Kapitel 3 Die Ankunft im Iran

Wenn man irgendwo ankommt, brüllen einem jene, die einen erwarten, häufig ein „Herzlich willkommen“ entgegen, ohne dass sie das wirklich so meinen. Bis zu einem gewissen Grad hatte Lena diesen Eindruck, als sie auf dem Flughafen von Merhabad (Teheran) Abdul Rahman gegenüberstand. Wollte er seine Freude nicht zeigen, weil ihn zwei seiner Kameraden begleiteten? Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und wollte ihm das Baby geben. Er sah die kleine Mina aber nur an und sagte: „Wie hässlich sie ist!“ Für Lena war das ein widerlicher Scherz. Außerdem war es ungerecht. Die kleine Mina war sehr hübsch. Lena wusste, dass es Abdul Rahmans Art war, Leute zu necken. Das war auch Teil seines Charmes. Aber trotzdem... Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, konfiszierten die Zöllner alles, was Lena mitgebracht hatte. Ihr neues Heimatland begrüßte sie mit einem unpassenden Scherz und diebischen Zöllnern. Mit einem Schlag hatten sie nichts mehr, um ihr neues Leben zu beginnen.

Tatsächlich waren sie nur kurz nach dem blutigen Staatsstreich angekommen, der das relativ demokratische Regime Mossadeghs gestürzt hatte. Abdul Rahman hatte soeben einen veritablen Widerstandskampf begonnen und damit zugleich auch seine politische Laufbahn. Lena und ihre Tochter landeten in einem schlechten Moment.

Wenn man einen Kampf führt, zählen nur dieser und die Kameraden. Sie sind das Epizentrum eines Revolutionärs. Alles übrige ist nur ein Anhang. Alles wird davon bestimmt, was im Augenblick notwendig ist, und das weiß nur der Kämpfer, vor allem, wenn er an der Spitze des Kampfes steht. Jemand, der von außen kommt, kann das nicht verstehen.

Abdul Rahman hatte es eilig, den Flughafen zu verlassen. Er brachte sie und das Kind in das Haus eines Freundes, wo sie bleiben sollten.

Sie fuhren quer durch die Hauptstadt, die sie mit Staunen betrachtete. Die Sonne glühte, und nichts, das sie wahrnahm – die Straßen, die kleinen Händler, der Lärm, die neben den Autos dahintrottenden Tiere, das so deutliche Elend und der gleichzeitig so sichtbare Reichtum – hatte irgendeine Ähnlichkeit mit dem, was sie eben verlassen hatte: Die ängstliche, tschechische Bevölkerung und das Grau Prags. Sie kam in eine unbekannte Welt, in der sich die Farben uneingeschränkt ausbreiteten und in der bis zu einem gewissen Grad Gelassenheit und Umgänglichkeit herrschten. Sogar der Lärm war in seinem Ausmaß fremdartig. Sie entdeckte eine unbeschreibliche Verschiedenheit von Menschen und Dingen. Das war angenehm wie auch die Verheißung, dass sie nun von jedem Übel befreit sein würde und alles nur besser werden könnte.

„Frage nie, wohin ich gehe“

Schimran liegt im Norden Teherans am Fuß eines Gebirges, dessen Berg Damavend die Stadt überragt. Schon damals war Schimran ein Teil der Hauptstadt, obwohl dieses Viertel vom übrigen Teheran durch Hügel und unbewohnte Gebiete getrennt war. Dorthin hatten sie sich also begeben. An einem Ort, der Tadschirisch hieß, entdeckten sie ein unter Bäumen verborgenes Häuschen. Dort wurden sie von den Besitzern, einem Freund T. aus Prag und dessen Schwester, mit offenen Armen aufgenommen. Die beiden hatten zwei kleine Zimmer im Erdgeschoß für die Ankömmlinge freigemacht.

An diesem Ort hat Lena ihr neues Leben begonnen. Oft wurde sie gefragt, wie sie sich einlebte, und sie sagte, dass sie keine Probleme habe. Ihre wahre, psychische Verfassung gab sie nie preis. Nichts war einfach. Aber es gab auch glückliche Augenblicke, etwa, wenn Abdul Rahman sie „in die Stadt“ mitnahm, also ins Zentrum. Sie stellte ihm jede Menge Fragen, war von den Antworten ihres Mannes hingerissen und verinnerlichte diese sofort. Sie lernte rasch. Es war wie ein Spiel, bei dem sich die beiden Eheleute amüsierten.

Auf diese Weise verbrachten sie zwei Wochen miteinander. Dann ging er fort.

„Wohin?“

„Stelle mir diese Frage niemals. Ist das klar?“

„Aber warum?“

„Wenn du je der Polizei in die Hände fallen solltest, läufst du umso weniger Gefahr, Schaden anzurichten, je weniger du weißt.“

Die Regeln des Kampfes sind gnadenlos.

T. und seine Schwester gingen auch fort ohne zu sagen, wohin oder für wie lange. Lena blieb mit der kleinen Mina und einem neun oder zehn Jahre alten Buben aus dem Süden des Iran alleine. Er arbeitete als „Mädchen für alles“ im Haus. Die Gastgeber hatten ihn dagelassen, damit er das Haus hüte und Lena helfe. So war es Hussein, den man, wie im Südiran üblich, „H´sseïn“ nannte, der die Einkäufe erledigte, sich um das Haus kümmerte und auch Lenas erster Lehrer für die persische Sprache sowie die iranische Kultur und die Küche wurde.

Das Baby war glücklich, einen großen Bruder zu haben; die beiden mochten einander sehr. Die Kleine fuchtelte mit ihren Händchen herum und lachte aus ganzem Herzen. Tatsächlich lachten alle drei viel, und das wegen jeder Kleinigkeit. Alles war gut. Nie zuvor hatte Lena so großes Glück empfunden. Das vergisst man nicht. Aber Abdul Rahman fehlte ihr. Gemeinsam mit Kindern glücklich zu sein, ist eine wunderbare Sache. Aber niemanden zu haben, mit dem man über alltägliche Dinge und auch über wichtige Angelegenheiten reden kann, kann sich auf das Gemüt schlagen.

Auf die Heimkehr Abdul Rahmans zu warten und um sein Leben zu bangen, wurde Lenas Los.

Im Iran der 1950er Jahre war alles anders als das, was Lena vorher gekannt hatte. Unter der strahlenden und belebenden Sonne breiteten sich Schönheit und Elend vor den Augen aller aus. Aber das wirklich Schlimmste blieb zugleich im schwärzesten Schatten. Es war nötig, diese neue Welt in sich aufzunehmen, herauszufinden, was hier als gut oder schlecht galt, niemanden zu enttäuschen und in dieser Lehrzeit zu beweisen, dass man durchhalten konnte.

„Rühr’ den kleinen Esel nicht an“

Der Morgen hatte noch nicht gedämmert, als Lena von einem leichten Klopfen am Fenster geweckt wurde. Sie lebte noch nicht heimlich im Untergrund, aber sie stellte sich psychologisch darauf ein, um nicht unvorbereitet überrumpelt zu werden. Sie war halb wach, ihr Herz schlug zum Bersten (was dachte sie?), und Panik überfiel sie. Sie wollte flüchten, fand in der Dunkelheit ihre Kleider nicht, stieß gegen die Möbel. Dadurch fiel ein Topf mit einem Lärm von einer Stellage, der ihr tosend schien. In der darauf folgenden Stille hörte sie ein Flüstern: „Ich bin es, Rahman!“ Die geliebte Stimme! Ihr Herz wäre beinahe explodiert, diesmal vor Freude. In der Finsternis rief sie Hussein und sagte in dessen südlichem Dialekt: „Geh’ und mach’ die Tür auf. Der Herr ist gekommen!“

Da war er, von der Sonne in den Bergen gebräunt. Sie hatte sich während der vergangenen sechs Wochen wie im Hausarrest gefühlt. Jetzt war er da, und sie hoffte, an der Seite ihres Liebsten ihr neues Heimatland zu entdecken.

Sie brachen auf, um einen touristischen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Hals über Kopf stiegen sie den Hang hinauf, um zum Bus zu kommen. Dabei trafen sie auf einen Eselstreiber, eine Eselstute und deren Fohlen, die gelassen den Hügel herabkamen. Abgesehen von Büchern oder dem Zoo hatte Lena so etwas noch nie gesehen. Der kleine Esel war so herzig, dass sie ihn streicheln wollte. Abdul Rahman hatte es eilig und, als er realisierte, was sie zu tun im Begriff war, begann er zu schreien: „Rühr’ ihn nicht an!“ Das war das erste Mal, dass sie ihn auf diese Art brüllen hörte. Der schroffe Ton machte ihr Angst. Die ebenfalls zum Autobus strebenden Leute beäugten sie neugierig.

So begriff sie, dass Esel unreine Tiere sind, was auch den mit ihnen verbundenen Eseltreiber mit einbezieht. Hätte sie das Eselfüllen liebkost, wäre sie von den Leuten ausgelacht worden. Nun wich deren Aufmerksamkeit der üblichen Gleichgültigkeit. In ihrem Inneren verfluchte Lena trotz ihres Fauxpas diese Traditionen, die Tieren und deren Besitzer eine Art Schuld zuwiesen.

Und das Lena, die gegen Drachen kämpfen wollte!

Sie flanierten durch eine der längsten Straßen von Teheran, die Lalezar-Straße. Die Straßenhändler hatten ihre Waren in ihren Ständen auf dem Gehsteig ausgebreitet. Der Markt leuchtete in allen Farben. Autos fuhren im Schritttempo durch; die Straßenverkäufer priesen ihre Waren lauthals an; behinderte und nicht behinderte Bettler standen aufrecht oder saßen, an die Wände gelehnt, auf dem Boden. In Lumpen gehüllte Kinder bettelten ebenfalls, erzählten dabei von ihrem Unglück und liefen in allen Richtungen herum. Es war ein phantastisches Wirrwarr. Lena schossen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie gar nicht alle stellen konnte. Abdul Rahman war nicht in Stimmung, um ihr zu antworten. Er wollte nicht, dass sie auffielen. Er war bereits sehr misstrauisch.

Bald erreichten sie den Boulevard Istanbul. Das war eine belebte Prachtstraße voller Bäume und Grünanlagen.

„Schöne Orangen, ganz süß! Ganz süße Orangen!“, rief ohne Unterlass ein ausgemergelter Greis in Lumpen und schob einen mit hochreifen, glänzenden Früchten angefüllten Karren vor sich her. Sie waren durch ihre an die untergehende Sonne erinnernde Farbe von weitem sichtbar.

Im Orient Einkäufe zu erledigen, ist eine echte Kunst. Man plaudert über dies und das, man erzählt einander manchmal interessante Geschichten und verhandelt gleichzeitig über den Preis. Wer wird sich durchsetzen, der Verkäufer oder der Kunde?

Abdul Rahman ging auf den Händler zu und fragte ihn, was dessen Früchte kosteten (sie wurden stückweise verkauft). Der Verkäufer sah Lena, die „reiche“ Europäerin, und sein Obst gewann an Wert. Nun fingen die beiden Männer zu feilschen an. Für Lena war das schockierend: Der Kämpfer für die Rechte der Armen verweigerte diesem Elenden das Recht, ein paar kleine Münzen zu verdienen! Sie wollte protestieren, natürlich auf Tschechisch, aber der Kämpfer befahl ihr, sich nicht einzumischen. Die Männer feilschten lange weiter, ohne Ergebnis. Schließlich nahm Abdul Rahman Lena am Ellbogen und zog sie weg. Der Händler lief ihnen nach und senkte den Preis, aber Abdul Rahman blieb bei seiner Weigerung, bis der Preis eine nach seiner Einschätzung akzeptable Höhe erreicht hatte. Nun kaufte er mehrere Orangen. Lena fand das abstoßend und ließ es ihren Mann auch wissen. Dieser betrachtete sie amüsiert, aber ebenso liebevoll. Das ging ihr noch mehr auf die Nerven und ließ sie fast stottern.

„Du wirst es lernen, glaube mir“, sagte er, als ihr schon fast der Atem ausging. Aber sie hatte absolut nicht die Absicht, das zu lernen! Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie es doch tat, und das sogar gründlich.

Ehsan Nuri Pascha

Eines Tages gingen sie zu Ehsan Nuri Pascha. Dieser war ein Kurde, der in der türkischen Armee Offizier gewesen war. In den Jahren 1927-1931 hatte es in Region von Bitlis im türkischen Kurdistan einen Aufstand gegeben, den das „Komitee Ararat für Autonomie“ angeführt hatte. Ehsan Nuri Pascha hatte die Armee der Türkei verlassen, sich dem Ararat-Aufstand angeschlossen und war Oberkommandierender von dessen militärischem Arm geworden. Nach vier Jahren des Kampfes waren das Komitee durch die türkische Armee blutig vernichtet und etliche seiner Führungspersonen gefangen genommen worden. Ehsan Nuri war es gelungen zu entkommen. Nach einer langen Odyssee hatte er die iranische Grenze erreicht. Im Iran angekommen, hatte er Jaschar Hanum („Hanum“ ist die türkische Version von „Khanom“), seine junge Frau, nachkommen lassen. Er hatte von den Gegebenheiten jener Zeiten profitieren können, in denen die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Iran, um die es stets einmal besser und dann wieder schlechter stand, gerade nicht die besten waren.

