Kapitel 6 Die Überquerung der kurdischen Berge

In Teheran zu bleiben, war für die kurdischen Widerstandskämpfer immer gefährlicher geworden. Deshalb wurde beschlossen, dass die Leitung der DPKI in den Bergen Kurdistans Zuflucht suchen sollte. Zugleich sollten Lena und die Kinder dringend das Land verlassen. Da alle Versuche, das auf legalem Weg möglich zu machen, gescheitert waren, blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als die Flucht über das Gebirge.

Einige Kameraden waren gekommen, um Lebewohl zu sagen. Lena war ruhig. Ihr kleiner Koffer stand bereit: ein paar Kekse, Seife, ein Minimum an Kleidung für die Kinder, und für Lena nur ein Höschen zum Wechseln. Einen Büstenhalter zu tragen, war unmöglich, auch Zahnbürsten durften nicht mitkommen – das wäre verdächtig gewesen. Der Pass, die Flugtickets und das nötige Geld sollten ja bereits in Bagdad auf sie warten, hatte Abdul Rahman gesagt. Damals dachte niemand, dass sie dort drei lange Monate verbringen müssen würden.

Das irakische Königreich sollte bald eine Revolution erleben und sich in eine Republik wandeln, aber noch regierte König Faisal, unterstützt von seinem Premierminister Nuri Saïd, der für die Brutalität gefürchtet war, mit der er gegen Widerständler vorging. Lena meinte, vom Regen in die Traufe zu kommen, aber sie sagte sich, wenn in Bagdad tatsächlich ein Pass auf sie wartete, würden sie vielleicht von ihrem guten Stern zu einem glücklichen Ende geführt.

Die Kinder schliefen ebenso wie ihr Vater. Lena hatte damit Zeit für sich selbst. Ganz Teheran schlief, um der feuchten Hitze der Nacht zu entkommen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken herum. Man hatte ihr gesagt, dass der Weg über die Berge und Täler Kurdistans führen würde. Auch war ihr klargemacht worden, dass es nützlich sei, wenn sie die Route nicht kannte: Je weniger sie wüsste, desto besser. Sie saß da, hatte die Hände auf den Knien liegen und fühlte sich alt. Leer. Trotzdem konnte sie sich vor dieser langen Reise nicht entschließen, schlafen zu gehen. Ein merkwürdiges Gefühl ließ sie regelrecht auf dem Sessel kleben. Seit ihrer Niederkunft, bei der sie beinahe das Leben verloren hätte, hatte sie viel an Kraft verloren. Sie aß nicht genug. Der größte Teil jenes Geldes, das sie erhielt, wurde für die Nahrungsmittel der Kinder ausgegeben und für die Wechsel der Unterkünfte. Nach der Rückkehr Abdul Rahmans hatte sich die Situation verbessert, aber in jener nächtlichen Stunde hatten ihre Kräfte sie verlassen. Wie in einem Film sah sie ihre Kindheit und das Erwachsenwerden wieder und erinnerte sich an die glücklichen Momente ebenso wie die anderen. Sie sah all das ohne großes Interesse, als ob es sich um jemanden anderen handelte. Trotzdem konnte sie damit nicht aufhören.

Lena trug ein gebrauchtes Kleid nach Art der Frauenkleider der Grenzregion. Es war eine Art Tunika, die nach unten weiter wurde. Die langen Ärmel endeten in überlangen, dreieckigen Fortsätzen aus demselben Stoff. Mit diesen konnte man die Ärmel um die Handgelenke zubinden oder aber diese Verlängerungen hinter dem Nacken zusammenbinden, um die Hände für die Arbeit frei zu haben. Das Kleid war aus leichter Baumwolle und hatte ein zartes Muster. Sie mussten früh am Morgen aufbrechen. Vor ihnen lag ein langer Weg, aber niemand wusste, wie lang er sein würde. Alles hing von den Umständen ab. Die Kameraden hatten gesagt, sie sollte sich keine Sorgen machen, aber die verunsicherten Blicke rechtfertigten ihre Unruhe. Sie hatten ihr auch gesagt, dass man auf alles vorbereitet sein müsste. Worauf vorbereitet? Auf das Schlimmste? Abdul Rahman jedenfalls hatte gelacht und versichert, alles werde gut gehen. Aber sie kannte ihren Mann schon gut genug, um dessen Worte mit Vorsicht zu genießen.

Ismaïl, der Cousin, sollte sie zu sehr früher Stunde holen kommen und sie zur Haltestelle des Busses begleiten. Lena wusste nicht, ob er mit auf die Reise kommen würde. Sie wünschte sich, dass es so wäre, denn er war ihr lieber als irgendein Unbekannter. Mit ihm fühlte sie sich weniger allein, und die Kinder mochten ihn sehr. Die Art, wie er mit ihnen spielte, brachte sie dazu, Tränen zu lachen. Sie kannten ihn besser als ihren Vater. Wenn Abdul Rahman nach langer Abwesenheit wiederkam, erkannten sie ihn kaum, und Mina versteckte sich unter dem Rock ihrer Mutter. Sie hatten kaum Zeit, sich an ihn zu gewöhnen, bevor er schon wieder aufbrach.

Bald würde es drei Uhr früh sein. Draußen hellte sich die Nacht langsam auf. Lena begann, das Frühstück vorzubereiten, dann sah sie noch ein weiteres Mal nach, ob alles in den beiden kleinen Zimmern in Ordnung war. Der Brief für den Inhaber lag auf dem Tisch. Sie bat darin um Entschuldigung dafür, auf diese Weise wegzugehen, und teilte ihm mit, dass das zurückgelassene Hab und Gut die unbezahlten Mieten ersetzen sollte.

Wird der Gefährte die ganze Reise mitmachen?

Abdul Rahman hatte das Haus schon verlassen, bevor Lena und die Kinder weggingen. Als Ismaïl sie abholen kam, schliefen die Kinder auf den Knien ihrer Mutter. Der kleine Koffer stand neben ihnen. Ismaïl las den Brief an den Vermieter, und auch er sah sich genauestens in der Wohnung um. Dann nahm er die schlafende Mina und den Koffer. Lena trug Hiwa, deren Kopf bequem auf ihrer Schulter ruhte, und warf den Tschador über sich und das Kind. Alles hatte sich in vollkommener Stille abgespielt.

Kein Mensch war auf der Straße. Es gab nur Kieselsteine und Staub. Ein auf einem Auge blinder und hinkender Hund begleitete sie eine Zeitlang in der Hoffnung, dass sie ihm etwas zu fressen geben würden. Schließlich blieb er enttäuscht stehen und kehrte um.

Als Lena ihren Gefährten neuerlich fragte, ob er die Reise mit ihnen machen würde, antwortete er: „Man wird sehen“. Der Mund all „ihrer“ Männer war eindeutig zugenäht. Sie hatte Angst, allein unterwegs sein zu müssen, mit ihren beiden Kleinen verhaftet und in ein Gefängnis gesperrt zu werden, und niemand würde es wissen. Dieses Unterfangen machte sie furchtsam, weil sie nichts davon wusste, was beschlossen worden war. Außerdem hatte sie Sorge, dass jene Leute, von denen sie abgeholt werden sollten, nicht kommen könnten. Sie hatte keinen Groschen in ihrer Tasche. Das Einzige, das man ihr gesagt hatte, war, dass sie alles tun müsste, was die Kameraden verlangten. Nichts sonst. In ihrer Einsamkeit gab es immerhin Ismaïl, dessen Zuversicht und auch Zuneigung für sie und die Kinder sie stärkten. Zwischen ihm und Lena war eine ehrliche Freundschaft entstanden.

Die Busstation war weit weg, und der Weg mühsam – die Erinnerungen kamen wieder. Sie konnte es nicht abwehren.

*

Lena wartete stets mit all der Leidenschaft einer liebenden Frau auf die jeweilige Heimkehr ihres Mannes. Sie wünschte so sehr, ihn zu sehen, seine Anwesenheit zu fühlen, zu wissen, dass es ihm gut ging und vor allem, dass er lebte. Sie wartete auch auf ihn, um ihm alles erzählen zu können, das sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte, was sie gesehen und gelernt hatte, wie die Kinder gewachsen waren und sich entwickelten. Auch er hatte immer Geschichten zu erzählen, und Lena hörte ihm zu wie eine in ihren Lehrer verliebte Schülerin.

