Der wahre Mensch und das Tao 

von Theo Fischer


Das Wirken der Natur zu kennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu stehen muss: das ist das Ziel. Die Erkenntnis des Wirkens der Natur wird durch die Natur erzeugt, und die Erkenntnis des menschlichen Wirkens wird dadurch erlangt, dass man das Erkennbare erkennt und das, was dem Erkennen unzulänglich ist, dankbar genießt. Doch liegt hier eine Schwierigkeit vor. Die Erkenntnis ist abhängig von etwas, das außer ihr liegt, um sich als richtig zu erweisen. Da nun gerade das, wovon sie abhängig ist, ungewiss ist, wie kann ich da wissen, ob das, was ich Natur nenne, nicht der Mensch ist, ob das, was ich menschlich nenne, nicht in Wirklichkeit die Natur ist? Es bedarf eben des wahren Menschen, damit es wahre Erkenntnis geben kann.


Auf den ersten flüchtigen Blick liest sich der Text, als ob der alte chinesische Weise ähnlich wie Ralph Waldo Emerson über den Menschen und seine Beziehung zur Natur philosophieren würde. Wer bei der Lektüre an der Oberfläche bleibt, wird kaum die Tiefe entdecken, die Chuang-tzu hier auslotet. Dabei zeichnen die wenigen, wie Gedanken Skizzen anmutenden Sätze ein Bild von den Zusammenhängen zwischen dem Wirken des Menschen und dessen untrennbarer Verbundenheit mit den Prozessen der Natur also seines gesamten Lebens. Er definiert das Ziel für Menschen auf der Suche nach Erkenntnis, für Menschen, die sich fragen, welchen Sinn es denn macht, sich mit dem taoistischen Denken zu beschäftigen. Das Wirken der Natur zu erkennen und in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu steht, ist der Schlüssel. 


Aber was meint Chuang-tzu mit „Wirken der Natur"? Einmal ganz nüchtern und logisch: In unserer Sprache steht Natur für natürlich, organisch sich entwickelnd, - es ist die gewaltige Bewegung des Lebens an sich. In seiner Aussage freilich fordert er von uns, sofern wir Anspruch auf das Adjektiv „wahrer“ Mensch erheben, dass wir unser eigenes Wirken- also die Summe unserer Lebensäußerungen, unserer Vergnügungen, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Unternehmungen, dem Leben Glück und Erfolg abzuringen samt unseren Bestrebungen, Einblick in den Sinn unseres Daseins zu bekommen – dass wir dieses Wirken in Beziehung zum Wirken der Natur setzen. Und zwar in dem Sinne, dass wir darin nicht nur enthalten, sondern die Auslöser der Dinge sind. Wer zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge hin durchdringt, wird bald alle Gefühle oder düsteren Ahnungen seiner Ohnmacht dem Lauf der Dinge gegenüber verlieren. Weil klar wird, dass die Natur, vor der der Mensch sich seit Urzeiten fürchtet und den Göttern, die er dahinter vermutet, Opfer darbringt, um sie gnädig zu stimmen – dass diese Natur überhaupt nicht getrennt vom eigenen Wesen ist, ja, dass die Natur samt ihrem Wirken ohne die eigene Existenz gar nicht vorhanden wäre, weil sie erst mit dem Erstehen der individuellen Natur eines Menschen selber zum Leben erwacht, damit sie und ihr Wirken wahrgenommen und mit dem menschlichen Wirken synchron stattfinden können. 


Die Zweifel, die Chuang-tzu im zweiten Absatz anmeldet, stellen das richtig, was die meisten Menschen falsch auffassen, wenn sie auf ihre Beziehung zur Natur und ihrem Walten angesprochen wer- den oder darüber nachgrübeln: Das Walten der Natur im Sinne die- ses gigantischen, permanenten Schöpfungsprozesses, in dem sich in Sekundenbruchteilen die tanzenden Teilchen in einer endlosen Kette von Werden und Vergehen neu bilden und gleichzeitig das Bild der Welt beinahe unmerklich verändern dieses Walten geschieht jenseits jeglicher Erkenntnismöglichkeit. Über die Jahrtausende haben Philosophen sich das Hirn darüber zermartert, kluge, gute, leistungsfähige Geister haben ihr Bestes gegeben, genau diese Kluft, die Chuang-tzu hier zeichnet, zu überbrücken und den Weg der Erkenntnis zu öffnen. In diese schon ewig bestehenden Ungewissheiten hinein formuliert der alte Weise die Quintessenz allen taoistischen Denkens in der Feststellung, dass - ohne dass der Mensch, also wir alle, etwas davon wüsste - der Mensch selber diese Natur ist, und das was er für sich selber hält, sich bei genauerem Hinschauen in der Natur verliert, weil er sie ebenso ist, wie alles andere in der sichtbaren Welt. Was menschlich ist, ist gleichzeitig natürlich, also Natur. Es gibt diese Trennung nicht, an die tausende Gene- rationen zu glauben gelernt haben. Allein der so genannte Wahre Mensch ist fähig, diese Feinheiten zu erkennen und sie als Tatsache erlebt, in seinem Leben umzusetzen. Das Wirken des Menschen und das Walten der Natur bedingen und beeinflussen einander wie es das Bild mit den zwei Händen ausdrückt, die sich gegenseitig zeichnen und damit ihr Vorhandensein erzeugen. An diesen Prozessen kann manches nicht so recht durchschaut werden. Zum Beispiel die Wechselwirkung von Denken und Ich, oder Fragen danach, wie weit unser Wille inmitten dieses Getriebes reicht. Was immer an Fragen übrig bleibt: wir sollten Chuang-tzus Rat beherzigen und einfach dankbar genießen, was die Natur, die wir selber schließlich sind, uns Tag für Tag in ihrer Lebens strotzenden Fülle bietet. Und zwar ohne alles Grübeln und frei von allen Versuchen, daran etwas zu ändern. So ist der Geist eines „wahren“ Menschen beschaffen. Chuang-tzu skizziert ihn sinngemäß so: 


Der wahre Mensch bleibt mit seiner Erkenntnis allein, er vollbringt keine Heldentaten, er schmiedet keine Pläne – bei Misslingen hat er keinen Grund zur Reue und beim Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl. Darum erhebt sich seine Erkenntnis zur Übereinstimmung mit dem Tao.


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