Sie lebten nun in einem kleinen Haus in Teheran. Ehsan Nuri Pascha hatte bereits ein gewisses Alter erreicht, aber er hielt sich gut, war großgewachsen, geistig sehr rege und hatte stets ein etwas militärisches Gehabe. Gemäß seiner traditionalistischen Einstellung war die Frau dem Mann immer unterlegen. Wenn er sich ernsthaft mit Abdul Rahman unterhalten wollte, vertrieb er die Frauen an einen anderen Ort.

Jaschar Hanum war inzwischen eine alte Dame, sehr klein (sie reichte ihm gerade bis an die Taille), schmal und zerbrechlich. In ihrem Gesicht waren die Spuren ihrer früheren Schönheit noch erhalten geblieben. Sie war gastfreundlich, sehr liebenswürdig und nahm Lena unter ihre Fittiche. Da Jashar Hanum nie Persisch gelernt hatte, gab es für die beiden keine gemeinsame Sprache, aber sie verstanden einander, Gott weiß, wie. Sie war die beste Köchin der unterschiedlichen Speisen und Delikatessen des Orients, die Lena je getroffen hat. Außerdem kannte sie neben den üblichen kurdischen, türkischen oder persischen noch etliche, weitere Rezepte. Durch sie lernte Lena während der Besuche die Grundlagen der regionalen Küche kennen und kam auf den Geschmack. Aber sie mussten sich voneinander trennen, als Lena nach Kurdistan zog, und sie haben einander nie mehr wieder gesehen.

Ausflüge ohne Begleitung trotz Ausgangsverbots

Das Alltags-Persische ist eine Sprache, die einigermaßen leicht zu erlernen ist. Je besser man sie aber lernt, desto stärker wird man sich der Schwierigkeiten bewusst, die sich ergeben, wenn man Feinheiten ausdrücken möchte, ein wenig so wie im Englischen. Lena hatte die sprachlichen Grundlagen rasch gelernt und konnte sich verständlich machen. Deshalb bekam sie Lust, auch alleine fortzugehen und die Stadt zu erkunden. Sie wollte ihr neues Heimatland und den Orient kennen lernen und verstehen.

Auch, wenn er da war, wollte Abdul Rahman sie nicht immer begleiten – vor allem nicht so oft, wie sie es wollte. Aber er war auch dagegen, dass sie alleine ausging. Da sie viel alleine war, kam ihr diese Einsamkeit wie ein Schwarzes Loch vor. Sie versuchte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Also lernte sie die Sprache, erfand Geschichten, bastelte Spielzeug für ihr Baby und hakte die Tage im Kalender ab. Aber all das erfüllte sie nicht. Sie litt an ihrer Nutzlosigkeit.

Man muss hier festhalten, dass Lena im Gegensatz zu ihrem Verhalten nach außen ganz und gar nicht selbstsicher war. Aber ihr Minderwertigkeitsgefühl war insofern positiv, als er sie zum Lernen antrieb. Sie war sich ihrer Unzulänglichkeiten sehr bewusst. Die langen Abwesenheiten ihres Mannes wurden nur durch dessen kurze Aufenthalte in Teheran unterbrochen. Also unternahm sie trotz seines Gebots allein Ausflüge in die Stadt, lernte, sich dort zu bewegen, Besorgungen zu machen und sogar zu feilschen.

Eines Tages, als Abdul Rahman zu Hause, aber zu müde war, um auszugehen, beschloss sie, einen alten Plan zu realisieren: den Süden Teherans, den ärmsten Teil der Stadt, zu besuchen. Man hatte ihn ihr als so entsetzlich beschrieben, dass sie sich davon mit eigenen Augen überzeugen wollte. Ihr Mann, den sie gebeten hatte, sie dorthin mitzunehmen, hatte das verweigert und ihr sogar verboten, sich je dorthin zu wagen. Das war keine Gegend, die man besuchen konnte. Seit damals wollte er sie nicht mehr darüber reden hören.

An jenem Tag aber entschloss sie sich hinzugehen. Sie wollte wissen, was sich hinter diesem Verbot und der Abneigung verbarg, die sie bei allen bemerkte, die darüber sprachen. Sie wollte ihrem Mann ganz sicher nichts davon verraten. Aber, als sie zurückkam, empfand sie das dringende Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen. Sie erzählte ihm also, dass sie den Bus verwechselt habe und auf diese Weise in jenen Teil der Stadt geraten war.

Das, was sie aus den Fenstern des schwankenden Autobusses gesehen hatte, war unglaublich gewesen. Während der Bus in der Stadt langsam vorwärts kam, veränderte sich auch das Aussehen der Fahrgäste. Auch die Häuser veränderten sich, und sie sah bald nur noch verrottete Bruchbuden, um die es vor zerlumpten Leuten wimmelte; nackte, stark gebräunte Kinder liefen überall umher, und die Frauen unter dem Tschador, der einst einmal schwarz gewesen, aber inzwischen mattgrau geworden war, erinnerten an Schattenwesen. Im Norden Teherans war Lena vor allem wohlgenährten, eleganten Frauen begegnet. Der Gegensatz war schrecklich.

Plötzlich hatte der Bus scharf gebremst: „Alle aussteigen. Endstation!“ rief der Chauffeur. Vor dem Autobus lag quer über die Straße ein stöhnender Stier in seinem Blut. Er war aus dem Schlachthaus unmittelbar gegenüber entkommen. Die Schlächter waren im Begriff, ihn vor allen Leuten endgültig zu erledigen. In einem Halbkreis standen Gaffer neben dem Tier und sahen den Fleischhauern voll Gleichgültigkeit zu. Auch Kinder waren darunter. Die Szene war unerträglich.

Lena setzte den Weg nach Süden zu Fuß fort. Sie musste nicht weit gehen.

Im Norden Teherans sehen die Abwasserkanäle aus wie in Paris und haben Zugänge durch Kanalgitter in den Gehsteigen, an denen man sich die Knöchel verstauchen kann, wenn man unachtsam ist. Im Süden gab es entlang der Gehsteige offene Wasserrinnen. Zweimal pro Tag wurde von der Stadt Wasser verteilt, das für alle Zwecke verwendet wurde. In den Häusern gab es kein Fließwasser. Wenn es regnete, verdreckte dieses Wasser völlig. An jenem Tag war es einigermaßen klar. Eine Frau hockte dort im sorgsam an ihren Leib gepressten Tschador und wusch ihrem Kleinkind den Popo. Fünf Minuten später kam eine andere, verschleierte Frau, um hier Wasser mit ihrer Teekanne zu schöpfen...

Ein wenig weiter entfernt entdeckte Lena einen Stadtteil mit Häusern aus Erdziegeln. Die Baulichkeiten waren extrem niedrig. Sie glichen einer Art von Bienenstöcken mit ganz kleinen Eingängen. Später hat sie im Orient viele Häuser gesehen, die aus diesem Material gebaut waren, Ziegeln aus gekneteter Erde mit Stroh und manchmal auch mit Schafmist, die an der Sonne getrocknet worden waren. Diese Mauern sind tatsächlich ziemlich stabil, und es gibt Ruinen uralter, stufenförmiger Türme von Tempeln, Palästen oder Schlössern, die aus denselben Materialien gebaut worden sind und von vergangener Größe zeugen.

Lena ging langsam und sah alles genau an. Kinder folgten ihr und strecken die Hände bettelnd nach ihr aus. Manche Frauen taten das auch. Aber sie hatte nichts, das sie ihnen hätte geben können, nur das Geld, das sie brauchte, um die Buskarte für die Rückfahrt zu bezahlen. Drei Frauen verstellten ihr den Weg.

„Was machst du hier, Frau?“

„Ich bin gekommen, um Euch zu besuchen“, antwortete Lena mit einem Lächeln.

Die Frauen machten keinen feindseligen Eindruck, aber sie hinderten Lena am Weitergehen. Die Älteste von ihnen kam mit fragendem Blick näher, hob die Hand bis an Lenas Gesicht, als ob sie es streicheln wollte. Aber sie berührte das Gesicht nur mit den Fingerspitzen und sagte: „Also, meine Kleine, schau dich gut um.“ Dann ging die Frau weg. Die jüngste lud Lena ein, auf ein Glas Tee zu ihr zu kommen. Lena folgte ihr in deren „Bienenstock“. Das war die winzigste und ärmlichste Heimstatt, die sie je gesehen hatte. Als die Frau sich anschickte, das Feuer anzuzünden, entschuldigte sich Lena dankend und sagte ihr, dass sie nun nach Hause gehen müsste.

Die dritte Frau wartete draußen auf sie. Sie sah sie böse an und redete in einer Sprache, die Lena nicht verstand. Aber alles deutete darauf hin, dass die Frau ihr Vorwürfe machte, weil sie hierher gekommen war. Lena beschleunigte ihren Schritt und ging weg. Es war ihr aufgefallen, dass kein einziger Mann zu sehen gewesen war. Wo waren die Männer?

Sie hatte gesehen, was sie sehen hatte wollen, und sie war erschüttert. Das Elend und die Erniedrigung können vieles auslösen. Aber es ist nicht der Elende, der die Paläste zerstört, es ist die Verzweiflung.

Abdul Rahman war sehr ungehalten wegen dieser Expedition. Er verstand nicht, warum sie das Bedürfnis hatte zu sehen, was es an Schlimmerem gab. Für Lena war das Teil ihres Verlangens, den Orient kennen zu lernen. Mit dem Ungestüm der Jugend wollte sie alles in sich aufnehmen, begreifen und ihre Furcht überwinden. Und alles, das sie dazulernte, bestärkte sie noch mehr darin, jemand „Nützlicher“ zu werden.

So gut sie es konnte, nahm sie die Widersprüche dieser Gesellschaft hin, manchmal leidend, manchmal verblüfft. Die ganze Welt machte Fortschritte und perfektionierte alle Bereiche der Technik, aber um sie herum herrschten Unruhe, Unordnung, Missbrauch und Ungerechtigkeit. Dabei hieß es, die Iraner bewunderten den deutschen Ordnungssinn. Wie konnte man das verstehen? Bedeutete es, dass man schätzt, was man nicht hat?

Zarte Poesie und brutale Wirklichkeit des Orients

Schon von Anfang an hatte Abdul Rahman Lena in die Schönheit der persischen und der kurdischen Dichtkunst eingeführt. Diese beiden wunderbaren Sprachen geben den Gedichten eine Musikalität und göttliche Grazie. Inhaltlich besingen sie die Weisheit, den Mut, das Verständnis für die menschlichen Schwächen und zeigen eine anmutige Empfindsamkeit. Bei den alten Dichtern finden sich unerwartete Modernität im Denken, Distanz zur Religion, Verteidigung der Freiheit, aber auch Liebe zur Natur und zu den Menschen. Lena war voller Bewunderung und lernte auch Verse auswendig. Ihr Lieblingsdichter war Omar Khayyám. Von Anfang an hatte sie ihn verstanden und geschätzt. Sie war auch hingerissen von der Schönheit und der Feinheit der persischen und der indischen Miniaturen, mit denen die Bücher der Dichter illustriert waren.

Das andere Gesicht dieses Staates, das sie abseits der großen Armut entdeckte, war das der Gefahr, der Verhaftungen, der Folter, des Verschwindens von Freunden, der Meuchelmorde, der Hinrichtungen... Nach und nach verstand sie, dass es voll gerechtfertigt war, im Kampf für die Freiheit zu sterben. Dieser Gedanke leitete sie und minderte ihre Furcht. Am Anfang hatte sie sich im Erwachsenwerden ihre Zukunft als Kämpferin an der Seite ihres Mannes vorgestellt. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Es brauchte seine Zeit, bis sie Ordnung in die Dinge bringen konnte. Die Liebe machte ihr die Aufgabe etwas weniger schwer. In ihren Lehrer verliebt und begierig zu lernen, sammelte sie alle möglichen Kenntnisse. Sie mochten im Moment nicht unbedingt notwendig sein, aber es war anzunehmen, dass sie eines Tages hilfreich sein würden. Lena unterzog sich dieser Schule mit großem Eifer, was ihr auch eine gewisse, innere Ruhe brachte.

Sie musste nicht lange warten, bis die Wirklichkeit sie einholte und diese Erleichterung minderte. Der Kampf ihres Mannes und von dessen Kameraden brachte es mit sich. Die Zeit war gekommen. Sie brauchten Lena.

Vorerst hatte Abdul Rahman, als er neuerlich wegmusste, ihr wie gewöhnlich seine Empfehlungen wiederholt: In seiner Abwesenheit das Haus nicht zu verlassen – „der Bursche wird sich um alles kümmern“. So wurde Hussein wieder der Mann im Haus.