Aber das, was Lena zu berichten hatte, interessierte ihren Mann nicht übermäßig. Ihm genügte es, von seinen Kameraden zu erfahren, dass Lena ihre Aufgaben gut erledigte. Das war alles, was er wissen wollte. Um sich zu trösten, sagte sie sich, dass er viele Sorgen hätte, seine Arbeit sehr aufreibend wäre und er ständig ihn schwer belastende Entscheidungen treffen müsste. Er setzte sich stets großen Gefahren aus und kam müde und zerstreut nach Hause. Wenn er zurückkam, hatte er andere Sorgen.

Eines Tages kam das Gespräch mitten in einer Gruppe von Freunden auf Lena. Abdul Rahman zitierte ein persisches Sprichwort: „Ich hatte gemeint, es wäre Sirup, aber es war tatsächlich Marmelade!“ Das sollte bedeuten: „Als ich sie geheiratet habe, schien sie mir süß, aber danach habe ich entdeckt, dass ihre Substanz fester war.“ Mit Sirup und Marmelade verglichen zu werden! Lena war wütend darüber, dass ihr so geliebter Mann am Anfang eine derart armselige Meinung von ihr gehabt hatte.

„Also dann, warum hast du mich geheiratet?“

Abdul Rahman lachte wie üblich und nahm nicht ernst, was sie sagte. Lena wiederum konnte sich noch immer nicht an diese derartig ausgeprägte Macho-Gesellschaft gewöhnen.

Warum liebt man jemanden? Was löst es aus, dass man sich vom ersten Moment an von einer bestimmten Person angezogen fühlt und nicht von einer anderen? Das traf in gewisser Weise auch auf Wussuq-e Divan zu. Warum hatte sie ihn gleich unter jene gereiht, die sie gerne mochte? Weil er Abdul Rahmans Vater war? Sicherlich. Aber auch, weil er ein kluger Mann war und ihr seine Sympathie gezeigt hatte. Erst, als sie ihn besser kannte, entdeckte sie seinen autoritären Charakter. Das aber hinderte sie nicht, ihn zu mögen. Sie erklärte sich seine Art mit den Gewohnheiten und dem Verhalten der kurdischen Gesellschaft.

Abdul Rahman liebte, bewunderte und respektierte seinen Vater. Zum Ausgleich war seine Wertschätzung für die Mutter nicht so groß. Warum, wo sie ihn doch so liebte? Sie hatte ihm etwas mitgegeben, das zu jener Zeit und in diesem Land Buben seines Alters nicht erhielten: Sie hatte ihm Verständnis für die Kultur und die Religion anderer sowie für eine andere Sprache vermittelt, obwohl sie selbst nicht lesen und schreiben konnte. Aber er missachtete das. Es war wie eine Schuld, mit der er sich, ganz verwöhntes Kind, selbstverständlich nicht aufhalten wollte. Es gab aber auch noch etwas anderes: Seine Mutter verbot oder befahl ihm nichts, worum auch immer es ging. Sie beschränkte sich darauf, ihm bestimmte Dinge zu empfehlen, und es war an ihm zu wählen. Vielleicht waren es gerade diese große Freiheit und die mütterliche Hingabe, die ihm übertrieben vorkamen und ihn von der Mutter entfernten, während die Strenge seines Vaters ihm Achtung abrang. Möglicherweise hatte er schon als Kind empfunden, dass der Vater ihm gerade durch das Desinteresse sein Vertrauen zeigte...

Abdul Rahman waren seine Intelligenz und die persönliche Ausstrahlung angeboren. Das galt übrigens auch für die Brüder, aber diese Eigenschaften entwickelten sich in ihm vielleicht stärker, weil er als der Jüngste den Wunsch hatte, die Älteren zu übertreffen. Er wollte entdecken, was ihm nicht gezeigt wurde, und, wie alle Kinder, wissen, was sich hinter dem Unausgesprochenen verbarg. Damit konnte er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und sich intelligent fühlen. So konnte er sich seiner Erfolge rühmen und wurde selbstsicher.

Sie mussten jenen Bus nehmen, den lange zuvor Abdul Rahman genommen hatte, am Vortag der Geburt Hiwas. Nachdem er wieder heimgekehrt war, erzählte er, dass ein Polizeiauto den Bus zwischen Sandschan und Mianeh angehalten hatte. Der Fahrer des Autobusses hatte das gesamte Gepäck vom Dach herunterholen und jeder Insasse das seine öffnen müssen. Abdul Rahman hatte keinen Koffer gehabt, nur eine Aktenmappe voll kompromittierender Unterlagen. Er nützte das Durcheinander beim Aussteigen der Fahrgäste, um als letzter den Bus zu verlassen, nachdem er die Aktentasche unter den Putzlappen unter dem Fahrersitz versteckt hatte. Dann wurde ihm heiß. In den Augen der Polizei war er verdächtig, weil er keinen Koffer hatte.

„Wie das, sie reisen ohne Gepäck?“, fragte ihn ein Polizist in Zivil als Verantwortlicher für die Kontrolle.

Abdul Rahman zog ein Päckchen Zigaretten, bot dem Polizisten eine an, gab ihm Feuer und zündete sich selbst eine Zigarette an. Damit hatte er Zeit gewonnen. Gelassen und mit den Händen in den Taschen, die Zigarette im Mund, fragte er:

„Reisen denn sie niemals ohne Gepäck?“

„Nein, außer es ist ein kurzer Ausflug.“

„Na also, sehen sie, bei mir es genau so. Ich fahre zu einem Begräbnis und komme morgen zurück“, sagte er mit von Trauer erfüllter Stimme. Der Polizist sprach ihm sein Beileid und die Hoffnung aus, dass der Verblichene kein naher Verwandter gewesen sei – und ließ den Bus mit allen Insassen weiterfahren.

Lena wusste nicht viel darüber, was ihr Mann während seiner Abwesenheiten tat. Aber nach seiner Heimkehr aus Europa war er gesprächiger. Er war in Prag gewesen und hatte dort tschechische Freunde, Kurden und Iraner getroffen. Was seine Landsleute anging, war er bitter: „Sie machen die ‚Revolution’ in den Prager Kaffeehäusern und setzen sie nach Mitternacht, wenn sie dort hinausgeworfen werden, bis zum Morgengrauen in den Parks fort. Oder die Revolution findet in den Universitätsbezirken statt. Ihre Diskussionen sind lebhaft, die Ansichten unterschiedlich, und es kommt nichts Konkretes heraus. Es sind ‚Kaffeehaus-Revolutionäre’. Und noch dazu leidet ihr Studium darunter.“

Man konnte tatsächlich die Anzahl jener, die ihr Studium abschlossen, an den Fingern einer Hand abzählen. Einige gaben überhaupt auf, andere setzten die Studien doch noch fort und schlossen sie viel später ab.

Im selben Ton erzählte er über seine Mission in Prag: „Die Kurden dürfen sich auf niemanden verlassen. Ihr einziger Schutz sind die kurdischen Berge.“

„Bist du dorthin gefahren, um Hilfe zu suchen? Um welche Art Hilfe ging es? Wen hast du darum gebeten? Die tschechoslowakische Regierung? Die kommunistische Partei?“

„Welchen Unterschied macht das?“

„Keinen. Ich weiß nicht.“

Das Lachen Abdul Rahmans war bitter, und das bei ihm, der niemals verhärmt schien.

Weil man keine Adressen hatte, schrieb man nie an Personen, die im Untergrund lebten. Während all dieser Jahre war Lena ohne Nachrichten aus Prag, von ihrer Tante oder von ihrem Großvater, geblieben. Sie wollte alles wissen, was sich in der Stadt verändert habe, wen Abdul Rahman besucht hatte.

„Und meinen Großvater, meine Tante, hast du sie gesehen? Habt ihr einander endlich kennen gelernt?“ Die beiden waren die einzigen „Eltern“ Lenas.

