An der Quelle des Tao 46


Wenn das Tao auf Erden herrscht, 

nimmt man die Pferde zum Dungfahren. 

Wenn das Tao auf Erden abhanden kommt, 

werden Kriegsrosse auf dem Anger gezüchtet. 

Es gibt keinen größeren Unsegen als viele Wünsche. 

Es gibt kein größeres Übel als kein Genüge zu kennen. 

Es gibt keinen größeren Fehler als Haben wollen. Darum : 

Das Genügen der Genügsamkeit ist dauerndes Genügen. 


Fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung gab es zum Krieg Führen noch keine Panzer. Auf die heutigen Verhältnisse übertragen, müsste man in Laotses Metapher zu Kriegsvorbereitung und Wettrüsten an die Stelle von Kriegsrossen ein neues Atomkraftwerk zum Zwecke der Plutonium-Anreicherung auf den Anger setzen, wenn den Menschen das Tao abhanden kommt. In friedlichen Zeiten, wenn das Tao herrscht, sagt er in seinem 46. Spruch, werden die Pferde keine Krieger in den Kampf tragen, sondern sie werden dort eingesetzt, wo sie hingehören: in der Landwirtschaft. An die Stelle von Panzern dürfen wir heute Traktoren setzen, dann stimmt die Analogie einigermaßen. Freilich mit dem fundamentalen Schönheitsfehler, dass sich zu Beginn des dritten Jahrtausends zu wenig Menschen für das Tao interessieren, weil die meisten von ihnen noch nie etwas davon gehört haben. Die Menschheit wird mit einer Fülle von Göttern und Glaubensinhalten versorgt, aber das große Tao wird übergangen, weil seine Philosophie als Mittel zur Manipulation von Menschenmassen völlig ungeeignet ist. Man kann nicht guten Gewissens dem Tao folgen und gleichzeitig Kriegshetze trei- ben. Der Rest des Spruches ist eine Kritik an der menschlichen Maßlosigkeit, die wiederum die Ursache für zahllose Konflikte in unserer Welt ist. Die Genügsamkeit, die Laotse schließlich predigt, darf allerdings auch nicht falsch verstanden werden. Sie lässt sich nicht mit den Parolen des Mittelalters vergleichen, in denen den mittellosen, zum Teil hungernden Menschen der Segen der Armut gepredigt und als Lohn die ewige Seligkeit versprochen worden ist. 


Vielleicht ist Laotse bei seiner Betonung der Genügsamkeit diesmal einen Schritt zu weit gegangen, sozusagen aufs Pferd gesprungen und auf der anderen Seite wieder heruntergefallen. Der alte Weise war schließlich kein Heiliger und er hat niemals Anspruch darauf erhoben, unfehlbar zu sein. Chuang tzu mag einst ähnlich empfunden haben, denn er hat diesen Spruch mit keinem einzigen Wort kommentiert. Er selbst hielt nicht viel von Parolen zur Genügsamkeit. Er verachtete Reichtum und durch materielle Überlegenheit erzeugte Macht, aber darüber hinaus hatte er gegen das Ausleben eines vernünftigen Wohlstandes nichts einzuwenden. So lässt er ja seinen Wesenhaften auch in der Stadt herumschlendern, die Taschen voller Geld, von dem er keine Ahnung hat, woher es gekommen ist. 


Man kann allerdings Laotses Behauptung, es gäbe keinen größeren Unsegen als viele Wünsche, auch anders als eine kategorische Verneinung allen Wünschens auslegen. Vielleicht meint Laotse genau das Phänomen damit, unter dem der moderne Mensch tatsächlich leidet, weil es für einen ständig präsenten, unterschwelligen Unfrieden sorgt: Unser andauerndes Wollen. Wir sind im Grunde nonstop mit Vergleichen beschäftigt, und an den Resultaten dieser Messvorgänge wird anschließend herum gemäkelt. Wir wollen nicht unbedingt dauernd etwas bekommen, aber wir werten im Rahmen kaum je zu Ende gedachter Sätze die Resultate unserer chronischen Ver- gleiche aus. Das eine sollte besser nicht geschehen sein, das andere hätte früher, besser oder eben anders stattfinden sollen, ein weiteres hätte dringend Korrekturen nötig und vom allerletzten fehlt das Mehr, es hört auf, ehe wir es genutzt haben. So geht es in unseren Köpfen tagaus tagein voran. Sie brauchen sich nur einmal einen Tag lang zu beobachten, wie Sie auf das ganz gewöhnliche Geschehen ideell reagieren. Sie fahren im Auto und beobachten das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer. Haben Sie dabei nicht ständig etwas an deren Verhalten auszusetzen? Der da vor mir schläft jetzt gleich ein, schimpfen Sie in Gedanken, oder dieser Protzschlitten hätte mich beinahe gerammt. Oder Sie stehen in der Schlange an der Kasse des Supermarktes und registrieren, was die Frau vor ihnen im Einkaufskorb hat und listen es in Gedanken vergleichend mit Ihren eigenen Einkäufen auf. Die Anlässe sind Legion. Aber Vergleichen ist eine unserer Süchte, von denen wir uns besser kurieren lassen sollten. Und zwar durch einen Doktor, der „Eigene Einsicht“ heißt. 


Da ist noch etwas Anderes, Seltsames an unseren Wünschen: Es soll alles so bleiben, wie es ist - wir wollen möglichst keine Veränderung an gewohnten, vertrauten Zuständen. Aber auf der anderen Seite vertragen wir genau diese Kontinuität nicht besonders gut. Unterschwellig drängt es uns immer hin zur Veränderung. Da hat aber jedes, jemand ein schönes, schnuckeliges Häuschen - aber jedes Mal, wenn er an der kubistischen Villa von Direktor Knödelsen mit dem gigantischen Panoramafenster vorbeifährt, packt ihn die Gier nach etwas Ähnlichem. Sie merken, wir sind wieder beim Vergleichen angekommen. Oder die junge, gut verdienende Frau vor dem Schuhgeschäft. Daheim stehen neunundneunzig Paar Schuhe, etliche davon selten oder nur ein einziges Mal getragen. Dann betritt sie den Laden und kauft sich nach einer Stunde Probieren das hundertste Paar. Wenn Laotse in seiner rigiden Verneinung des Haben- wollens das Übermaß beanstandet, muss man ihm Recht geben. Dass wir uns im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Dinge wünschen, die uns nützen oder einfach nur Freude machen, sollte nicht unter diesen Bannfluch fallen. Richtig verstandene und ausgelebte Genügsamkeit darf niemals in die Einschränkung der Lebensfreude ausarten. Die taoistische Philosophie ist keine Lebenskunst des Mangels und der Enthaltsamkeit. Das Nichthandeln lehrt im Gegenteil, wie der Mensch des WEGES durch seine Nähe zum Tao weit- aus problemloser als seine um Fortschritt ringenden Zeitgenossen ans Ziel seiner Träume gelangt.


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