„Sperre den Vogel in einen goldenen Käfig – der Ihre war das wahrlich nicht – und lasse ein kleines Türchen offen.“

Empfindsame und neugierige Wesen akzeptieren selten etwas, das sie einschränkt. Lena, inzwischen 20 Jahre alt, hatte sich geschwind an ihr neues Milieu und an dessen Atmosphäre gewöhnt, wobei ihr die Ausflüge geholfen hatten. Weiterhin folgte sie den Empfehlungen ihres Mannes kaum und ging hinaus, um ihre neue Welt zu sehen.

Es war noch Winter. Im Norden der Stadt, unter dem Berg Damavend, hatte der Schnee den kleinen Bezirk, in dem sie wohnte, neuerlich bedeckt, und die Nächte waren eisig. Im Zentrum erwärmte aber schon eine großzügige Sonne die Straßen, und die Frauen hatten begonnen, sich leichter anzuziehen. Die Europäerinnen trugen wie ihre iranischen Nachahmerinnen dünne Mäntel, ausgeschnittene Kleider und hohe Absätze. Die Pariser Mode war mit den verhüllten Frauen in deren bunten oder transparenten Tschadors in Berührung gekommen; die schwarzen Tschadors waren hingegen das vertrautere Bild im Orient. Man konnte die verheirateten Frauen von den nicht verheirateten unterscheiden: Erstere hatten stark mit schwarzer „Sormeh“ (einem aus Staub von Holzkohle gewonnenen Eyeliner) geschminkte Augenlider und knallrot angestrichene Lippen, letztere waren völlig ungeschminkt. Außer Lena beachtete sie niemand, all das schien völlig normal.

Männer waren häufiger auf der Straße zu sehen als Frauen. Sie trugen entweder europäische Anzüge oder die traditionellen Trachten der nationalen Minderheiten. Und dann gab es noch jene, die nur Lumpen anhatten. Gemütlich vor ihren Geschäften sitzend und gut genährt, tranken die Händler Tee. Die angebotenen Waren lockten die Passanten an. Man konnte sich mit allem versorgen, vorausgesetzt, die Geldbörse war gut gefüllt. Es gab eine Mischung von Nationalitäten, Religionen, Kulturen, Sprachen, Aktivitäten, Farben und Sinneseindrücken, wodurch die Straße äußerst geschäftig wurde. Es war wie ein Jahrmarkt im Sonnenschein, eine Symbiose von Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne, Reichtum und Armut. Niemand hatte daran etwas auszusetzen.

Lena blieb gerne stehen, um sich die bunten Schaufenster anzusehen; die Verkäufer luden sie ein, in ihre Geschäfte hinein zu kommen, „nur, um sich zu erholen und eine Tasse Tee zu trinken und zu schauen, ohne etwas kaufen zu müssen“. Sie ging nicht auf die beruhigenden Stimmen ein, dankte lächelnd und marschierte weiter. Sie genoss es auch, die ruhigen und leeren Seitengassen aufzusuchen. Die Atmosphäre der Stadt durchdrang sie.

Aufbruch zu Abdul Rahmans Familie

Als er eines Tages wieder von seinem Einsatz zurückkam, kündigte Abdul Rahman Lena an, dass sie nach Rezajeh (das war der damalige Name von Urmia) aufbrechen würden, in seine Geburtsstadt, in der seine Familie lebte. Sie musste Hussein, ihrem Helfer im Haus und Lehrer, Lebewohl sagen.

Abdul Rahman und Lena nahmen das damals einzig verfügbare Transportmittel, den Bus. Noch nie war sie in einen dermaßen kaputten Bus gestiegen. Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Tschechoslowakei waren freilich auch wenig komfortabel, aber ein derartiger Zustand war unvorstellbar!

Ab Teheran war die Straße zwar asphaltiert, aber trotzdem von Schlaglöchern übersät. Ab Täbris änderte sich die Landschaft und die Route wurde staubig. Der Bus überquerte die Berge auf einer steilen, kurvenreichen Strecke, neben der tiefe Täler, Schluchten und Abgründe lagen, von denen einer wüster als der andere war. Wenn ein Auto entgegenkam, musste der Bus ganz an den Rand der Straße fahren, und man hatte das Gefühl, dass er den sicheren Boden unter den Rädern verlor. Während der Fahrt hielt er von Zeit zu Zeit vor einem der schmutzigen und lauten Gasthäuser an, aber die Tische und Gedecke waren dort sauber und die Küche gut.

Im Laufe eines dieser Zwischenstopps hatte Abdul Rahman in einer zum Bersten vollen Herberge trotz allem einen Tisch für sie beide und das Baby gefunden. Er ging kurz hinaus, kam zurück und fragte Lena, ob sie auf die Toilette gehen wollte. Er zeigte ihr den Weg und betrachtete sie amüsiert, als sie wiederkam. Es war ihr klar, dass er auf ihre Reaktion wartete – zumal sie ja aus Prag kam, wo es derartigen Schmutz nicht gab. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Für eine Frau aus Mitteleuropa war es unfassbar. Um ihm die Genugtuung nicht zu geben, zeigte sie ihm ihren Ekel und ihre Abscheu nicht. Selbst, wenn er sich über sie lustig machen sollte, wollte sie ihm beweisen, dass sie ihren Ekel beherrschen konnte und dass es sich um ein belangloses Problem handelte.

Viele Menschen aßen ohne Teller und Essbesteck. Sie nahmen ein Stück dünnen Fladenbrots, formten es zu einem Stanitzel und nahmen damit so viel Reis auf, wie hineinging. Sie versuchte, es nachzumachen, und es gelang ihr zu demonstrieren, dass es gar nicht so schwierig war. Hin und wieder hätte sie gerne die eine oder andere kritische Bemerkung gemacht, aber sie wusste, dass dies vergeblich und dumm gewesen wäre und sich am Ende gegen sie selbst gerichtet hätte. Mir ihrer Heirat hatte sie sich entschieden, und sie musste sich nicht wiederholen. Es unterliefen ihr Irrtümer und sie täuschte sich manchmal – sie musste einfach lernen! Sie erkannte, dass ihr Mann diese Haltung schätzte.

Jahre später hat ihr Abdul Rahman gestanden, er habe Angst gehabt, dass sie zurückkehren würde. Er hatte ausländische Frauen gekannt, die mit reichen Iranern verheiratet gewesen waren, sich nicht um Politik gekümmert hatten und ihre Männer nach einiger Zeit verließen, um in die Heimat zurückzukehren.

Lena kannte nur zwei tschechische Frauen, die mit Iranern verheiratet gewesen waren. Die eine kehrte heim, die andere wurde mit ihren beiden Töchtern von ihrem Gatten im Haus von dessen Eltern in einem Provinzort eingesperrt. Sie hatten dort genug zu essen, aber sonst nichts, kein Geld, keine Papiere, und waren jahrelang einer harten Prüfung ausgesetzt. Noch dazu hatte sich der Mann eine zweite Frau zugelegt, mit der er ebenfalls Kinder hatte. Nur durch das Chaos nach der Machtübernahme Khomeinis konnte die Frau entkommen und nach Europa zurückkehren. Sie hatte dazu viel Mut gebraucht.

Lena hingegen hatte keinerlei Grund, flüchten zu wollen.

Rezajeh war ein wahrhaftiger Turm von Babel, wo die Angehörigen verschiedenster Religionen und Nationalitäten gemeinsam lebten: Kurden, Aserbaidschaner, Armenier, Assyrer, Turkmenen, Russen, Moslems, Christen, Juden, Anhänger Zarathustras... Die Koexistenz über Jahrhunderte hatte jegliches Staunen über die unterschiedlichen Traditionen und Lebensweisen ausgelöscht. Ihre Aktivitäten vermischten sich und ergänzten einander. Alle Kinder gingen in die gleichen Schulen, sie besuchten einander und alle liebten ihre Stadt. Es war eine Stadt mit Wäldchen und Hainen, von einem hübschen Fluss durchquert, und überall in der Umgebung gab es Wein- und andere Obstgärten.

Als Israel die über die ganze Welt verstreuten Juden aufrief, sich in diesem Staat niederzulassen, entschloss sich in Rezajeh ein einziger Stoffhändler zur Abreise. Er hieß Schlomo. Nach sechs Monaten war er wieder da. Wussuq-e Divan hatte schon immer bei ihm die Stoffe für die ganze Familie gekauft und war zufrieden, ihn wiederzusehen. Er frage ihn wie ein braves Kind, warum er zurückgekommen war. Schlomo antwortete: „Es gibt dort unten zu viele Juden. Das ist nicht gut für das Geschäft.“ Die Menschen erzählten diese Anekdote lachend und froh, dass Schlomo wiedergekommen war.

Der Schwiegervater ist auf seine Weise angetan

Bei den Eltern Abdul Rahmans angekommen, wurde sie mit offenen Armen empfangen und in einem kleinen Haus gegenüber jenem der Eltern auf der anderen Seite des Hofes untergebracht. Sie teilten es mit dem ältesten Bruder Abdul Rahmans, Hussein Agha, dessen Frau Adalat und deren beiden Söhnen Ardalan und Saïd. Abdul Rahman und Lena verfügten über ein großes Zimmer mit einem Fenster und eine kleine, angrenzende Kammer. Der Boden bestand aus gestampfter Erde und war von einem riesigen Teppich bedeckt. Es gab hier einen Tisch, zwei Sessel und ein Bett. Die sanitären Anlagen waren im Hof.

Der Frühling hatte eben begonnen. Sie wurde erst wach, als sie Abdul Rahman beim Weggehen die Türe schließen hörte. Die Reise war anstrengend gewesen, und sie hatte Schwierigkeiten zu begreifen, wo sie sich befand. In ihrem Kopf schwirrten die vielen, neuen Eindrücke herum. Sie hatte wie ein Stein geschlafen und streckte sich jetzt mit Genuss im Bett, während sie die Wärme der durch das Fenster strahlenden Sonne auskostete. Plötzlich öffnete sich die Türe lautstark, und eine Greisin trat an ihr Bett. Sie zog die Decke komplett weg, betrachtete die nackte und erschrockene Lena vom Kopf bis zu den Zehen und verschwand wie sie gekommen war.

Das war zuviel für Lena, trotz ihrer Entschlossenheit, alles geduldig hinzunehmen. Sie zog sich hastig an, nahm das in seinem kleinen Bettchen seit einiger Zeit plappernde Baby und ging hinaus, um zu protestieren. Abdul Rahman lachte schallend.

„Das war Zari Khanom. Mein Vater hat sie schon vor einer Ewigkeit verstoßen (sich von ihr scheiden lassen), aber sie maßt sich das Recht an, über alle Vorgänge im Haus informiert zu sein. Sie wollte wissen, wem du ähnlich bist. Jetzt wissen es alle: Sie hat allen, die es wissen wollten, laut geschildert, dass ich meine Frau gut ausgesucht habe! Und wenn du alles wissen willst – mein Vater hat mich gefragt, ob du eine Schwester hast!“

Lena sah ihn staunend an, teils verärgert, teils geschmeichelt. Abdul Rahman wusste genau, dass sie weder Bruder noch Schwester hatte. Nun erklärte er ihr: „Hier bedeutete das, dass du meinem Vater so sehr gefällst, dass er gerne deine Schwester heiraten würde!“

Für Lena war das ein neues Rätsel. Wie konnte ein respektierter Greis, ein „Weißbart“, in Gegenwart seiner Frau, seiner Söhne und Schwiegertöchter, etwas derartiges fragen? Alle sahen Lena mit amüsierten Blicken an. Diese warf einen Blick auf Khanom Naneh, Abdul Rahmans Mutter, die an irgendetwas herumwerkte, als ob nichts los wäre. (Sie brauchte lange, bis sie Lena anvertraute, wie schlecht sie mit den Bemerkungen und Scherzen ihres Mannes über dessen galante Abenteuer zurecht kam, zumal er noch dazu polygam war.) Lena wandte sich ihrem Mann zu und erwartete Erklärungen. Aber der amüsierte sich königlich und lachte breit mit allen seinen strahlend weißen Zähnen.

Zusammenprall der Kulturen

Lena gehörte einer Gesellschaft an, in der die Monogamie seit Jahrhunderten verwurzelt ist. Im Unterbewusstsein dieser Gesellschaft war Respekt vor den Frauen seit den Hussiten-Kriegen des 15. Jahrhunderts verankert, als die Männer in den Krieg gezogen waren, und die Frauen sie daheim in allen Belangen ersetzten. Die Frauen hatten sich dabei auch selbst Respekt verschafft. Wenn die Männer seither ihre Vorherrschaft wieder eingeführt haben, so hatte ihnen die Geschichte die Fähigkeiten und das Können der Frauen bewiesen. Das gerät nicht in Vergessenheit.