Er war zu deren Wohnadressen gegangen, aber sie waren verzogen oder eher zum Auszug gezwungen worden. Auf dem Grund unter dem Haus, in dem sie früher nahe der Minen von Kohinoor gewohnt hatten, wurde nun Kohle gefördert.

„Dein Großvater ist tot.“ Ihr Großvater, den sie so sehr geliebt hatte.

Vor ihrer Eheschließung hatte Lena Abdul Rahman vorgeschlagen, dem Großvater und der Tante einen Besuch abzustatten, damit sie ihn vorstellen könnte. Aber er hatte sich immer geweigert und entschuldigt: „Ich wäre zu verlegen!“ Er wäre eben noch scheu, glaubte sie, und wagte es nicht, darauf zu bestehen. Also wartete sie die Hochzeit ab und hoffte, dass er danach diesem Treffen zustimmen würde. Aber er beharrte auf seiner Weigerung, und Lena fing an, sich vor den Vorwürfen und dem Ärger ihres Großvaters zu fürchten, weil sie ihn in ihre Pläne nicht rechtzeitig eingeweiht hatte.

Nach der Heirat und der Abreise Abdul Rahmans in den Iran besuchte sie die Verwandten, kleinlaut und schon mit der kleinen Mina schwanger. Das waren keine Menschen, die auf der Stelle reagierten. Sie zeigten weder ihre Freude, noch ihren Zorn sofort. Schließlich brach Tante Zdenka das Schweigen:

„Er war vielleicht zu verlegen, um zu uns zu kommen, aber er war nicht zu scheu, dir ein Kind zu machen!“

Und, in Anwesenheit ihres Mannes sowie des Großvaters schilderte die nahezu analphabetische Tante, was sie mit einem aus dem Orient stammenden Mann erwartete. Dann begannen alle drei auf sie einzureden, sie solle doch bleiben und ihrem Mann nicht nachreisen. Obwohl sie so arm waren, schlugen sie ihr vor, zu ihnen zu kommen und bei ihnen zu leben, damit sie gemeinsam für das Kind sorgen könnten. „Liebes, erkläre mir, wie das mit euch passiert ist!“

Mit Onkel Franz hatte Abdul Rahman die Gasthäuser der Stadt besucht. Der Onkel, ehemals Minenarbeiter, war ein großer Biertrinker. Weil ihn seine Frau kurz hielt, nützte er jede Gelegenheit, um ein Bier trinken zu gehen. Seiner Frau sagte er, er müsse Abdul Rahman die Stadt zeigen. Sie kannte die „touristischen“ Stadtbesuche ihres Mannes genau. Abdul Rahman übrigens konnte sein Staunen gar nicht bremsen, als er davon erzählte.

„Stell dir vor, er kann drei oder vier Gläser (zu jeweils einem halben Liter) hineingießen, bevor ich mit einem fertig bin! Wir sind in mehrere Lokale gegangen, und jedes Mal hat er soviel getrunken, während ich immer nur ein Glas hatte. Er hat mich ausgespottet, weil ich nicht trinken konnte und mehrmals meine Blase leeren gehen musste. Er ist nur ein einziges Mal hinaus gegangen. Als er zurückkam, ist er ganz aufrecht gegangen, und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.“

*

Die Erinnerungen, die ihr gekommen waren, hatten den Weg weniger lang erscheinen lassen. Ismaïl war schweigsam, und die Kinder schliefen in ihren Armen.

*

Einmal hatte Abdul Rahman die Berge Kurdistans überqueren müssen. Er und sein Bergführer wären dabei dort oben beinahe in einem zugefrorenen Teich ertrunken, weil das Eis unter ihren Füßen geborsten war. Als sie aus dem Wasser herauskamen, wären sie beinahe zu Eisblöcken gefroren. Der Begleiter war einer jener Greise, die noch mit 80 Jahren im Gebirge wie die Zicklein herumliefen.

In den kurdischen Bergen hatte Lena einen von ihnen kennen gelernt. Es hieß, er wäre mehr als 100 Jahre alt. Jene Peschmergas (kurdischen Widerstandskämpfer), die Lena begleiteten, erzählten, bereits ihre Väter hätten den schon damals alt gewesenen Mann gekannt.

Diese Peschmergas hatten jedenfalls keine Mühe, mit dem Tempo des Greises beim Marschieren mitzuhalten. Lena schon. Sie klammerte sich manchmal mit allen Vieren bei den Aufstiegen an Steine und Felsen und rutschte auf den Kieseln aus, wenn es abwärts ging. In einem Dorf borgte der Alte für sie ein Pferd aus. Wenn sie nur in der Nähe einer Siedlung waren, deren Bewohnern sie nicht unbedingt trauen konnten, mussten sie so schnell wie möglich weiterkommen. Das Pferd glitt allerdings auf den Kieselsteinen bei den Abstiegen ebenso aus wie Lena zuvor. Die Peschmergas hielten das Tier an den Zügeln, der Mähne oder sogar am Schwanz, um zu verhindern, dass es kopfüber nach vorne stürzte. Der Alte war bereits weit vor ihnen und machte ihnen Zeichen, sie sollten sich beeilen. Dabei murrte er über „die jungen Leute von heute“, die nicht mehr marschieren konnten. Die Burschen lachten, und Lena beneidete sie um die Kraft und die Leichtigkeit, mit der sie sich im Gebirge bewegten.

Ein anderer dieser unverwüstlichen Alten war Abdul Rahmans Führer in den Bergen gewesen. Als sie in einem Dorf eine Pause einlegten, um sich zu erholen, trank der Alte mehr, als er hätte sollen. Sie mussten ihren Marsch mit Einbruch der Nacht fortsetzen, und Abdul Rahman ermahnte ihn zu mehr Nüchternheit.

„Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wir dürfen nicht zuviel trinken.“

„Es wäre besser für Dich, es so zu machen wie ich. Wir kommen in Schnee und Kälte.“

Nach ihrem Aufbruch taumelte der Alte und fluchte über die Steine, aber er lehnte jede Hilfe des jungen Mannes ab. Er stürzte nie, und das trotz aller Abschneider, Überquerungen von Flüssen oder gefrorenen Teichen. Es war eine mondlose Nacht. Nur die Sterne und der Schnee unter ihren Füßen machten den Weg etwas heller. Auf einem der stehenden Gewässer hatte sich das Eis unter der Sonneneinstrahlung des Tages aufgeweicht und war seither nicht mehr dick genug geworden. Es gab unter dem Schritt der Männer nach. Als sie das trockene Ufer erreicht hatten, war Abdul Rahman durch das eisige Wasser völlig munter geworden. Aber der Alte hatte sich hingesetzt und wollte nicht mehr weiter gehen. Es war ihnen bis in die Knochen kalt. Dort zu bleiben und sich nicht zu bewegen, wäre der sichere Tod gewesen. Abdul Rahman zwang ihn aufzustehen und schleppte ihn weiter, bis der Kreislauf seines Begleiters wieder normal war.

Am frühen Morgen kamen sie in einem Dorf hoch in den Bergen an. In einem der Häuser wollten sie sich für ein paar Stunden ausrasten. Abdul Rahman fieberte hoch und delirierte, während der Alte vor Gesundheit strotzte und sich über ihn lustig machte:

„Schaut her! Die Jugend von heute ist nichts als ein weicher Fetzen und hält gar nichts aus. Warum hat sich dieser Bursche geweigert, so wie ich zu trinken, bevor wir uns auf den Weg gemacht haben, ha?“

*

Schlagartig wurde Lena durch ein Stimmengewirr aus ihren Gedanken gerissen. Sie waren bei der Bushaltestelle angekommen, an der eine ganze Menge Reisender wartete. Ismaïl schritt selbstbewusst voran und reichte dem Chauffeur die Tickets, worauf jener ihnen zwei freie Plätze wies. Sie mussten also doch nicht alleine reisen. Das war wirklich eine gute Neuigkeit.

