaltsort.

Sie musste schließlich die Wegbeschreibung des aus Teheran zurückgekehrten Freundes auswendig lernen und durfte sich nicht die kleinste Notiz machen. Leider waren die Angaben nicht wirklich präzise, und der Freund änderte sie bei jeder Wiederholung, wobei er stets bei der jeweils letzten Variante versicherte, diese wäre jetzt korrekt. Es war eine Litanei aus Straßennamen und Orientierungspunkten. Lena wurde davon schon fast übel, aber sie musste dem Mann vertrauen. Es gab einfach keine andere Lösung.

Also schlug sie vor, man möge Abdul Rahman im Voraus von ihrer und der Kinder

Ankunft informieren. Dabei wäre es auch möglich zu eruieren, ob die Adresse noch stimmte. Ein Bote könnte sie dann von der Busstation abholen. Aber die Antwort war, dass die Lage sehr ernst wäre und dass die Kameraden es nicht wagen könnten, auch nur einen Punkt des Planes abzuändern.

„Denkt Ihr auch an Lena und die Kleinen?“, fragte Ismaïl. „Sie setzen sich einem hohen Risiko aus!“

„Ja, sicher denken wir daran. Aber auch hier gibt es große Risken und die für viele Menschen!“

Die Untergrundorganisationen litten an chronischem Mangel an Führungspersonen, finanziellen Mitteln – an praktisch allem, und ein drohender Krieg ließ sie noch verwundbarer werden. Es ist nicht möglich, einen solchen Kampf ohne Disziplin und sogar Härte zu führen. Das verstand Lena. Die Hartherzigkeit ihr selbst gegenüber überraschte sie nicht. Sie konnten ihr nicht mehr helfen. Aber das bedeutete, dass von nun an alle Verantwortung bei ihr allein liegen würde. Sie konnte Taufiq nicht der Verantwortungslosigkeit beschuldigen. Seit ihre Wege einander gekreuzt hatten, hatte ihr sein Verhalten Respekt abgerungen, und dieser war im Laufe der Jahre noch größer geworden.

Der totgesagte Taufiq hatte Folter und Haft überlebt

Taufiq wirkte of mürrisch und sprach wenig. Wenn er aber ein Gespräch begann, dann war das immer interessant, und, sobald man Gelegenheit hatte, ihn besser zu kennen, war es eine Ehre, sein Freund zu werden.

Sein Schicksal war erschreckend. Lena erfuhr von seiner Verhaftung, als sie bereits in Europa in Sicherheit lebte. Er war auf die ärgste Weise gefoltert worden. Er redete nicht. Er verriet keinen. Die Nachricht von seinem Tod im Gefängnis traf Lena schwer. Es war, als ob ein geliebter Bruder gestorben wäre. Während ihrer Zeit in Bagdad war es Taufiq gewesen, der etwas Licht in das Dunkel ihrer Existenz gebracht hatte. Er war für die Hoffnung gestanden, die Lena half, sich aufrecht zu halten. Die Lücke, die sein Tod hinterließ, war riesig.

Seit damals waren Jahre vergangen. Lena hatte ihr Universitätsstudium abgeschlossen und unterrichtete an einer der Universitäten in Prag. Eines Tages kam ein irakischer Kurde zu ihr auf Besuch und brachte ihr ein kleines Täschchen aus Perlen und buntem Glas.

„Taufiq hat es für dich im Gefängnis gemacht und mir den Auftrag gegeben, es dir zu bringen und dir zu sagen, dass er dich nicht vergessen hat.“

Taufiq lebte!

Weil er nicht geredet hatte, war er für das Regime nicht mehr interessant gewesen. Er wurde daher von einem Gefängnis in das nächste verlegt und schließlich irgendwo in der Wüste in einen Kerker gesteckt, wo er sich „einrichten“ und Strafarbeit leisten sollte. Seiner Familie war mitgeteilt worden, dass es einen Gefangenen dieses Namens nicht gebe. Diese Auskunft bedeutete damals, dass der Betroffene tot war.

Seit jenen Tagen war Lena häufig umgezogen und hatte jeweils all ihren Besitz zurückgelassen. Aber dieses kleine Täschchen hat sie überall hin begleitet.

In den 1970er Jahren kam Lena wieder nach Bagdad. Eine Nachricht, mit der sie zu Taufiq eingeladen wurde, wartete auf sie. Sie wurde vom freundlichen Lächeln einer schönen Frau, der Ehefrau Taufiqs, und den beiden halb erwachsenen Töchtern begrüßt. Taufiqs Haar war schon angegraut, und er versuchte gar nicht, seinen rund gewordenen Bauch zu verbergen. Er plauderte, lächelte, neckte seine Töchter. Er lebte weiter, aber seine Augen hatten den hellen Glanz von früher verloren. Von der Liebe seiner Nächsten umgeben, war er glücklich, aber die Folterknechte hatten ihn für immer zu einem Gezeichneten gemacht. Die Barbarei tötet die Seele.