In der Gesellschaft, in der Abdul Rahman groß geworden war, unterschied sich alles, was die zwischenmenschlichen Beziehungen und vor allem jene mit Bezug auf Frauen anging, von dem ihr Bekannten. Hier war allerdings nicht der Ort für Vergleiche, denn das hätte auf der einen wie der anderen Seite Beleidigungen ausgelöst. An diesem ersten Morgen hatte sie hautnah erfahren, dass die Polygamie, die unterschiedlichen Formen von Ehe, die Sicht des Mannes auf die Frau und deren Stellung in der Gesellschaft sich seit der Islamisierung oder sogar schon seit früheren Zeiten im Iran kaum geändert hatten. Trotz aller Zusicherungen Abdul Rahmans vor ihrer Eheschließung in Prag, trotz seiner Verurteilung der Ungerechtigkeiten, denen sein Volk und darunter vor allem die Frauen ausgesetzt waren, trotz der Tatsache, dass das Ziel seines Kampfes genau die Veränderung dieses Stands der Dinge war, befiel Lena Angst.

Die Frage ihres Schwiegervaters – sie wusste, dass es nicht ernst gemeint gewesen war, aber es sprach für sie Bände – bedeutete: „Du hast meinen Sohn genommen, jetzt kann ich deine Schwester nehmen!“ Man nennt das eine Eheschließung „Frau für Frau“ (zhen ba zhen). So kommt es, dass Greise ein „Geschäft mit Naturalien“ abschließen: eine junge Frau gegen eine andere.

Es gibt noch eine andere Form der Ehe, die „Siqueh“ genannt wird (Ehe auf Zeit). Sie kommt zum Einsatz, wenn ein Ehemann länger verreist oder sonst von seiner Frau getrennt ist. Er sucht sich dann eine Frau aus, mit der er zum Mullah geht, um diese „Ehe“ für eine bestimmte, vom Mann präzisierte Dauer anzuerkennen. Das kann für einen Nachmittag gelten oder für eine Woche sowie für Monate. Es ist eine vom Islam gesegnete Prostitution.

Draußen beim Wasserbecken in der Mitte des Hofes und umgeben von den zahlreichen Mitgliedern der Familie hatte Wussuq Agha nun durch diesen Scherz seinem Sohn Komplimente für dessen Wahl gemacht, und alle wussten, was er damit sagen wollte. Nur Lena gefiel es nicht.

Zari Khanom kam oft ins Haus. Lena sah sie nicht weit von der Küche an die Mauer gekauert und hörte ihre mit hoher Stimme abgegebenen Kommentare. Für die Bewohner des Hauses war sie ein Phänomen, dessen Entfernung kein Thema war. Sie nahmen die Anwesenheit gleichgültig hin und empfanden keinerlei Beziehung zu ihr, wenn sie mit ihr zusammentrafen. Wenn sie störte, ließ man es sie auch wissen. Obwohl sie aufsässig war und sich mit ihren Bemerkungen nicht zurückhielt, schwieg sie dann rasch, und man hörte eine Weile lang nichts mehr von ihr. Sie wusste, dass sie nicht übertreiben durfte.

Lena und die kleine Mina wurden von der ganzen Familie so natürlich aufgenommen, als ob sie schon immer dazugehört hätten. Lena war dafür aus tiefstem Herzen dankbar, und das half ihr, sich eher leicht an die Gepflogenheiten des Hauses und die Traditionen dieser Gesellschaft anzupassen. Es war tatsächlich mehr als Dankbarkeit. Sie fühlte sich mit diesen Menschen glücklich. Alle verwöhnten und liebten ihre Tochter, und die Cousins und Cousinen zeigten Lena die Stadt. Zum ersten Mal genoss sie das Glück, in einer Familie zu leben.

Obwohl sie erwachsen und Mutter war, sträubte sie sich nicht dagegen, den Eltern zu gehorchen. Sie wusste, dass sie immer noch viel zu lernen hatte, um wirklich akzeptiert zu werden. Also war sie gelehrig. Vor allem wollte sie keine typisch europäischen Fehler machen, mit denen sie die Orientalen verletzen hätte können. Also trug sie auch, wenn es sehr heiß war, lange Strümpfe und bedeckte ihre Arme bis an die Ellbogen (das genügte damals noch. Mit der Machtübernahme Khomeinis mussten sie bis an die Handgelenke verhüllt werden). Sie musste es außerdem stets Khanom Naneh ankündigen, wenn sie das Haus verlassen wollte.

Eine verheiratete Frau darf nicht laut lachen

Unter den Anstandsregeln, die sie verinnerlichen musste, waren auch jene, die das Lachen betrafen. Sie zu beherzigen, war für Lena schwierig. Eine verheiratete Frau hat nicht laut zu lachen. Sie darf lächeln und ihre Zähne zeigen, aber lautlos. Die Cousinen hielten sich beim Lachen nicht zurück, aber sie waren noch unverheiratet. Wenn Lena die Regel vergaß und sich Abdul Rahman neben ihr befand, drückte er fest ihre Hand. Wenn er weiter entfernt war, warf er ihr einen strengen Blick zu, um sie zur Ordnung zu rufen. Nach und nach passte sie sich, wie in allen Situationen, an. Gerade beim Lachen ging es ihr wider die Natur und forderte große Anstrengung. Das ging schließlich so weit, dass sie die eigene Erinnerung an ihr früheres Lachen verlor.

Gelegentlich geschahen auch bizarre Dinge: Eines Tages entdeckte Lena im Hof eine merkwürdige Figur, die ihr Angst einjagte. Die Haare sahen aus wie schwarze Nägel, die unterschiedlich lang waren und in alle Richtungen wegstanden. Die Frau hatte eine Hasenscharte und schwarze Löcher zwischen den Zähnen. Mit einem Auge schielte sie, und das andere hatte einen Hornhautfleck. Ihr ganzes Gesicht war mit Narben bedeckt, die von einem eiternden Abszess verursacht worden waren, das im Iran verbreitet ist und „zarde zakhme“ genannt wird. Noch dazu war sie buckelig und hinkte. Sie frage ihren Mann, wer denn diese Frau war. Er erklärte ihr, dass es eine Dienerin war. Seine Mutter hatte sie ausgesucht, um sicherzugehen, dass der bekanntermaßen zu galanten Abenteuern neigende Herr des Hauses sie in Ruhe lassen würde.

Schwager Ali Khan, ein Arzt, erzählte ihr, wie er Zeuge dafür geworden war, warum eine der Dienerinnen, ein hübsches, junges Mädchen, das Haus verlassen hatte.

Khanom Naneh war in eines ihrer vielen Dörfer abgereist, um der hochsommerlichen Hitze zu entkommen. Ihr Mann war in der Stadt geblieben. Eines Tages verlangte er von seinen Söhnen Hussein und Ali, sich ans andere Ende der Stadt zu begeben, um eine Angelegenheit zu regeln.

„Auf dem halben Weg sind wir darauf gekommen, dass uns ein Dokument fehlte. Hussein hat mich gebeten zurückzukehren, um es zu holen. Als ich die Türe des Hauses öffnete, von der man gut in den Hof sieht, stand da unser Vater (er war bereits fast 80 Jahre alt) am Fuß unseres großen Nussbaums mit den gegabelten Ästen, und fuchtelte mit seinem Gehstock in Richtung des Baumwipfels. `Hab’ keine Angst! Komm herunter, ich tu’ dir nicht weh!’ Die Dienerin saß auf einem Ast ganz oben und schrie ihn an, er solle sie in Ruhe lassen.“

Viele Dienerinnen beklagten sich über das Betragen des Agha. Deshalb wählte Khanom Naneh nur die Hässlichsten aus.

Es gab auch einen Diener, Mamad Quli, der schon seit seiner Kindheit hier arbeitete. Als Lena ankam, war er bereits ein alter Mann. Er war nicht mehr in der Lage, so wie früher zu arbeiten. Aber er half, wo er konnte, und man behandelte ihn wie ein Familienmitglied. Die Alten nicht im Stich zu lassen, ist einer der Vorzüge der feudalen Gesellschaften.

Mamad Quli wurde krank, und keiner wusste, was er hatte. Khanom Naneh sagte, dass es ihm schon lange schlecht gegangen war. Er hing stöhnend im Haus und im Hof herum. Er litt. Lena frage, warum man ihn nicht zu einem Arzt brachte. „Er will es nicht“, war die Antwort. Schließlich ging sie selbst zu ihm, um mit ihm zu reden. Er machte eine Handbewegung, stieß einen Seufzer aus und sah sie merkwürdig an. Das war alles.

Um ihr Haus zu verlassen, musste man einige Stufen hinunter steigen. Unter der Stiege befand sich der Kellereingang. Eines Tages hörte Lena ein Stöhnen ganz in der Nähe. Mamad Quli saß da beim Kellereingang, hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, und unter seinen Knien waren riesige Egel vollgesogen mit schwarzem Blut. Lena sah diese Egel zum ersten Mal in Aktion. Sie war entsetzt. Das Gesicht des alten Mannes war grau wie das eines Sterbenden.

„Was machen Sie?“, schrie sie.

„Hau’ ab!“, antwortete er.

Sie lief ins Haus, um Hilfe zu suchen und den alten Mann zu überzeugen, dass er die Blutegel wegnehmen sollte. Khanom Naneh war allein da. Sie nahm Lena fest am Arm und zwang sie, sich neben ihr im Schneidersitz niederzulassen. Für Lena wurde diese ungewohnte Position rasch unbequem, ja sogar schmerzhaft. Khanom Naneh, die assyrisch, aserbaidschanisch und ein wenig kurdisch sprach, hatte keine gemeinsame Sprache mit Lena. Aber sie schafften es, einander zu verstehen. Es war schwer zu sagen, wie das gelang, aber es gelang von Tag zu Tag besser.

„Mamad Quli weiß, was er tut. Du kennst unsere Sitten nicht. Also, bitte, misch’ dich nicht ein.“ Sie sprach ruhig, wie ein geduldiger Meister. Von Zeit zu Zeit unterbrach Lena sie auf persisch, um sich ein Wort erklären zu lassen, und ihre Schwiegermutter wiederholte ihre Ratschläge, bis sie verstand.

Ein anderes Mal sagte Khanom Naneh, wie sehr sie Abdul Rahman, ihren Jüngsten, liebte. Er war weit fort gegangen, um zu studieren, und er hatte ihr sehr gefehlt. Sie erzählte, dass er noch im Alter von fünf Jahren gekommen war, um an ihrer Brust zu trinken.

Man hatte sie sehr jung verheiratet und sie hatte zum Islam übertreten müssen. Aber, so betonte sie, Lena sollte sich nicht täuschen lassen: Es gebe nur einen einzigen Gott für alle. Es mache nichts aus, ob er christlich, moslemisch, jüdisch oder sonst etwas sei. Heimlich hatte sie ihren Sohn in die Kirche mitgenommen, damit er die andersgläubigen Christen um ihn verstehe und akzeptiere. Und der Kleine, der sich noch als Erwachsener daran erinnerte, hatte dieses Geheimnis nie verraten.

Khanom Naneh hatte Wussuq-e Divan aus ganzem Herzen geliebt, während jener ihr diese Liebe kaum erwiderte. „Ach weh“, sagte sie und rang die Hände, „was hat er mich leiden lassen wegen all seiner Frauen!“

„Hatte er viele?“

Sie wusste von 25. Aber er hatte außerdem auch noch „siqueh“, Ehen auf Zeit, geschlossen, ganz zu schweigen von weiteren Beziehungen darüber hinaus.

Nach dem Koran hat ein Mann das Recht, gleichzeitig vier Frauen zu haben. Wussuq Agha räumte ein, insgesamt neun gehabt zu haben, aber, so sagte er, nie mehr als vier zur selben Zeit. Jede von ihnen war in einem seiner Dörfer untergebracht, damit sie weit genug von einander entfernt waren.

„Wir beide, wir sind die Fremden in diesem Haus“, sagte Khanom Naneh eines Tages zu Lena. Aber diese verstand nicht, was damit gemeint war. Ihre Schwiegermutter schob daraufhin ihren Ärmel und auch den Lenas hinauf und wies mit dem Zeigefinger auf beider Haut. „Schau’ her“, ich bin so weiß wie du, und wenn meine Hände und mein Gesicht braun sind, dann kommt das von der Sonne.“

Lena verstand noch immer nicht. Jetzt hob die alte Frau ihren Rock in die Höhe und entblößte ihren runden und weißen Bauch. Endlich begriff Lena. Ihre Hautfarben waren identisch. Vielleicht hatte ihre Schwiegermutter Angst um Lena, die wie sie selbst von außerhalb in dieses Haus gekommen war.

Lena hatte den Impuls, ihre Schwiegermutter zu umarmen. Gerührt küsste sie ihr die Hand. Die Mutter ihres Mannes hatte die Schwiegertochter akzeptiert und sprach offen über ihr Leid. Seit ihrer Kindheit hatte Lena darunter gelitten, ihre Mutter nicht mehr gehabt zu haben. Nie hatte sie eine so heftige Gemütsbewegung empfunden wie in diesem Augenblick vor Khanom Naneh. Sie, der die Mutter durch das schlimmste aller Verbrechen, Mord, genommen worden war, hatte eine Ersatzmutter gefunden.