Der Bus hielt in Qaswin, Sandschan, Mianeh... ohne besondere Ereignisse. Die Polizei tauchte nicht auf. Schließlich kamen sie an ihrem Ziel in Täbris an. Das war das zweite Mal, dass Lena hier war. In Täbris erfuhr sie nun, was bei einem Treffen unter Leitung Abdul Rahmans über sie beschlossen worden war: Cousin Ismaïl sollte sie begleiten und die Rolle des Ehemannes von Lena und des Vaters der Kinder spielen. Auf diese Weise würden sie nicht auffallen. Was Lena anging, sollte sie die Stumme mimen. Die Familie wolle in die heilige, irakische Stadt Karbala, um dort für ein Wunder zu beten, das ihr die Sprache wieder bringen sollte.

Lenas zweiter Aufenthalt in Täbris war kurz und, im Vergleich zum ersten, ohne Zwischenfälle. Sie brachen früh am Morgen auf, noch immer per Bus. Es ging durch Maraqueh, Mianduab, Bokan... bis nach Saqqez, ein kleines Dorf nahe an den Bergen. Hier endeten für sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Sie wurden von einem Kameraden erwartet, der ihnen als Verbindungsmann diente und sie durch die gewundenen Gassen zum Haus eines Freundes brachte. Nach dem Abendessen wollte sich Lena mit ihrer Erschöpfung nur noch ausruhen. Sie saß da im Schneidersitz, und die Kinder schliefen auf ihren Beinen. Die Knie taten ihr unter dem Gewicht weh.

„Wir müssen los“, sagte die Hausfrau und nahm Hiwa in ihre Arme. Ismaïl hob Mina auf. Welche Erleichterung!

Angenehm frischer Wind wehte um ihre Schläfen, und die Neugierde erwachte. Sie kamen zu einem kleinen, baufälligen Hotel am anderen Ende der Stadt. Die Begleiter sagten: „Hier ist es. Alles Gute!“

Der Cousin stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er eintrat. Er schien plötzlich sehr müde. Im Gegensatz dazu hatten die Kinder bis dahin ausreichend geschlafen, waren nun völlig munter und wollten spielen. Der Hotelbesitzer hatte auf sie gewartet. Er wandte sich Ismaïl zu und gab ihm den Schlüssel für ein Zimmer im ersten Stock. Dann setzte er sich wieder hin, um seinen Tee zu trinken.

Das Stiegenhaus war düster, und auf den Gängen gab es kein Licht. Es war schwierig, die richtige Tür zu finden. Sogar die Kinder waren still. Zu guter Letzt fand Ismaïl die Tür und öffnete sie langsam und übervorsichtig, als ob er wusste, was sich dahinter befände. Sie blieben wie angewurzelt stehen und starrten in den Raum: Alles war schwarz – die Möbel, die Wände, der Plafond, der Boden. Das Schwarz war perfekt homogen. Völlig verblüfft, traten sie nicht ein. Sogar die kleine Mina, die gerade noch spielen hatte wollen, stand mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen da.

Der erste, der sich bewegte, war der Mann, quasi als Verteidigung. Entschlossenen Schrittes drang er in dieses Schwarz vor. Aber er kam rasch zurück. Der weibliche Teil der Gruppe war auf dem Gang geblieben. Nach einem kurzen Augenblick fing er laut zu lachen an. Lachen entspannt die merkwürdigsten Situationen. Es ist ansteckend. Lena und Mina begannen ebenfalls zu lachen. Sie wussten nicht, warum, aber Ismaïl wusste es. Sein fester Schritt hatte diese homogene, schwarze Masse aufgeweckt, und sie stob in alle Richtungen im Zimmer auseinander. Es waren Fliegen. Tausende Fliegen. Nachdem er das nicht sehr große Fenster geöffnet hatte, versuchte Ismaïl, mit einem Handtuch wachelnd, die Insekten zu vertreiben. Lena nahm ihren Tschador ab und half ihm damit. Es war ein nahezu unmögliches Unterfangen. Wer nicht dabei war, wird es kaum glauben können.

Unter anderen Umständen hätte die angewiderte Lena sich selbst und oder gar ihre Mädchen um nichts in der Welt in ein von Fliegenschiss derart verschmutztes Bett gelegt. Aber, erschöpft wie sie waren, und nach einem guten Essen legten sie sich mangels einer anderen Lösung hin und schliefen den Schlaf des Gerechten.

Als stumme, kurdische Pilgerin unterwegs

Im Morgengrauen hatten sie die Stadt verlassen und sich auf einem unebenen Weg in Richtung der Berge aufgemacht. Gegen Mittag erreichten sie eine von Bäumen umgebene Hütte. Es bot sich ihnen ein großartiger Ausblick: Eine gewaltige Bergkette, auf die sie zustrebten, um an einen sicheren Ort zu gelangen. Drei Männer und ein 14jähriger Bub warteten auf sie. Sie würden ihre Bergführer sein, zugleich beratende Begleiter und ihre Nothelfer. Mina rannte von einem Baum zu anderen, von einem Mann zum nächsten. Sie war in ihrem Element. Hiwa versuchte, ihr zu folgen, aber sie konnte noch nicht so gut laufen wie ihre Schwester. Dennoch war sie glücklich. Die Sonne wärmte die Natur, und es herrschte Ruhe. Es war, als ob eine Gruppe von Freunden ganz einfach gekommen wäre, um zu picknicken, und keine flüchtenden Widerständler und Peschmergas einer verbotenen Partei.

Hinter der Hütte stand ein Jeep. Das Dach war blankes Blech, die Sitze nicht gepolstert, und überall hatte der Rost Löcher in das Metall gefressen. Anderswo wäre er schon längst auf einem Schrotthaufen gelandet.

Sie setzten sich alle auf den Boden, um ihre Reise zu besprechen.

„Du, Kak Ismaïl, darfst nie deine Rolle als Lenas Ehemann und als Vater vergessen. Wenn wir unerwartet auf jemanden treffen, lässt du uns reden. Du wirst die Kinder beruhigen und unseren Anweisungen folgen. Und du, Lena, vergiss nicht, dass du stumm bist. Wenn man es dir sagt, verhüllst du dich mit deinem Tschador, und, wie Ismaïl wirst du tun, was man von dir verlangt. Erinnere dich: du gehst nach Karbala, um zu Allah zu beten, damit er dir die Sprache wieder gibt. Wenn es notwendig ist, sind es wir, die sprechen, das ist unsere Angelegenheit.“

„Und wie soll ich mich mit den Kindern und mit euch verständigen?“

„Durch Gesten. Übe es, damit du es lernst.“

„Und wenn ich darauf vergesse? Wenn ich mich irre?“

„Das darf nicht sein. Punktum. Und du fängst damit auf der Stelle an.“

„Kann eine Stumme vor Angst oder vor Schmerzen schreien?“

Niemand wusste es. Auf jeden Fall dürfte sie auch in so einem Fall kein Wort von sich geben. Es ist leicht, das zu verlangen, leicht, es zu versprechen. Aber es ist viel weniger leicht, es auch zu tun.

Unterwegs könnte es alle möglichen Fallen geben: Die Gendarmen, die Dschasch (kurdische Dorfbewohner und Kollaborateure, die für Geld Verrat üben könnten) und auch Feudalherren, die mit dem Regime kollaborierten und deren Untertanen verpflichtet waren, das mitzumachen. Es war notwendig, sehr wachsam zu sein: Alles konnte gefährlich werden.

Lena hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten und ihre Augen mit Sormeh, der von orientalischen Frauen verwendeten Schminke aus pulverisierter Holzkohle, umrandet. Sie trug ein kurdisches Kopftuch, das ihre Haare verbarg. Zusätzlich hatte sie sicherheitshalber noch einen Tschador, für alle Fälle.

Ihre Haut war blass. Das Leben im Untergrund eignet sich nicht für Sonnenbäder.

„Niemand wird glauben, dass ich Kurdin bin, und niemand wird diese Geschichte mit Karbala für wahr halten!“

Sie widersprach, weil ihr das alles unmöglich erschien. Die Antwort war dieselbe wie früher:

„Hier gibt es eine ganze Menge Frauen wie dich, mit heller und sogar milchweißer Haut. Es gibt sogar Blonde mit blauen Augen, was du nicht bist. Du bist nur blass, und das trifft sich gut: Es ist, als ob du krank wärest !“

Sie hatte Schwierigkeiten, ihnen das zu glauben, bis sie tatsächlich auf ihrem Weg „hundertprozentige“ Kurden trafen, die sehr helle Haut, blondes Haar und blaue Augen hatten.