Sie wusste dennoch, dass die beiden einander bald würden verlassen müssen. Lena war sich bewusst, dass die analphabetische Mutter Abdul Rahmans eine gute und weise Frau war. Daran änderte es auch nichts, dass sie als kleines Mädchen mit einem um 30 Jahre älteren Mann verheiratet worden war, den sie lieben gelernt hatte, obwohl er sie gerade wegen dieser Liebe viel hatte leiden lassen. Ihr Mann brauchte sie inzwischen nur noch für die Hausarbeit. Ihre Söhne und Töchter waren verheiratet und längst ausgezogen. Khanom Naneh war allein unter Leuten zurückgeblieben, die von ihr nichts als ihre Selbstlosigkeit erwarteten, indem sie sich für die anderen verausgabte und nichts zurück bekam. Es fiel ihr schwer, dieses Fehlen von Gegenseitigkeit zu verstehen. So beschloss sie eines Tages, das einzige zu tun, das ihr möglich war: Sie hörte auf, den anderen zu Diensten zu sein und sich für sie aufzureiben. Alle waren ihr deshalb böse.

Seit damals ist viel Wasser die Flüsse hinuntergeronnen, aber Lena konnte diese Gespräche mit ihrer Schwiegermutter nie vergessen. Ein Grund dafür mochte auch gewesen sein, dass die übrigen Familienmitglieder nur noch schlecht über sie sprachen, und Lena die Frau, die sie ganz anders kennen gelernt hatte, verteidigen wollte.

Zwei Jahre nach dem Tod Wussuq-e Divans im Alter von fast 100 Jahren (und zehn Jahre nach Lenas Aufenthalt bei ihnen) folgte ihm seine Frau. Sie war krank geworden und hatte jede Behandlung abgelehnt. Sie hatte sich geweigert weiterzuleben.

Lena hatte in der Familie des angesehenen Wussuq-e Divan eine echte Ersatzfamilie gefunden gehabt. Sie hatte sich dort wohl gefühlt. Sie hatte erfahren, dass man immer und in jeder Umgebung innere Ruhe finden kann, sogar in einem so rückständigen Land, wie es der Iran jener Zeit war. Diese glücklichen Tage hatten sich in ihre Erinnerung eingegraben.

Aber selbst in Rezajeh hatte sie auch schwierige Zeiten erlebt. In einer großen Familie gibt es immer Gegensätze und unterschiedliche Meinungen. Manche der Traditionen waren für Lena inakzeptabel, aber sie unterwarf sich ihnen bewusst. Es war nutzlos, etwas ändern zu wollen, das in dieser Gesellschaft seit Jahrhunderten Bestand hatte. Ungeachtet dessen waren die Zeiten selbst im Begriff, fortschreitende Veränderungen der Mentalität der Menschen zu erzwingen. Einige protestierten bereits und gingen in den Widerstand.

Vor allem die Jungen kamen zu Lena und stellten ihr zahllose Fragen über Europa, den Sozialismus, den Kommunismus. Sie wollten alles wissen, und Lena war für sie die Vertreterin einer „glücklichen Zukunft“, für die sie sich engagieren und auch kämpfen wollten.

Sie kam aus einem Land, in dem ganz legal der Sozialismus aufgebaut wurde, wo man im Begriff war, die phantastische Hoffnung auf eine demokratische und gerechte Gesellschaft für alle zu realisieren. Sie war die Ehefrau eines von ihnen. Sie hatten Vertrauen zu ihr, und das wurde erwidert. Sie nahm an ihren Treffen teil, sie ging mit ihnen in die Stadt. Gemeinsam mit der Jugend von Rezajeh begann auch Lenas Engagement.

Sie stand Wache für die jungen Leute. Die helle Haut ihres Gesichts machte sie für die Polizei unverdächtig, die sich nicht vorstellen konnte, dass eine mit den jungen Leuten von Rezajeh herumschlendernde Frau aus dem Abendland etwas mit Politik zu tun haben könnte. Es war sie, die an einer Straßenecke die Polizei kommen sah und das vereinbarte Signal für jene gab, die gerade Slogans gegen die Monarchie in die Mauern ritzten. Diese bestanden, wie auch in Teheran, aus porösem Material, in das man leicht Schriften kratzen konnte. In die reizlosen Gassen und Straßen, in denen sich die Passanten langweilten, brachten diese Parolen und deren Lektüre Leben.

Ferien in Ghassemlou

Abdul Rahman kam wieder heim, und alle, die Familie, Freunde und Gefährten im Kampf, mieteten Fiaker, um das Tal Ghassemlous und dessen Dörfer zu besuchen. Die Kutschen waren voll besetzt. Alle waren jung, froh, die Stadt zu verlassen und beisammen zu sein. Im Dorf angekommen, wurde die kleine Familie Abdul Rahmans im Haus des „Kat-Khoda“, des Bürgermeisters, willkommen geheißen. Die anderen Besucher wurden von den Dorfleuten begrüßt. Das Dorf lag auf einem sanften Abhang, die Häuser waren aus demselben, porösen Material wie überall gebaut. Die Gassen waren staubig – ein typisch kurdischer Ort. Man sah hier wenig Grün, aber am Fuß des Abhangs entsprang in einem Wäldchen ein kleiner Fluss. Es war erst die Mitte des Frühlings, aber es war schon heiß.

Am ersten Morgen dort, sah Lena nach dem Aufwachen, dass das Gesicht ihrer Kleinen über und über mit roten Bläschen bedeckt war. Sie wurde panisch: Das waren die Röteln, und es gab weit und breit keinen Arzt! Lena weckte ihren Mann, der sich beide ansah und schallend lachte. „Schau’ dich an“, sagte er, immer noch lachend. In einem winzigen Stück eines trüben Spiegels blickte Lena auf ihr Gesicht und das Dekolleté. Da waren die selben Pusteln wie bei ihrer Tochter. Und es juckte. Es waren Gelsenstiche.

Verwirrt wandte sie sich ihrem Mann zu.

„Wir haben alle drei unter demselben Moskitonetz geschlafen. Kannst du mir erklären, wieso du nicht gestochen worden bist?“

Das Lachen Abdul Rahmans erinnerte sie an den Klang uralter Kirchenglocken – volltönend und heiter – und ansteckend. Das Timbre seiner Stimme war männlich und zugleich samtig. Wenn er lachte, verzieh ihm Lena alles, und ihre Beunruhigung löste sich in nichts auf. Und Abdul Rahman fing mit einer seiner kleinen Geschichten an, wie er es so gerne tat, diesmal über Stechmücken:

„Weißt du, unsere Moskitos sind gut organisiert. Vor jedem Einsatz schicken sie einen Kundschafter aus. Wenn er zurückkommt, sagt er ihnen ganz genau: das sind die Unseren, und die anderen die Fremden. Los! Wir werden es diesen Ausländern zeigen!“

Diese beiden Ausländer hier mussten von einer ganzen Armee von Gelsen attackiert worden sein. Sie hatten keine einzige, unversehrte Stelle an ihren Körpern.

Abgesehen von diesem Vorkommnis hatten sie eine gute Zeit. Sie aßen, schliefen, tratschten, diskutierten, machten Spaziergänge in der Umgebung und badeten in dem kleinen Fluss – die Mädchen und Frauen rund zehn Meter von den anderen entfernt in einer Biegung hinter Bäumen. Es waren richtige Ferien.

Das Baby und das Opium

Eines Tages besuchten sie ein anderes Dorf, das auch der Familie gehörte. Abdul Rahman wollte dort einen Freund aus der Kindheit treffen. „Dorf“ war eine Übertreibung. Tatsächlich war es ein Weiler mit drei Häusern.

Die ländlichen Gebiete Kurdistans versetzten Lena, die Ahnungslose, oft in Erstaunen. Sie durchquerten brach liegende Ebenen und Hügellandschaften, wo es nichts als Staub und nicht die mindeste Vegetation gab, und dann tauchte plötzlich, wie vom Himmel gefallen, ein Maulbeerbaum voller reifer Früchte auf – schwarz und süß, ein Genuss. Sie beeilten sich, den Baum von seiner köstlichen Last zu befreien.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Überall war es ruhig. Nur die Stimmen der Ausflügler waren zu hören. Mina war begeistert und wurde herumgereicht. Alle waren guter Stimmung. Drei kleine, triste Häuser und kein Grün; das Wasser war weit weg. Alle Eingangstüren standen offen – es wäre ohnedies kein Einbrecher auf seine Rechnung gekommen. Die Bewohner waren alle auf den Feldern. Vom Frühjahr bis zum Ende des Herbstes, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, arbeiten Männer und Frauen auf den Ackern, oft weit von den Dörfern entfernt. Sobald sie gehen können, kommen die Kinder mit.

Sie betraten das Haus des Freundes. In der Mitte der Decke des einzigen Zimmers klaffte ein Loch. Durch diese Öffnung sah Lena den Himmel, und die „Bienenkörbe“ der Siedlung im Süden von Teheran tauchten aus ihrer Erinnerung auf. Aber dieses Haus war größer. Nahe bei dem Loch waren zwei lange Stricke am Plafond montiert und an deren unteren Ende war eine Wiege befestigt. Darin lag eine winzige Mumie, mit Gurten so zusammengebunden, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie sog an einem Stofflappen und begann zu schreien. Lena sah genauer hin. Unten in der Wiege, unter dem Popo des Babys, war ein rundes Loch, und wieder darunter stand auf dem Boden ein Nachttopf. Sie wunderte sich über das wieder ruhige Kind, das weiterschlief, ohne auf die Ankömmlinge zu reagieren.

„Wieso ist das Kind so ruhig?“, fragte sie.

„Es muss durchhalten, bis seine Mutter zurückkommt. In dem Stofflappen ist Opium, damit es schläft“, wurde sie aufgeklärt.

Der menschliche Einfallsreichtum ist grenzenlos. Aber in jenem Moment dachte Lena mehr an die Grausamkeit, die er unter Beweis stellt, und an die Ungerechtigkeit, die diesem Kind widerfuhr – dass es überleben solle, wenn es stark genug wäre, wenn nicht, eben sterben – , und auch an das, was die Frauen auf sich zu nehmen hatten. Die Mutter des Babys schuftete den ganzen Tag, kam am Abend erschöpft von den Feldern zurück und musste noch kochen, saubermachen, die Wäsche und das Geschirr waschen, den Vater der Kinder bedienen, schließlich schlafen gehen, das Neugeborene an ihrer Seite mehrmals pro Nacht stillen; und dann würde ihr Mann sich auf sie legen und ihr ein neues Kind machen. Im Morgengrauen musste sie aufstehen, das Frühstück und den Proviant für den Tag zubereiten, ihr Baby samt der Dosis Opium im Stofflappen in der Wiege einsperren. Mit dreißig Jahren werde sie die Gesichtszüge einer alten Frau haben. Dann werde eine Junge kommen und an ihren Platz treten...

„Mimi, schau! Da ist ein Baby in der Wiege!“

Und Mina lachte, schelmisch, glücklich, gutgenährt, und zeigte mit dem Finger auf das im unter Drogen schlafende Kleinkind. Lena empfand Schuld und Scham. Der Unterschied zwischen den beiden Kindern war unfassbar. Die Kleine in der Wiege sah aus wie ein sterbendes Neugeborenes. Tatsächlich war sie bereits sieben Monate alt. Mina war kaum älter...

„Dieses Kind wird sterben“, sagte Lena. Abdul Rahman, der es ebenfalls ansah, sagte nichts. Es war offensichtlich, dass er so dachte wie sie, aber er hatte keine Antwort.

Vier Jahre später ist er wiedergekommen, um seinen Freund, den Vater, und das Kind zu sehen.

„Es ist ein Mädchen. Sie ist entzückend, kräftig und voller Lebhaftigkeit! Ich habe gesehen, wie sie einen Napf mit Reis samt Garnierung wie der Blitz geleert hat.“

Von den Kurden heißt es, dass sie ein robustes Bergvolk sind. Trotzdem hat Lena viele Kinder sterben gesehen, weil sie schon bei der Geburt schwach waren und keine Widerstandskraft gegen Krankheiten hatten. Es ist wahr, nur die stärksten überleben. Dieses Kind gehörte also doch zu den starken und robusten Bergbewohnern, sagte sich Lena.

Sie konnte den Besuch in jenem Weiler, dieses den ganzen Tag allein gelassene Kind und auch das Los der kurdischen Frau nicht vergessen. Das blieb ihr wie eine Gedächtnishilfe erhalten, aus der sie jedes Mal, wenn sie gegen quälende Probleme aufbegehren wollte, Kraft schöpfte.

Die Schlange

Die Gruppe der jungen Leute machte sich auf den Rückweg von einem langen Spaziergang durch das Wäldchen, durch das sich der Fluss zog. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen, und es würde nicht mehr lange bis zum Untergang dauern. Tamade und Lena waren hinter der Gruppe etwas zurückgeblieben, weil sie mit Händen und Füßen gestikulierend miteinander diskutierten und daher mit dem Tempo der anderen nicht mithalten konnten. Die Geräusche der Natur, die Schönheit des Spiels der Sonnenstrahlen mit den Ästen und den noch frühlingshaft hellgrünen Blättern, die Heiterkeit dieser Jahreszeit – sie umgaben Lena und vermittelten ihr ein Gefühl ewiger Sicherheit.

Plötzlich packte sie Tamade ganz fest am Arm. Ihr Gesicht, das eben noch so fröhlich gewesen war, schien in einem Maß aufgelöst, dass Lena zuallererst auflachen wollte, aber sie beherrschte sich angesichts der Verstörtheit ihrer Begleiterin. Kaum einen Meter von ihnen entfernt, hatte sich eine Schlange aufgerichtet. Ihr Kopf sah aus wie eine Marmorskulptur und befand sich auf der Höhe von dem Lenas, die größer war als Tamade. Die beiden sahen den starren Blick, die vibrierende Zunge und hörten das Geräusch des Tieres, „tss-tss-tss“, das typische Zischen dieser Reptilien. Die Spannkraft der Schlange war zu erkennen, flößte ihnen Respekt und entsetzliche Furcht ein.

Lena hatte in ihrem Leben nur eine einzige Schlange gesehen: eine junge Viper. In jenem Schuljahr hatte sie über Schlangen, also Wirbeltiere mit Schuppen, gelernt. Sie hatte erfahren, dass es davon mehr als tausend bekannte Arten auf der Welt gab, aber dass es in Böhmen nur sechs waren, darunter als gefährlichste eine Viper. Von der Schlange, die ihnen nun den Weg versperrte, wusste sie nichts. Nach dem, was sie in der Schule gelernt hatte, schien ihr diese nicht giftig zu sein. Aber wie konnte sie das wissen? Die Schlange hatte sicherlich auch Angst vor ihnen, so wie sie vor ihr. Lena drückte Tamades Hand, um sie sanft darauf aufmerksam zu machen, dass sie hier nicht versteinert für alle Zeit stehen bleiben konnten. Aber die Reaktion der Freundin war deutlich: Sie schien diese Schlange zu kennen. Da erst sah Lena einen schwarzen Strich, der im Zickzack den Rücken des Tieres entlang lief.

Sie bewegten sich nicht, die Schlange auch nicht. Sie wirkte wie ein stehen gebliebener Hund, der nicht angreift, so lange der Feind sich nicht rührt. Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit verging, aber nach Lenas innerer Uhr dauerte es sehr lange.

Die Freunde hatten das Wäldchen schon seit einer geraumen Weile verlassen, waren den Abhang hinuntergelaufen und in Richtung des Dorfs vom Weg abgezweigt. Erst jetzt bemerkten sie das Fehlen der beiden Frauen. Abdul Rahman kehrte um. Als er sie sah, deutete er ihnen, sie sollten sich beeilen. Aber sie bewegten sich nicht. Stutzig geworden, kam er langsam näher. Lena, die in dieser Lage die Augen eines Luchses hatte, sah, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Mannes veränderte. Erst verärgert, dann unsicher, wich er Entsetzen, als Abdul Rahman das Reptil wahrnahm. Er griff nach einem großen Stein und kam vorsichtig weiter näher. „Das ist unser sicherer Tod“, dachte sich Lena, überzeugt, dass es unmöglich war, eine Schlange dieser Größe nur mit einem einfachen Stein zu töten. Ihr zitterten die Knie. Die Haltung der Schlange hatte sich verändert. Sie hatte sich kaum merklich weiter aufgerichtet, so wie es Raubtiere vor dem Absprung tun. Den Stein in seiner erhobenen Hand, schien Abdul Rahman die Entfernung abzuschätzen. In dem Moment, als Lena die Augen schloss und das Schlimmste fürchtete, warf er den Stein. Er traf die Schlange auf dem Kopf. Sie war tot.

Jetzt lag sie bei ihren Füßen. Ein schönes Tier. Die Gefahr war vorbei, aber die zwei Frauen bebten am ganzen Leib. Abdul Rahman betrachtete das Ungeheuer lange. Dann begann er, erleichtert zu lachen. Auch sie fingen zu lachen an, aber es war ein nervöses Lachen. Tamade war komplett rot angelaufen, Lena völlig bleich.

„Hast du daran gedacht, was geschehen wäre, wenn du sie verfehlt hättest?“, fragte Lena, immer noch mit vor Entsetzen stockender Stimme.

„Wenn ich den Stein nicht geworfen hätte, wo wäret Ihr jetzt?“

Und dann erzählte er seiner Liebsten, die doch die Hunde und die Katzen so sehr mochte und von der Schönheit der Schlange bewegt war, eine Geschichte über die Erziehung kurdischer Buben.

„In Kurdistan lernen die Buben, bevor sie gehen können, gezielt Steine zu werfen. Sie lernen nicht nur das Werfen, sondern auch, wohin sie zielen, sei es, um ein Tier zu töten, sei es, um es nur benommen zu machen, wonach es mit einem leichten Schlag wieder aufgeweckt werden kann. Nach und nach perfektionieren die Buben ihre Technik und sind imstande, sich gegen gefährliche Tiere wie Schlangen oder Skorpione zu verteidigen. Sie können aber auch essbare Tiere fangen, etwa Wildhasen, Kaninchen, Rebhühner oder die Fische im Fluss. Um zu üben, habe ich viele Katzen, Hunde und Schlangen getötet, und ich kann es. Verstehst du jetzt, warum ich meiner sicher war?“

Sie stellte sich vor, wie ihr Mann Katzen und Hunde tötete, und das gefiel ihr gar nicht. Aber er hatte Kraft und Mut gezeigt, was Bewunderung verdiente und sie vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Die auf dem Boden zusammengerollte Schlange gehörte zur gefährlichsten Art der Region, und ihr Biss tötete auf der Stelle. Von jenem Zwischenfall an wurde die Tierliebe Lenas maßvoller.

Sprachliche Ausrutscher

Während jener Zeit beherrschte Lena nur rudimentäres Persisch. Aber sie verstand es schon gut und wagte es, sich auf Konversationen einzulassen, indem sie sich mit Gesten, Mimik, Lautmalerei und manchmal mit englischen Ausdrücken behalf. Das war zwar mutig, aber nicht immer erfolgreich.

Sie zwang sich dazu, allem, was in ihrer Umgebung gesprochen wurde, aufmerksam zu folgen, um möglichst rasch mit dem Persischen vertraut zu werden. Abdul Rahman hatte ihr gesagt, sie solle diese Sprache zuerst lernen, weil er dachte, sie würden sich vor allem in den persischsprachigen Gebieten oder in Teheran aufhalten. Also sprachen alle mit ihr persisch.

Die kleine Mina war stets in der Nähe ihrer Mutter und ihres Vaters. Wenn er seine kleine Tochter zärtlich neckte oder ihr eine Predigt hielt, weil sie sich zu lebhaft zeigte, nannte er sie „sagbab“ oder „sagbaboka“, manchmal auch „bisharaf“ und anderes Ähnliche. Durch die Art, wie er diese Ausdrücke aussprach, glaubte Lena, es seien Koseworte oder sanfte Ermahnungen. Aber diese Wörter bedeuteten etwas ganz anderes.

Im Dorf Ghassemlou unterhielten sich die jungen Leute jeweils mit dem, was gerade zur Verfügung stand. Manchmal spielten sie Karten. Lena kannte diese Spiele nicht und konnte sie so lernen. Sie setzten sich im Kreis auf einen Teppich. In ihrer Mitte lagen die Karten.

Eines Abends setzte sich einer der Neffen, Hassan, ein Blondschopf von 13 Jahren, neben Lena. Die regionalen Sitten sind bekannt: Alle Frauen, ob jung oder alt, haben einem männlichen Gegenüber, gleichgültig welchen Alters, bedingungslosen Respekt zu erweisen.

Der junge Hassan saß also neben Lena und näherte sich heimlich, still und leise, um ihr in die Karten zu schauen. Für sie war das nur ein Spiel, und der Versuch des Kleinen zu schwindeln amüsierte sie vor allem. Aber sie rückte weg und versteckte ihre Karten vor seinem Blick. Weil der Kleine wieder zu schwindeln versuchte, worüber sich übrigens die ganze Gruppe auf Lenas Kosten belustigte, erinnerte sie sich an einen Ausdruck, den Abdul Rahman verwendete, wenn er seine Tochter sanft rügte.

„He, Bisharaf!“, sagte sie zu Hassan.

Es entstand eisige Stille. Alle sahen Lena an. Hassan wurde rot. Lena war verlegen und perplex. Es war offenkundig, dass sie eben den Neffen beleidigt hatte. Aber sie verstand nicht, wodurch. Sie blickte flehentlich zu ihrem Mann und hoffte, er würde ihr zu Hilfe kommen. Aber er sagte nichts. Es dauerte eine Weile, bis er zu versichern begann, dass Lena nicht wusste, was sie sagte. Sonst tat er nichts. Zum ersten Mal in ihn ihrer Ehe hatte Lena das dringende Bedürfnis, ihn zu würgen: Er ließ sie mit ihrer Verwirrung und Erniedringung vor der ganzen Gruppe im Stich. Sie wollte schon davonlaufen, als ihr die Mädchen zu Hilfe kamen: Sie fingen an, aus vollem Hals zu lachen. Sie waren wirklich begeistert darüber, dass Lena sich derartige Freiheiten einem Burschen gegenüber herausnahm, wie sie selbst es sich nicht erlauben durften. Unter den jungen Männern begannen einige, ebenfalls zu lachen, aber eher vorsichtig. Abdul Rahman blieb weiter wie versteinert. Der Abend war verdorben, und alle gingen weg.

Als sie in ihrem Haus angekommen waren, erklärte ihr Abdul Rahman zwar nicht sein Verhalten, aber sehr wohl die Brüskierung, die sie verursacht hatte. Der Ausdruck „sagbab“ bedeutet Sohn eines Hundes, „sagbaboka“ ist dessen Verkleinerungsform; „bisharaf“ heißt ehrlos oder infam. Einen Mann „bisharaf“ zu nennen, ist eine schwere Beleidigung. Einige Tage später war die Affäre vergessen. Die Ferien waren vorbei. Sie packten ihre Sachen und kehrten nach Rezajeh zurück.

Nach diesem sprachlichen Missgeschick wurde Lena viel vorsichtiger, wenn sie mit Männern sprach. Sie fühlte sich deutlich freier im Umgang mit Frauen. Diese waren weniger streng und großzügiger.

Als nach der Rückkehr nach Teheran das Leben im Untergrund begann, kam Lena kaum mehr mit Frauen in Berührung. Sie sah sich fast nur noch von Männern umgeben. Manchmal wurde sie wütend über das männliche Geschlecht, über dessen Empfindlichkeit sowie das Überlegenheitsgefühl, und sie genierte sich nicht, das die Männer auch wissen zu lassen. Wie glaubten sie denn, dass sie ihre Sprache korrekt erlernen würde, wenn sie in nahezu völliger Verborgenheit im Untergrund eingesperrt war? Wie sollte sie mit der Arbeit zurecht kommen, die sie erledigen musste, wenn sie nicht, wem auch immer, unter Umständen störende Fragen stellen konnte? Wer sollte ihre Fehler korrigieren, die als anstößig empfunden wurden? Die Unkenntnis einer Sprache ist eine wirkliche Behinderung im Leben, unter diesen Umständen sogar gefährlich – und sie setzt dem eigenen Vorstellungsvermögen Grenzen.

Es gab allerdings auch zwei Männer, mit denen sie sich gut verstand: Ismaïl und Saddiq, die sich gut in sie einfühlen konnten. Beide sind tot.

Eine Abtreibung und eine „belanglose“ Kinderkrankheit

Lena war bereits im vierten Monat ihrer Schwangerschaft und glücklich darüber. Nach der Rückkehr aus dem Dorf Ghassemlou wollte sie zu einem Gynäkologen gehen, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war. Dieser Doktor Germain, der einen guten Ruf in der Stadt hatte, teilte Abdul Rahman mit, dass eine Abtreibung notwendig sei, weil Lena die Niederkunft nicht überleben würde.

Es wurde eine 35minütige Kuretage mit einer Spritze Morphium als einzigem Narkosemittel und mit chirurgischen Instrumenten, die Jahrzehnte alt waren. Sie wachte acht Tage danach auf, fand sich auf dem Tisch des Hauses liegend und sah den Arzt, der sich über sie gebeugt hatte und meinte: „Es ist nichts, nur eine kleine Nachbehandlung“!

„Wo ist Abdul Rahman?“, fragte sie.

Khanom Naneh stieß einen tiefen Seufzer aus. „Er ist am selben Tag weg gegangen, an dem er dich zum Arzt gebracht hatte.“

„Wann kommt er wieder?“ Niemand wusste es.