Lena dachte, dass dies wohl uneheliche Kinder gewesen waren, die von der Roten Armee in jener Zeit hinterlassen wurden, als diese während des Zweiten Weltkriegs den Norden des Iran besetzt hatte. Sie hatte darüber sogar mit Alten gesprochen, die jene Zeit erlebt hatten. Aber auch diese meinten, das könnte wohl so sein, es habe aber auch schon lange vorher blonde Kurden gegeben.

Der kleine, schrottreife Jeep wartete auf die Reisenden. Sie waren acht Personen inklusive Fahrer, aber sie schafften es, zusammengepfercht wie die Sardinen darin zu sitzen.

Das Fahrzeug holperte über Bodenwellen und herausragende Steine und katapultierte die Insassen gegen das Dach. Lena hielt die kleine Hiwa fest an sich gedrückt und konnte daher ihren eigenen Kopf nicht gegen das Anprallen schützen. Auch das Zurückfallen war schmerzhaft. Mina weinte und schrie auf den Knien von Ismaïl. Der Fahrer misshandelte den Jeep, auf dass er ihm gehorche, und alle anderen bissen die Zähne zusammen, um die Zungen nicht zu verletzen. Die Sonne schien bereits heiß.

Lenas Stummheit störte Hiwa kaum. Ein Lächeln, ein Bussi, und sie war zufrieden. Oft trug sie der Bub in einer großen, aus einem Kopftuch gebundenen Tasche auf dem Rücken. Aber Mina hielt sich für zu groß, um auf diese Art getragen zu werden, war jedoch zu klein, um diese Notwendigkeiten zu verstehen. Sie litt, und sie zeigte es auch.

Der Jeep fuhr abwärts in einem Tempo, das ihnen teuflisch erschien. Wenn es aufwärts ging, variierte die Geschwindigkeit naturgemäß, aber einmal blieb er an einer steilen Stelle überhaupt stehen. Es war, als hätte er den letzten Schnaufer getan. Der Chauffeur kannte die Launen seines Autos. Er ließ alle aussteigen und zu Fuß den Berg hinaufgehen. Als sie oben ankamen, wartete der Jeep bereits auf sie.

Während sie noch beim Hinaufklettern waren, bedeutete ihnen der Fahrer, keinen Lärm zu machen. Seine Gesten schienen auf eine Gefahr hinzuweisen. Sobald sie wieder bei ihm waren, flüsterte er ihnen zu, dass eben ein Militärfahrzeug vorbeigekommen war und einen der zwei Wege genommen habe, die auch sie ans Ziel bringen sollten. Er versteckte sie hinter einem vorspringenden Felsen, löste die Bremsen des Jeep und schob ihn auch dahinter. Von dichtem Buschwerk geschützt, warteten sie und hielten den Atem an. Die Landschaft strahlte Ruhe aus. Ein milder Windstoß trug ihnen das Motorgeräusch eines schweren Fahrzeugs zu. Dann wurde dieses Geräusch wieder leiser und verschwand. Das Fahrzeug hatte den anderen Weg genommen. Sie stiegen wieder in den Jeep und setzten ihre Fahrt, allerdings beunruhigt, fort. Der Geländewagen machte ohrenbetäubenden Lärm. Dadurch konnten sie nicht hören, was außerhalb vor sich ging. Das war potentiell riskant, und Lena wollte den anderen vorschlagen, zu Fuß weiter zu gehen.

Um auch gehört zu werden, schrie sie, aber sie bekam sofort ihre Antwort:

„Sprich nicht! Du bist stumm!“

„Aber das ist wichtig!“

„Schweig!“ Das Verbot war ernst gemeint und gab zu verstehen, dass die Bergführer wüssten, was sie taten. Sie konnte sich dem nur fügen. Also wurde sie wieder stumm.

Plötzlich Militärkontrolle

Endlich erreichten sie eine asphaltierte Straße. Trotzdem war der Jeep noch immer so laut. Aber die Erschütterungen hatten aufgehört. Von Ferne waren die Häuser eines Dorfes zu erkennen. Die Straße führte am Fuß eines Berges entlang. Sie waren gerade im Begriff, um eine enge Kurve zu fahren, als sie sich unmittelbar gegenüber einer Truppe Soldaten und mehreren Militärjeeps fanden. Einer der Soldaten hielt sie per Handzeichen an und befahl ihnen auszusteigen. Lena zog ihr Tuch über den Kopf, sodass nur die Augen zu sehen waren. Das hatte sie bereits mit dem Tschador gelernt. Sie hielt Mina an der Hand, und Ismaïl trug Hiwa.

„Woher kommen Sie?“, fragte der Kommandant.

„Aus Täbris“, antwortete der Fahrer und hielt ihm seinen Führerschein unter die Nase. Der Kommandant nahm den Schein und verglich das Foto lange mit dessen Besitzer.

„Haben sie ihren ‚sedschel’?“, fragte er nach dem Personalausweis.

„Nein, aber mein Führerschein muss ausreichen.“ (Es gab damals keine Verpflichtung, einen Personalausweis zu besitzen, deshalb bestand der Kommandant auch nicht darauf.)

Die übrigen Insassen des Jeep standen den Soldaten direkt gegenüber und warteten. Der Kommandant hatte einen Soldaten an seiner Seite und sah Lena ganz genau an. Die übrigen Soldaten standen drei Schritte dahinter und bildeten eine Barriere.

„Wohin fahren sie?“

„Nach Baneh.“

„Was haben sie dort vor?“

„Wir bringen unseren Freund und die Mutter seiner Kinder hin. Sie wohnen dort.“, antwortete der Fahrer und zeigte auf Ismaïl und Lena. (Vor oder mit einem kurdischen Vater von dessen „Frau“ zu sprechen, ist unstatthaft. Sie ist „die Mutter der Kinder“.)

Der Kommandant zeigte sich misstrauisch. Auch die Soldaten betrachteten die Reisenden, und einige stellten die gleichen Fragen. Der 14jährige in ihrer Begleitung, den bis dahin niemand beachtet hatte, wurde von einem der Soldaten ebenfalls befragt, wurde rot und stammelte. Das war seine erste Begegnung mit jenen, gegen die er kämpfen wollte. Der Soldat wandte sich dem nächsten zu.

Lena hatte den Blick gesenkt und hielt die Hand Minas ganz fest. Der Cousin streckte den Arm aus, um sie von den Soldaten zu trennen. Der Fahrer kam her:

„Sie ist stumm. Sie war in Täbris beim Arzt.“

Mina konnte nur persisch. Kurdische Kinder lernen diese Sprache aber erst in der Schule. Und die Kinder aus den Dörfern gingen nicht in die Schule. Wenn Mina auch nur ein einziges Wort herausrutschte, weil sie alles verstand, was gesagt wurde, wäre das eine Katastrophe. In den Augen dieser Militärs war sie ein kurdisches Kind. Sie durfte um keinen Preis reden!

Die Soldaten schickten sich an, in den Jeep zu steigen, um ihn zu untersuchen. In diesem Moment wollte Mina etwas sagen und begann mit „Mama“. Auf Kurdisch heißt das „daya“. Lena wurde panisch, sie musste die Kleine unbedingt hindern fortzufahren. Also zwickte sie das Kind fest an der Schulter, und Mina begann zu brüllen. Das rettete sie. Lena nahm sie in die Arme und verfluchte die Welt. Die Soldaten hatten den Jeep durchsucht und den kleinen Koffer geöffnet, in dem vor allem Kinderkleider waren. Dann stiegen sie wieder aus und hielten abseits der anderen eine kurze Beratung ab. Schließlich sagten sie, dass die Fahrt fortgesetzt werden konnte, während Mina an Lenas Schulter schluchzte.