Lena musste rasch wieder auf die Beine kommen: Mina litt an Durchfall. Eine Woche lang war Lena bewusstlos gewesen. Währenddessen war die Kleine mit „abgousthe“ gefüttert worden, einer dicken Suppe aus Fleisch, Paradeisern und getrockneten Erbsen. So war ein kaum einjähriger Säugling nicht zu ernähren.

Abdul Rahman war weit weg, und Lena hatte kein Geld. Mina blutete aus dem Darm.

„Wir werden ihr ein Püree aus Reis mit Joghurt machen“, schlug Khanom Naneh vor. Aber der Zustand des Kindes besserte sich nicht. Lena verlangte, dass die Kleine zu einem Arzt gebracht werden sollte, aber niemand hörte auf sie. Aus Hilflosigkeit weinte sie in der Nacht. Und plötzlich, mit einem Schlag, vergaß sie all ihre Beschlüsse, die Traditionen und Bräuche zu respektieren.

Über einen Starrsinnigen sagt man, dass er beide Füße in denselben Schuh steckt. Das tat Lena. Sie bestand darauf, dass ein Arzt ihre Tochter sehen sollte. Sie bat ihren Cousin Ismaïl, zu übersetzten, was sie sagte, um sicherzugehen, dass ihre Schwiegermutter es auch verstünde. Sie zog Mina das Höschen aus und zeigte ihm die kleinen, vom Blut völlig roten Pobacken. Die Reaktion ihrer Schwiegermutter ließ ihr den Atem wegbleiben. Sie nahm eine dicke Strähne ihres langen Haars mit der einen Hand und bedeutete Lena mit der anderen, diese abzuschneiden.

„Du musst sie verbrennen und die Asche auf ihr Hinterteil geben. Das wird sie gesund machen.“

Die junge Mutter war im Begriff, vor Wut zu platzen. Ihr absolute Ohnmacht ließ sie in Tränen ausbrechen. Sie drehte sich zu Ismaïl:

„Sag ihr, dass ich es tun werde, aber dass ich noch nicht ganz an Eure Bräuche gewöhnt bin und das nicht verstehe. Dieses Mal will ich meine Tochter zum Arzt bringen.“ Ihre Stimme zitterte, die Tränen flossen und ihr Herz schlug bis zum Hals.

„Was ist hier los?“ Das war die ruhige Stimme von Wussuq-e Divan.

„Sag es ihm! Sag ihm, dass ich für Mina einen Arzt will!“, drängte Lena den Cousin, ohne daran zu denken, dass ihr Schwiegervater sie ohnedies verstand.

„Was willst du, dass er mir sagen soll? Warum willst du zu einem Arzt gehen?“

Es wurde ihm erklärt, worum es ging.

„Geh hin. Du brauchst kein Geld. Du musst dem Arzt nur sagen, dass sein Honorar auf meine Rechnung geht.“

Sie kam gar nicht dazu zu staunen, dass ein Mediziner wie ein wie ein Gemischtwarenhändler Kredit geben könnte. Kaum hatte sie das Ende jenes Satzes gehört, war sie auch schon mit dem Kind und dem Cousin weggelaufen.

Der Arzt war sehr ungehalten, weil er so lange nicht konsultiert worden war. Dann verschrieb er Medikamente, und Mina erholte sich. Daheim wurde Lena verspottet, weil sie „in Panik verfallen war, wo sich Kinder doch ganz von alleine bei solchen belanglosen Krankheiten erholten“.

„Basheh, basheh!“ (Schon gut, schon gut), gab sie zurück.

Die Weintraubenkur – hart, aber erfolgreich

Die Abtreibung und die darauf gefolgten Komplikationen hatten Lena sehr geschwächt. Sie war abgemagert und blass. Eines Tages nahm sie mit Tamade und Ismaïl eine Kutsche, um in eines der Dörfer zu reisen, die Khanom Naneh gehörten. Ismaïl und Tamade waren ineinander verliebt und dachten ans Heiraten. Sie kamen gerne, um als Anstandspersonen für Lena zu fungieren, wenn diese der Aufsicht der Eltern entkommen wollte.

Khedraweh war von Weinstöcken umgeben, die eine Vielzahl unterschiedlicher Trauben trugen. In Kurdistan gelten Weintrauben als Medizin für alle Leiden. Zumal Lena diese Früchte besonders gerne mochte, war sie von der Idee einer Behandlung damit hingerissen. Sie wusste nicht, was auf sie zukam.

Die Frau des Bürgermeisters wurde damit betraut, sich um Lenas Gesundheit zu kümmern. Sie hatte ein großes Herz, war sehr nett, aber äußerst streng. Sie weckte Lena mit einem „psst“, um die übrigen nicht im Schlaf zu stören, und befahl ihr mit einer herrischen Geste, die frisch gebrockten Trauben zu essen, die sie ihr auf einer großen Schale gebracht hatte. Dabei blieb sie neben Lena sitzen und wartete, bis diese alles aufgegessen hatte. Anschließend weckte sie die beiden Verliebten, und um sechs Uhr früh waren sie bereits in den Weingärten. Die Trauben waren kühl und nach einer kalten Nacht von Tau bedeckt. In den Weingebieten von Khanom Naneh hatte Lena auch Feigen entdeckt. Sie pflücke sie ganz frisch, und die kleinen Kerne krachten zwischen ihren Zähnen – sie war im Himmel. Dann gingen sie langsam ins Haus zurück, wo auf sie ein reichliches Frühstück wartete: Tee, ganz feine Fladen frischen Brots, Käse, hausgemachte Marmelade, gekochte Eier – und eine Schale voll mit Weintrauben, die sie aufessen musste. Sie konnte dabei nicht einmal schwindeln, weil alle ihr zusahen.

Am Vormittag machten sie Spaziergänge in der Umgebung. Wenn man die Weinstöcke einmal hinter sich gelassen hatte, zeigte sich die Natur wenig einladend. Es war eine trockene Ebene, nur da und dort stand ein Baum. Um elf Uhr am Vormittag brannte die Sonne auf die Erde, die unter den Füßen spürbar heiß wurde, und Lena wie Balsam umschmeichelte.

Wieder daheim, erwartete sie eine weitere Schüssel Trauben, und sie wurde von ihren Wächtern beaufsichtigt.

Nach dem Mittagessen, wieder eine Schale mit Weintrauben.

Im Anschluss an die Jause, eine Schüssel Trauben.

Nach dem Nachtmahl, eine Schüssel Trauben.

Vor dem Schlafengehen, eine Schüssel Trauben.

Um fünf Uhr früh fing es wieder los. Nach drei Tagen mit dieser Diät konnte Lena nicht mehr. Ihre Betreuerin hatte zwar die Mengen der Früchte reduziert, aber nicht die Anzahl der Mahlzeiten. Diese Kur dauerte zehn Tage. Die junge Frau kehrte in die Stadt zurück, hatte zugenommen und war gesundheitlich besser beisammen.

Abdul Rahman von der Polizei gesucht

Abdul Rahman war im Einsatz unterwegs, und niemand wusste, wann er zurückkommen würde. Aber daran hatten sich alle schon gewöhnt. Eines Tages wurde Lenas bis dahin friedliches Leben im Zuge einer Versammlung der jungen Widerständler von einer Neuigkeit verändert. Sie saß da im Schneidersitz wie alle und versuchte zu verstehen, was rund um sie geredet wurde. Sie konnte dem nicht gut folgen. Von Zeit zu Zeit wurde ihr der Inhalt der Diskussionen zusammengefasst übersetzt.

Plötzlich kam ein atemloser Bote und schrie, dass da jemand mit Lena sprechen wollte. In einer Mauernische verborgen, wartete ein Mann auf sie.

„Du musst sofort zu Abdul Rahman kommen. Er kann auf keinen Fall in die Stadt zurückkehren“, rief der Bote. „Die Polizei sucht ihn und wartet, dass er von Täbris hierher kommt.“ Und weg war er.

In Täbris könnte sie Ahmad, den dort wohnenden, ältesten (Halb-)Bruder Abdul Rahmans (er stammte aus einer frühen Ehe des Vaters mit einer verwitweten Familienangehörigen), bitten, ihr bei der Suche nach ihrem Mann zu helfen. Aber sie hatte kein Geld, beherrschte die Sprache nicht gut und war als Ausländerin erkennbar. Wie sollte sie es anstellen, die Stadt zu verlassen, in der jeder jeden kannte, und die Polizei alle Ankünfte und Abfahrten des einzigen Transportmittels, der Busse, kontrollierte.

Zu allem Überfluss hatte sie auch noch den Auftrag, den Eltern nichts zu sagen.

Sehr nachdenklich ging sie zu den Versammelten zurück und war entschlossen, nur jene Familienmitglieder auf dem Laufenden zu halten, die dem Widerstand angehörten. Die ersten, die sie ins Vertrauen zog, waren die Cousins Abo, Ismaïl und Tamade. Ohne deren Hilfe wäre sie außerstande gewesen, irgendetwas zu unternehmen. Allerdings hatten auch sie, wie Lena selbst, kein Geld und auch nicht die nötigen Kenntnisse für einen derartigen Fall.

„Ich sehe nur einen Menschen, der Abdul Rahman helfen könnte, und das ist Wussuq-e Divan. Er kennt all die lokalen Autoritäten, er hat Geld, und es geht um seinen Sohn. Was sagt ihr?“ Die Cousins sahen Lena ungläubig an.

„Habt ihr eine andere Lösung? Ich muss unbedingt nach Täbris! Ich kann hier nicht warten, während Abdul Rahman in Gefahr ist!“

Sie eilte nach Hause. Khanom Naneh wartete schon im Hof. Sie schätzte die Alleinunternehmungen Lenas nicht.

„Wo warst du?“, fragte sie mit strenger Stimme.

„Bei Tamade und Abo.“ Das stimmte ja auch. Aber sie erwähnte die Versammlung nicht. In diesem Moment kamen auch die beiden Cousins, und Ismaïl folgte ihnen. Naneh beruhigte sich.

„Wo ist Agha Baba (Großvater)?“, fragte Lena ihre Schwiegermutter.

„Was willst du von ihm?“

„Ich möchte ihn etwas fragen.“

„Was möchtest du ihn fragen?“ Es war nicht einfach, an den Schwiegervater heranzukommen.

„Er wird es dir selbst sagen.“

Es war leicht zu erkennen, dass Lenas Antwort Khanom Naneh nicht sehr gefiel. Aber sie sagte Lena trotzdem, dass er gerade mittaggegessen und sich anschließend in sein Zimmer zum Gebet begeben hatte.

Wussuq-e Divan war ein tiefreligiöser Mann. Er hatte dennoch seinen Glauben seinen Kindern nicht oktroyiert. In jenen Tagen machten alle seine Söhne den Eindruck, ungläubig zu sein. Abdul Rahman war überzeugter Atheist; ebenso Ahmad Agha; Ali Khan spöttelte über die Religiösen, aber Lena war sich nie sicher, ob er wirklich ungläubig war oder auf seine Weise doch religiös. Er wirkte eher gläubig, aber er machte Witze, die sehr stark jenen ähnelten, die Lenas Onkel, der Anarchist, von sich gegeben hatte. Einer dieser Scherze war wortwörtlich der selbe, den Onkel Franz erzählte! Lena hatte ihren Ohren nicht geglaubt.

Cousine Ziba war sehr religiös, und Ali Khan ließ sich keine Gelegenheit entgehen, sie deshalb zu necken. Einmal fragte er sie, ob Gott wirklich alles tun könne. Sie antwortete mit fester Stimme, dass er das könne.

„Also könnte er einen Stein schaffen, der so schwer wäre, dass er ihn nicht heben könnte!“

„Er kann das!“

„Wie denn, Ziba! Er kann alles, und dann kann er diesen Stein nicht heben?“

Ali Khan lachte breit, und Ziba bezeichnete ihn wütend als „kafer“ (Ketzer).

Was Hussein Agha betraf, den ältesten der Söhne, so fing er erst an, die Regeln des Koran zu befolgen, als er wegen Abdul Rahman in den Kerkern Khomeinis dahinvegetierte (Abdul Rahman war damals bereits Generalsekretär der illegalen DPKI).

Keiner seiner beiden Brüder, Hussein und Ali, betete. Aber vielleicht verstanden sie ihre Religion in anderer Weise.

Niemand und nichts durfte Wussuq-e Divan stören, wenn er beim Gebet war. Während die jungen Cousins zu Mittag aßen, setzte sich Lena, der der Appetit vergangen war, in der Nähe der Türe zum Zimmer ihres Schwiegervaters hin. Sie war außer sich vor Angst, dass ihrem Mann etwas geschehen könnte. Diese ohnmächtige Hilflosigkeit kannte sie seit ihrer Kindheit. Aber jetzt war sie erwachsen, und sie wollte nicht unterliegen!

Sie musste bis vier Uhr am Nachmittag warten. Erst dann hatte der Schwiegervater seine Gebete beendet, die er in Psalmen sang. Als er die Türe öffnete, fand er die erschöpfte und verzweifelte Lena.

„Du wirst nirgends hingehen, so lange ich lebe, hörst du! Niemand soll es wagen, die Hand gegen meinen Sohn zu erheben!“ Er war sehr hart und selbstsicher. Aber Lena wusste, dass die Zeit seines großen Einflusses in der Region längst vergangen war. Viele Leute bezeugten ihm weiterhin großen Respekt, vor allem jene, die ihn auf dem Gipfel seines Ruhmes gekannt hatten, als niemand, nicht einmal die Behörden, es gewagt hatten, sich gegen ihn zu stellen. Aber inzwischen hatte er viel von seinem Einfluss verloren.

Lena musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihn zu ersuchen, sich bei den amtlichen Stellen zu erkundigen, und das auch noch schnell: Wenn der Befehl von der Zentralverwaltung gekommen war, würde die lokale Polizei es nicht wagen, ihn zu verweigern. Er blickte seine Schwiegertochter an wie ein Wilder und sah ihr stummes Flehen nicht. Sie hatte sich ihm in den Weg gestellt, damit er hören sollte, was sie ihm zu sagen hatte. Aber er wies sie mit unverständlichen Worten zurück und befahl ihr im Weggehen mit scharfer Stimme:

„Du wirst das Haus nicht verlassen!“

All ihre Hoffnung war zunichte gemacht. Das war der Befehl eines gekränkten Greises: Seine Schwiegertochter hatte ihm den Weg versperrt, hatte es sich erlaubt, ihm zu raten, und, schlimmer noch, sie glaubte nicht an seine Macht. Sie hatte seinen Stolz tief verletzt.

Sie blieb mit ihrer Angst allein zurück. Was jetzt? „Ich werde nicht die Hände in den Schoß legen und zulassen, dass Abdul Rahman verhaftet wird. Zu Hause bleiben? Was denn noch!?“ Aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie konnte sich nicht rühren. Nach und nach zwang sie die Beine, sich zu bewegen, ging in ihr Zimmer und packte einen kleinen Koffer mit dem Minimum der für eine Reise notwendigen Dinge. Sie wusste noch nicht wie, aber sie wusste, dass sie weggehen würde.

Die Cousins waren unterwegs gewesen, um Geld für Lenas Reise nach Tärbris aufzutreiben. Jetzt kamen sie wie Nothelfer, die im kritischen Augenblick enttäuschen. „Also, hast Du bei Agha Baba Erfolg gehabt?, fragten sie lächelnd, als sie den Koffer sahen.

„Nein, ich hatte keinen Erfolg.“

Enttäuscht und beunruhigt zögerten sie.

„Du kannst nicht gegen den Willen von Agha Baba weggehen, und du hast kein Geld. Die Polizei wird dich festnehmen. Da wird böse enden.“

Sie wusste, dass sie recht hatten. Es hätte eines Wunders bedurft, um ihren Mann zu retten. Und das Wunder geschah.

Es war bereits Nacht. Sie saß da, die kleine Mina auf den Knien, den Koffer neben sich, und wartete darauf wegzugehen. Es herrschte verzweifelte Ruhe.

Auf einmal kam Wussuq-e Divan in ihr Zimmer. Das war zum ersten Mal überhaupt. Üblicherweise begab sich der Vater nicht zu den Mitgliedern seiner Familie. Es waren sie, die zu ihm gingen. Das Außergewöhnliche dieses Besuchs und die Bedeutung dieser Geste waren ihr klar.

„Jetzt gehst du schlafen. Morgen, zeitig in der Früh, reist du ab.“

Er sagte sonst nichts, gab ihr einen Briefumschlag und ging mit einem „Gute Nacht“. In dem Kuvert waren Geld und ein Busticket.

Bei Tagesanbruch war sie bereit. Mamad Quli legte ihr einen bedruckten Tschador über den Kopf und gab ihr einen Rat: „Du ziehst ihn unter dem Kinn zusammen, hältst ihn fest und lässt ihn nicht los. Niemals.“

Er nahm Mina in den Arm, hob mit der zweiten Hand den Koffer auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

„Ich muss mich von Khanom Naneh verabschieden!“ Mamad Quli gebot ihr mit einer herrischen Geste zu schweigen. So verließen sie das Elternhaus von Abdul Rahman. Lena sah es nie mehr.

Um diese Morgenstunde waren die Straßen leer. Die Sonne begann die Stadt heller zu machen und zeichnete neue Schatten. Der Busfahrer wartete, auf die Karosserie gestützt, auf sie. Alle Sitze bis auf einen direkt hinter dem Chauffeur waren besetzt. Quli flüsterte ihr zu:

„Babosch wartet in Täbris nahe an der Mauer hinter dem Bushäuschen auf dich.“

Auch Quli hatte Lena nie mehr wiedergesehen.

Sie war verblüfft. Wussuq-e Divan hatte ihre Abreise organisiert wie es ein erfahrener Widerstandskämpfer gemacht hätte. Lena hat nie erfahren, wie ihr Schwiegervater das alles in einer Nacht hatte erledigen können. Aber, war er denn nicht Berater des Thronfolgers gewesen?

Beginn eines Lebens ohne Identität

Lena hatte die Hauptstadt des iranischen Aserbaidschan nie als Touristin besucht. Sie kannte weder die Schönheiten der Natur noch jene der Architektur, von denen voll Bewunderung gesprochen wurde. Sie hatte diese nie kennen gelernt. Es ist eine Stadt mit dreitausendjähriger Geschichte, die allerdings von zahllosen Erdbeben betroffen war. Sie war auch die Hauptstadt der kurzlebigen Republik Aserbaidschan im Jahr 1946 gewesen. Heimlich war Lena insgesamt zweimal dort gewesen, dies war jetzt das erste Mal.

Sie dachte an den Befehl Qulis und war sich der Gefahr bewusst, der ersten echten Gefahr, der sie sich aussetzte. Deshalb achtete sie ständig darauf, dass ihr der Tschador nicht von den Schultern rutschte. Unter dem Schleier presste sie mit eingeschlafenen Händen Mina an sich. Es war wirklich ein braves Baby, das nicht weinte und nicht quengelte. Aber, je länger die Reise dauerte, desto schwerer schien ihr das Kind. Sie kam in Täbris körperlich lahm und seelisch zermürbt an. Ihre Angst um Abdul Rahman und die eigene Furcht, dass es eine Kontrolle der Businsassen geben könnte, verließen sie nicht. Sie hatte kein einziges Dokument bei sich, konnte die Sprache nicht gut. Wenn jemand herausfand, dass sie eine Ausländerin war...!

Was die Papiere anlangte, war tatsächlich im Haus ihres Schwiegervaters beschlossen worden, dass alle Personaldokumente Abdul Rahmans und ihre eignen dort bleiben sollten und ebenso die Bücher. Nichts sollte ihre wahre Identität verraten. Alle Unterlagen – Geburtsurkunde, Personalausweis, Pass, Schulzeugnisse und Diplome waren im Keller in der Erde vergraben worden, als eine Warnung vor einer Hausdurchsuchung gekommen war. Die Zeiten hatten sich für Wussuq-e Divan wirklich geändert, und die Durchsuchung, die stattfand, musste für ihn ein schwerer Schock gewesen sein.

Da Lena nur eine Frau war, hätte ihre Identität durch die Familie oder durch ihren Mann bestätigt werden können. Aber ihn konnte sie nicht mehr nennen, da er polizeilich gesucht wurde. Die Familie war in Rezajeh geblieben. Sie war zu einer heimatlosen Vagabundin geworden. Von nun an musste sie ohne Identität leben.

Abdul Rahman wartete, wie angekündigt, auf sie. Er trug Sonnenbrillen und versteckte sich hinter der offiziellen Zeitung Ettela’at, die er weit aufgefaltet hatte. Lena hatte ihre Kleine auf den Boden gestellt und schob sie sanft vor. Mina wankte mehr als sie ging.

„Schau, Baba ist da. Geh, gib ihm ein Bussi.“ Mina bewegte sich vorwärts und fiel einmal auf ihren Popo, dann auf ihre Hände, während sie Freudenschreie ausstieß. Abdul Rahman nahm sie in die Arme, dann wandte er sich Lena zu:

„Folge mir. Gehe hinter mir. Wir gehen zuerst zu Freunden, die uns verstecken werden, bis uns ein Kamerad, der als Verbindungsmann fungiert, nach Teheran begleitet.“

Sie hatten gemeinsam ein wundervolles Abendessen – aber Lena fiel vor Müdigkeit fast um. Abdul Rahman und sein Freund hatten sich in das Zimmer nebenan zurückgezogen, und sie hörte die beiden lebhaft diskutieren. Die Frau des Hauses wirkte ernst, und man konnte sehen, dass etwas nicht stimmte. Mina schlief, und Lena wartete die Entwicklung resigniert ab.

Nicht alles endet so, wie man es geplant hat. Die beiden Freunde kamen wieder, ohne ein Lächeln und ohne ein Wort.

„Nimm die Kleine und den Koffer. Wir gehen!“ Das war ein Befehl. Abdul Rahman wartete schon bei der Türe. Lena sammelte die Dinge ein, die sie aus dem Koffer genommen hatte. In ihrer Eile konnte sie ihn nicht mehr schließen.

Draußen war es Nacht geworden. Die Gasse war eng und ohne jede Beleuchtung. Der Ehemann ging schweigend. Lena erwartete eine Erklärung und blieb, ihre letzten Kräfte aufbietend, hinter ihm zurück. Er aber beschleunigte seinen Schritt und forderte sie auf, sich zu beeilen.

Die Gasse war endlos. Lena konnte nicht mehr und stellte den Koffer auf den Boden.

„Hilf mir. Ich kann nicht das Kind und gleichzeitig den Koffer tragen.“

Er war schlecht gelaunt. Alles störte ihn. Sie näherten sich dem Zentrum der Stadt. Deren schwaches Licht, ein glanzloses Gelb, blendete sie dennoch, weil sie aus völliger Dunkelheit kamen. Lena fragte flüsternd, ob es nicht gefährlich wäre, das Zentrum zu durchqueren.

„Das ist es. Aber wir müssen ein Hotel finden.“

Lenas Benommenheit ließ nach. Der Ort war leer und ruhig. Sie schlichen die Wände entlang. Sie beobachtete die Schatten, jede Ecke der Straße, und hatte alles im Auge, gefasst darauf, dass die Polizei sich auf sie stürzen würde. Schließlich beruhigte sie sich.

Am Empfang eines kleinen Hotels betrachtete sie ein kräftiger Mann in aller Ruhe. Er verlangte, dass sie den Aufenthalt komplett im Voraus bezahlten. Abdul Rahman zahlte für zwei Tage. Der Mann war der Besitzer des Hotels, seine Frau und seine Tochter kümmerten sich um das Service. Er gab ihnen ein Zimmer im dritten und letzten Stock.

Während Abdul Rahman den Schlaf des Gerechten schlief, und die kleine Mina von Zeit zu Zeit leise Töne von sich gab, schlug Lenas Herz so heftig, dass es ihr in den Ohren wehtat (sie hatte eine beginnende Mittelohrentzündung). Sie wusste, dass etwas sehr Ernstes geschehen war.

Mit ihrem Tschador getarnt, machte Lena Einkäufe in einem Lebensmittelgeschäft. Sie konnten nicht länger nur kalte Mahlzeiten essen. Abdul Rahman ging in der Nacht fort und kam mit immer finsterer Miene zurück. Er sprach nicht. Die Unsicherheit machte Lena fertig.

Schon als Kind hatte sie wiederholt unter Mittelohrentzündungen gelitten. Mit 13 war sie mandeloperiert worden. Seit damals hatte sie vergessen, was Ohrenschmerzen waren. Bis dahin. Aber Abdul Rahman kannte in Täbris keinen Arzt. Zu einem unbekannten zu gehen, war zu riskant. Zu allem Überfluss schrumpften ihre Geldreserven rapide.

Der Hotelier hatte erraten, mit welcher Art Kunden er es zu tun hatte. Das verstärkte die Nervosität Abdul Rahmans und vervielfachte die Ängste Lenas. Aber sie konnten das Hotel nicht mehr wechseln: Sie hatten das Geld nicht dafür.

Und der Verbindungsmann kam nicht!

Eines Tages tauchte ein Mann reiferen Alters auf. „Ich bin Arzt und ein Freund des Hotelbesitzers.“

Er diagnostizierte bei Lena eine weit fortgeschrittene Entzündung des Mittelohres. Er kam täglich wieder und brachte Medikamente, ohne ein Honorar zu verlangen. Der Hotelier selbst brachte ihnen Tee, Suppe und warme Speisen. Als endlich der erwartete Bote ankam, wünschten ihnen der Gastgeber und der Arzt gute Reise und lehnten es ab, dass sie für das Zimmer, das Essen oder die Medikamente bezahlten. Sie waren Gegner des Schah-Regimes, zwei Männer mit großem Herzen.