Man musste ihnen das nicht zweimal sagen. Sie sprangen in den Jeep, und dieser fuhr fast schon los, bevor der Letzte eingestiegen war. Sie kamen den Berg hinauf und hielten auf einem Plateau. Es war wirklich notwendig, sich wieder zu fassen, und sie atmeten die frische Bergluft tief ein. Diese Geschichte hätte wahrlich böse enden können, und es erschien ihnen, als hätte das alles Stunden gedauert. Tatsächlich waren sie nur für etwa 30 Minuten aufgehalten worden. Irgendeiner holte seinen Reiseproviant hervor. Sie teilten ihn, aßen immer noch schweigend und begannen erst danach zu reden. Sie konnten kaum glauben, dass sie da herausgekommen waren.

Auch ein Klepper ist ein edles Tier, und ein Muli unrein

Gegen Mitternacht erreichten sie ihr nächstes Etappenziel. Schon um drei Uhr früh mussten sie wieder aufbrechen. Es war sehr kalt. Draußen wartete ein weißes Pferd auf sie. Es war ein dürrer, alter Klepper. Auf dem Rücken trug er anstelle eines Sattels einen ausgefransten Teppich. Die Kameraden halfen Lena hinauf und reichten ihr die noch schlafende Hiwa. Teppich oder nicht, es fühlte sich an, als ob sie ungeschützt auf den Knochen des Tieres säße, und es war entsprechend schmerzhaft. Ismaïl ritt ein Maultier, das im Gebirge das trittsicherste Tier ist. In diesen Gebieten aber gilt es als unrein wie auch der Esel. Deswegen hatten sie es nicht gewagt, Lena den Muli zu geben, die ja Europäerin und Ehefrau eines Anführers war, der selbst wiederum einen Agha zum Vater hatte. Sie zogen es vor, Lena auf dem Rücken eines Pferdes leiden zu lassen, das nur noch Haut über den Knochen hatte, aber ein edles Tier war. Sie selbst hätte es gerne gegen Ismaïls unreines Mautier getauscht. Es ist keine Kleinigkeit, sich nur an der Mähne festzuhalten, die Füße nirgends abstützen zu können und die Bewegungen des Pferdes mitzumachen, ohne herunterzufallen. Wenn es bergab ging, neigte sich ihr Körper nach hinten, und bergauf nach vorne. Der Bub sah, dass sie erschöpft war, nahm ihr Hiwa ab und steckte sie in seinen „Rucksack“. Mina, die Ismaïl doch wirklich gern hatte, weinte und wollte bei ihrer Mutter sein. Also nahm Lena sie hin und wieder zu sich auf das Pferd, um sie zu beruhigen. Aber sie war deutlich schwerer als ihre Schwester. Lena konnte nicht mehr und übergab die Kleine wieder an Ismaïl.

Bei den ersten beiden Pausen konnte sie noch selbst absteigen. Danach gehorchte ihr der Körper nicht mehr, und sie brauchte Hilfe. Mehrmals wäre sie lieber zu Fuß weiter gegangen. Es war erfolglos. Auch das Tier war übermüdet und brauchte gelegentlich bei den Aufstiegen Hilfe durch Anschieben oder musste beim Bergabgehen am Schwanz festgehalten werden, um nicht zu stürzen. Die Etappen waren lang, der Zeitplan musste eingehalten werden, aber Lena und ihr Pferd verursachten Verzögerungen.

Bei einem der Zwischenstopps nahe dem höchsten Gipfel des Gebiets, kam einer der Führer zu Lena und fragte sie mit erwartungsvollem Lächeln, ob sie etwas sehr Schönes sehen wollte. Sie hätte es gerne getan, aber ihr Körper ließ sie im Stich.

„Was willst du mir zeigen?“

Er nahm sie an der Hand und half ihr, eine kleine Anhöhe ganz in der Nähe hinaufzuklettern. Oben auf dem Hügel blieben sie stehen, und er sagte ganz einfach: „Schau!“

Er lachte vor Glück, breitete die Arme aus, und begann sich im Kreis zu drehen, während er Freudenschreie ausstieß.

„Schau dir diese Pracht an, Khoschka Dschian (liebe Schwester)! Das sind unsere Berge, sie gehören uns, das ist unser Kurdistan!“

Lena beobachtete seinen Tanz eines Derwisches und war bewegt von der Liebe und der Begeisterung dieses Mannes für dessen Land gerührt. Ihr Blick glitt über die Landschaft, von der ihr Begleiter so hingerissen war. Sie wollte aufstehen, aber die Beine versagten. Vor ihr lag ein Panorama, das der Götter des Olymp würdig war. Es war, als wäre sie von einem Meer aus Giganten umgeben, den kurdischen Bergen.

„Welche Richtung nehmen wir?“

Sofort wurde ihr bewusst, dass ihre Frage nutzlos war. Er wies vage eine Richtung, immer noch voller Fröhlichkeit. Er war lange Märsche im Gebirge gewohnt, und die Richtung war dabei nicht wichtig: Das Meer aus Bergen erstreckte sich rundum. Hinter jedem Gipfel verbarg sich ein weiterer oder auch mehrere, und einige davon schienen unüberwindbar zu sein.

Sind Glück und Entsetzen so unvereinbar wie Wasser und Feuer?

Der kurdische Höhenrausch

Sie war so unendlich müde. Trotzdem ging es weiter. Die Kinder, Abdul Rahman, die Kurden – alle glaubten an ihren Mut und erwarteten, dass sie alle Hindernisse und Schwierigkeiten überwinden würde. Ihnen war wirklich nicht bewusst, welche Anstrengungen sie ihr abforderten. Ein Gefühl der Ohnmacht erfüllte sie. Sie fühlte sich, als ob sie in diesen unendlichen Bergen versänke, und musste dennoch Schritt für Schritt ihre Erschöpfung mit Willenskraft überwinden. Vor ihr drehte sich der Begleiter immer noch um sich selbst, berauscht von Glückseligkeit, dem Gebirge wie einer Geliebten zugetan. Seine weißen Zähne glänzten beim Lachen. Hätte man ihm gesagt, „wir gehen los“, wäre er selig von einem Berg zu nächsten weitermarschiert.

Auch Glück ist ansteckend. Auf einmal hörte Lena die an die unendliche Weite gerichteten Rufe ihres Begleiters nicht mehr. Sie war in einen freudvollen Malstrom geraten, der um sie wirbelte wie ein endloser Tanz, wie eine Art wildes Ritual, ein Strudel grenzenlosen Glücks, in dessen Zentrum sie gefallen war und mit dem sie über allem Erlebten schwamm. Es war ein kurdischer Höhenrausch. Alles hatte aufgehört zu existieren: Die Bergführer, Abdul Rahman, die Kinder. Die Welt war verschwunden, das Gebirgsmassiv nicht mehr da, und die Erschöpfung hatte sich verflüchtigt. Es war als befände sie sich zwischen Himmel und Hölle. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Gefährte aufgehört hatte, sich zu drehen, sich bei ihr im Schneidersitz niedergelassen hatte und die Richtung suchte, in die ihre Augen blickten.

Sie war weit weg, gefährlich weit. Er legte ihr die Hände auf die abgemagerten Schultern und schüttelte sie. Er schrie ihr Worte ins Ohr, die sie nicht verstand. Sie lächelte.

„Awa la kué buie!? (Wo warst Du ?)“, fragte er offensichtlich erleichtert. Sie lächelte wieder, stand auf und sagte:

„Kurdistan ist großartig. Du hast recht.“

Ihr psychischer Zustand hatte sich schon immer auf Lenas Körper ausgewirkt. Wenn die Seele weinte, wurde der Leib schwer, alt, und manchmal erkrankte sie auch. Sang die Seele, dann richtete sich der Körper auf, wurde leicht und gewann seine Kraft und Gelenkigkeit wieder.

Bis dahin hatte Lena Hochachtung für das kurdische Volk empfunden, das so viel Leid zu ertragen hatte. Sie hatte sich jenen angeschlossen, die kämpften und wollte ihnen nützlich sein. Sie hatte ihr Leben an deren Leben gebunden, die Sprache, die Bräuche und die Traditionen gelernt. Bei all dem handelte es sich um erworbene Dinge, wie sie in jener Gesellschaft, in der sie groß geworden war, unbekannt waren. Aber das alles war nicht bis in ihr tiefstes Inneres eingedrungen. Dennoch war es ihr durch die Kurden gelungen, Liebe und Vernunft in Einklang zu bringen.

Hier, so nahe am Himmel über den endlosen Bergen, trafen Glück und Furcht aufeinander. Die kurdische Seele bemächtigte sich der ihren, und beide vermischten sich. Lenas Identität hatte sich geändert.

Sie stieg ruhig und versöhnt mit der Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte, den Hügel hinunter. Der Körper fügte sich. Sie hatte sich mit dem ausgesöhnt, was kurz zuvor noch unversöhnlich erschienen war. Im Moment empfand sie nichts anderes als tiefe Ruhe.

Sie stellten das Pferd im Stall eines Dorfes ein und tauschten das Maultier gegen einen Esel aus, der mit all dem beladen wurde, das sie mit sich führten. Der Weg war weniger anstrengend als Lena befürchtet hatte.

War es, weil die Führer die Gruppe über Abschneider zum Fuß des Berges leiteten? War es, weil sich die Jugend leichter anpasst? Oder war Lena eine andere geworden? Der Rücken, die geschundenen Beine und die aufgeplatzten Blasen an den Füßen taten immer noch weh, aber beim Marschieren verringerten sich die akuten Schmerzen nach und nach. Sie waren nur nachts unterwegs. Tagsüber versteckten und erholten sie sich.

Die Bergführer erzählten von einem Buben mit zwei Köpfen. Die Vorstellung eines derartigen Wesens stachelte Lenas Phantasie an und in der nächtlichen Dunkelheit verzichtete sie auf ihr Stummsein.

„Warte es nur ab, du wirst es sehen!“

Am Morgen erreichten sie einen verlassenen Ort, an dem nur ein einziges Häuschen stand. In der Mitte befand sich eine Türe zu einem kleinen Gang, links und rechts davon war je ein Zimmer.

„Eines für jede Frau“, sagte jemand keck. Sie machten sich über Lena lustig, wohl wissend, dass in Europa die Polygamie verboten war.

„Was für ein Glück, dass es nicht vier sind! Wo würden die untergebracht?“, flüsterte Lena dem Kecken ins Ohr.

„Seine beiden Frauen arbeiten auf den Feldern und kommen gut miteinander aus. Die eine ist kinderlos, die andere ist die Mutter des Buben mit den zwei Köpfen“, sagte er ihr, um sie zu reizen.

Wie gerufen, kam ein Bub in den Raum, ein völlig gesundes und hübsches Kind. Fröhlich und verspielt gab Kamran jedem der neu Angekommenen ein Busserl. Er war knapp fünf Jahre alt. Auf der Stelle gewann er Mina und Hiwa als Gefährten. Da er nur von Erwachsenen umgeben war, litt er wohl unter dem Mangel an Spielkameraden. Sein Kopf war etwas groß wie auch sein Körper, er schien kräftig und reif für sein Alter. Wegen dieses Kopfes, der nicht der üblichen Norm entsprach, hänselten ihn die Freunde und die Eltern und bezeichneten ihn als den „Buben mit den zwei Köpfen“.

Kamran suchte mit seinen Augen auch Kontakt zu Lena. Vorsichtshalber blieb sie aber die Stumme und verständigte sich mit Gesten. Kamran lachte, hüpfte herum, stieß Freudenschreie aus und redete ohne Unterlass. Das war ein verflixtes Plappermaul. Mina und Hiwa imitierten ihn zum Spaß. Plötzlich wandte sich diese Laus von Kamran Lena zu und rief mitten im ungestümen Spielen: „Dayakat dagam!“ Verdutzt machte sie ihm ein Zeichen, das noch einmal zu sagen, und deutete an, dass sie nicht verstanden habe. Er wiederholte es. Es war tatsächlich eine unglaubliche, Macho-artige Beleidigung. In der ersten Version hatte sie auf Lenas Mutter abgezielt, in der zweiten auf diese selbst. Verfluchter Bengel. Die Kinder der Bauern wuchsen rasch, und das nicht nur körperlich.

(14 Jahre später war aus diesem schamlosen Lausbuben ein Peschmerga geworden, und er wurde von Soldaten des Schah umgebracht.)

Eines anderen Morgens hielten sie, vom nächtlichen Marsch übermüdet, am Rand eines kleinen, durch Bäume geschützten Feldes an. Es war eine schöne Gegend. Die Vögel wachten eben auf und begannen zu singen. Mina rannte um ihre kleine Schwester herum und schrie vor Freude – Hiwa sollte mit ihr spielen.

Einer der Begleiter stürzte vor, um sie zum Schweigen zu bringen. „Nur keinen Lärm!“ Die Stumme fragte ihn, warum. Es gab hier keine lebende Seele, nicht einmal ein Haus war irgendwo zu sehen. Lena war sehr verärgert. Die Kinder brauchten Gelegenheit zu spielen. Der erschrockene und nervöse Führer forderte sie auf, ihm zu folgen. Das Feld lag an einem sanften Abhang. Als sie an dessen anderem Ende angekommen waren, musste sich Lena flach auf den Bauch legen, und er drängte sie, zwischen den Bäumen hinunterzuschauen. Sie befanden sich am Rand eines Abgrundes und ganz unten lag ein Dorf:

„Das kleine Feld gehört einem der Unseren, und außer ihm kommt niemand hierher. Der Agha (Feudalherr) des Dorfs ist ein Dschasch, und die Bewohner haben Angst vor ihm. Wenn wir uns verraten, werden sie uns nicht helfen“, murmelte er Lena zu.

„Warum haben wir dann hier Halt gemacht?“

„Wenn wir ganz still sind, ist das ein sicherer Platz, und unsere nächste Etappe wird lang sein. Alle sind erschöpft. Wir müssen uns ausruhen.“

Alle wollten eigentlich nur schlafen, aber plötzlich entdeckten sie, dass Ismaïl fehlte. Sie fanden ihn mitten im Feld, zwischen den Erdklumpen niedergesunken und delirierend. Er war bewusstlos und gab unzusammenhängende Worte von sich. Auch er, der Student, war, ganz wie Lena, einer derartigen Expedition nicht gewachsen.

„Das hat uns gerade noch gefehlt!“, sagte einer der Begleiter. Lena verlangte, dass man ihr Wasser bringe, und beschäftigte sich mit Ismaïl. Sie befeuchtete ihm die Schläfen, den Nacken, den Kopf... Ausgerechnet jetzt fing der Esel zu wiehern an! Er verkündete damit die Anwesenheit von Menschen in der gesamten Umgebung. Einer der Führer rannte zur Kante des Abgrunds, um zu schauen, ob sich im Dorf irgendetwas regte. Nach und nach beruhigte sich das Tier, Ismaïl erholte sich, und der Führer kam von seinem Posten als Kundschafter zurück. Offenbar hatte das entfernte Wiehern eines Esels niemanden im Dorf erstaunt.

Am Nachmittag kam ihr dortiger Kontaktmann mit warmem Essen. Es war ein echtes Festgelage nach all dem Brot, dem Käse und den Weintrauben sowie, an den letzten Tagen, nur noch Keksen und Wasser. Quellwasser war übrigens das Einzige, das sie nach Belieben ausreichend zur Verfügung hatten.

Abseits der anderen erzählte der Dorfbewohner den Führern etwas, das, den Blicken nach zu schließen, beunruhigend war. Sobald das Mahl beendet war, nahm er das Geschirr und ging eilig weg.

„Wir müssen sofort aufbrechen“, sagte der Begleiter ohne jede weitere Erklärung.

(Eine Truppe Soldaten durchkämmte gerade die Dörfer und Berge der Region und suchte das Hauptquartier der DPKI.)

Während der folgenden Tage marschierten sie, abgesehen von kleinen Zwischenstopps, wenn die Müdigkeit sie übermannte, fast ohne Pausen. Dann schliefen sie auf der Stelle ein, aber ihr Schlaf dauerte nicht lange: Sie mussten weitermarschieren. Sie konnten schließlich nicht mehr, sogar die Begleiter waren am Ende, als sich plötzlich etwas änderte. Die Führer hörten auf, von ihnen größtmögliche Lautlosigkeit zu verlangen, und begannen zu singen, spielten mit den Kindern herum und zeigten ihnen die Bäume und anderen Pflanzen. Endlich konnte man frei sprechen und nach Belieben schlafen.

Zwischenstop im Hauptquartier der DPKI

Später kamen sie in der Nähe eines kleinen Dorfes an, das von einem grünen Wall überragt wurde. Entlang dieses Walles boten die Bäume Schatten und Kühle. Neben dem Abhang lagen gut bestellte Felder. Oben wartete eine Gruppe bewaffneter Männer auf sie. Es waren Peschmergas. Alle redeten laut, lachten und umarmten einander. Als sie auf Lena zugingen, wurden sie schweigsam. Sie verstand nicht, was vorging. Einer von ihnen, dem ein Rand des Turbanstoffes das Gesicht teilweise verdeckte, löste sich von der Gruppe, und sie erkannte dessen Augen. Das war er wirklich, ihr Mann! Hätte sie wie eine Europäerin reagiert, wäre sie ihm an den Hals gesprungen oder hätte sich hingestürzt und sich in seine Arme geworfen. Aber sie war keine Europäerin mehr. Sie reagierte wie eine Kurdin, lächelte ihn an und schob die Kinder zu ihm.

Sie waren im Hauptquartier der DPKI.

Im Kreis setzten sie sich unter die Bäume. Der Abend dämmerte. Wenn sie schwiegen, kamen die Laute der Natur auf. Es war, als würden die Insekten, die Grillen, die Hummeln und die Vögel darauf warten, um sich zu melden. Manchmal betrachtete Abdul Rahman Lena heimlich und drückte ihm Verborgenen ihre Hand, aber er hörte genau zu, was gesprochen wurde. Jedenfalls war es er, der, wie gewöhnlich, am meisten redete.

Mina und Hiwa hatten rasch das Ungewöhnliche der Situation erfasst. Sie verhielten sich still, drückten sich an ihre Mutter und beobachteten die neuen Gesichter. Auf die Fröhlichkeit der Männer reagierten sie mit scheuem Lächeln, ganz wie gut erzogene, kleine Damen. Sie tranken ihren Tee nach Art der Region, indem sie ihr Stückchen Zucker eintunkten und es in den Mund steckten, während sie gleichzeitig einen Schluck machten. Den Kleinen war der Zucker lieber als der Tee.

Nach dem Essen schliefen alle unter den Bäumen ein. Die Männer schnarchten im Chor, und Lena konnte nicht einschlafen. Sie schaute in den Himmel und auf das Wunderwerk der Sterne, atmete genussvoll die reine Bergluft. Schließlich schlief auch sie.

Es war noch finstere Nacht, als sie aufwachte und Hiwa nicht mehr an ihrer Seite spürte. Mina schlief ruhig an ihrer anderen Seite. Lena stand auf, um ihre Tochter zu suchen. Zuerst blickte sie vorsichtig unter die Decken der Schlafenden und dachte, die Kleine könnte irgendwo darunter geschlüpft sein. Nichts. Schreckliche Angst stieg in ihr auf. Sie weckte Abdul Rahman, und dieser die Peschmergas. Alle suchten Hiwa. Es war vergeblich. Sie sagten ihr, dass man in der Morgendämmerung mehr sehen und das Kind finden würde. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Sie bestand darauf, die Suche fortzusetzen, weil der Mond und die Sterne genug Helligkeit brachten, um sowohl in der Nähe als auch weiter weg etwas zu sehen. Aber niemand hörte auf sie.

Weinend setzte sie sich in das Gras auf dem Wall und war auf alle wütend, vor allem auf Abdul Rahman, der sich wie die anderen wieder niedergelegt hatte, als die Suche erfolglos geblieben war, und bereits schlief. Lena hätte alles Mögliche erwartet, nur das nicht. Ihr Mann schlief, ohne sich um sein Kind oder um Lenas Panik Sorgen zu machen! Neuerlich begann sie, das vor ihr liegende Feld genau abzusuchen. Die geraden Linien des Pflügens waren sichtbar wie bei vollem Tageslicht. Sie bemerkte in dieser Geometrie eine Art Klumpen. Es war ein großer Klumpen, der die regelmäßige Zeichnung des Feldes störte. Lena schoss darauf zu wie der Blitz. Hiwa schlief da, ruhig wie ein Engel, und Lena informierte, vor Freude weinend, die ganze Runde.

Die Peschmergas, die sie begrüßt hatten, und Abdul Rahman blieben im Hauptquartier, und die Gruppe mit den Bergführern setzte ihren Marsch fort. Sie ließen gewaltige Berge hinter sich und gingen auf neue Gipfel zu.

„Ist es noch weit?“, fragte Lena.

„Still. Du bist stumm.“

Nichts hatte sich wirklich geändert. Sie hatten beim Hauptquartier Halt gemacht, das für sie wie eine Oase war, aber dort nicht einmal Zeit gehabt, sich wirklich auszuruhen.

Die Bauern gehen mit der Sonne schlafen und stehen mit ihr auf. Im Sommer sind die Nächte kurz. Die Wanderer mussten ihren Schritt beschleunigen, um die geplanten Distanzen zu schaffen, denn sie waren bereits im Verzug. Die Frische und die Stille der Nacht vermittelten den Eindruck, jede Gefahr wäre weit weg.

Während nächtlicher Märsche in den Bergen kommen unglaubliche Wachträume. Sie lösen alle möglichen Phantasiebilder im Zusammenhang mit der Natur und deren Macht aus. Wenn die Sonne aufgeht, lösen sich diese Träume auf, aber der Reisende verspricht es sich selbst, eines Tages wiederzukommen, um nicht nur nostalgische Erinnerungen mitzunehmen.

Lenas Füße waren geschwollen, voller geplatzter Blasen und Geschwüre. Die Stofflappen, mit denen sie die schmerzenden Beine umwickelt hatte, lösten sich beim Marschieren. Bei jeder Quelle machte Lena sie im kalten Wasser nass. So konnte sie wieder etwas besser weitergehen. Um sich von den Schmerzen nicht unterkriegen zu lassen, erfand sie Übungen, die den Kopf beschäftigen sollten: Sprüche, Maximen, ja sogar Zurechtweisungen für sich selbst. Ihr Hirn wurde leer. Die Schmerzen ließen sie innerlich schreien. Sie betete zum Himmel, machte sich über sich selbst lustig, schalt sich wegen der eigenen Schwäche und hatte dann wieder Mitleid mit sich selbst. Aber sie marschierte wie alle.

Wieder ein Dorf in der Nacht.

„Wartet hier und macht keinen Lärm!“, sagte der seinerzeitige Chauffeur, „ich werde meinen Kameraden wecken“.

Es war ein Uhr früh. Der Vollmond schien auf den Platz und die Flüchtenden. Einer der Führer gab ihnen ein Zeichen, sich in den Schatten eines Hauses zu stellen. Sie wollten das gerade tun, als der Begleiter dem Esel einen leichten Schlag versetzte, damit er ihnen nachginge. Ein Esel, der im Mondschein um ein Uhr morgens mitten auf einem Platz in einem schlafenden Dorf „iah“ schreit, ist nicht das Diskreteste! Die Gruppe erstarrte zu einem lebenden Gemälde und wartete gelähmt auf das Schlimmste. Aber niemand kam heraus, nicht einmal aus Neugierde. Wahrscheinlich gab es hier keine Dschasch. Die wahrscheinlichste Erklärung war aber, dass die Leute Eselsgeschrei gewohnt waren. Der Begleiter kam am Ende mit seinem Kameraden zurück. Sie beeilten sich, das Tier zum Schweigen zu bringen und es anzuschieben, damit es sich wieder auf den Weg machen sollte. Es war vergeblich. Der Esel bockte. Endlich hörte er auf zu wiehern, keiner wusste, warum. Auch ein Eselstreiber könnte es nicht sagen.

Sie überschritten die Grenze zwischen dem Iran und dem Irak irgendwo, wo nichts darauf hinwies. Lena hatte sich vorgestellt, dass es Stacheldraht geben hätte müssen, wie es bei den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang der Fall war, die sich vom Westen abgrenzten. Es war erstaunlich, dass es zwischen diesen beiden Staaten, die einander so oft feindselig gegenüberstanden, keine dichtbewachte Grenzzone gab.