Das Tao und die Psychotherapie
Wenn das Unbewusste bewusst wird, verwandelt sich die bloße Idee der Universalität des Menschen in die lebendige Erfahrung seiner Universalität. Es ist die empirische Verwirklichung der Menschlichkeit.
Sigmund Freud
Ich bin kein Psychologe und habe auch nicht vor, in Psychologie zu dilettieren. Aber ich habe in den letzten 25 Jahren die Bewegungen auf dem Gebiet der Psychotherapie bis hin zu Berichten über die Weltkongresse der Therapeuten aufmerksam und mit engagierten Interesse verfolgt. Freud hatte vermutlich keine Ahnung, wie sehr der obige Ausspruch sich dem taoistischen Denken nähert. Freilich mit einer Schwachstelle, die mit unserer Sprache zusammenhängt: sie untergliedert unser Grundgefühl der Existenz nur in zwei Begriffe: Bewusstsein und das Unbewusste. Beides zusammen gilt als der Nährboden der Psyche. Und die moderne Neurologie definiert beide Bewusstseinszustände als Hirnfunktionen. Geist wird, wie im Sprachgebrauch üblich, zum Verstand gerechnet. Punkt, basta.
Bei derart kategorischen Bestimmungen bleibt für das Tao kein Platz mehr, an dem es in der Theorie von der Psyche unterkommen könnte. Dabei hat Freud so Recht, wenn er das Aufbrechen des Unbewussten mit der Erfahrung gleichsetzt, in welcher der Mensch sich seiner Identität mit dem Universal Geist bewusst wird. Freud skizziert einen Erkenntnisvorgang, der etwas an die Oberfläche des Bewusstseins aufsteigen lässt, das vom Uranfang her dort quasi im Keller ruhte. Apropos Keller: Der Psychologe Erich Fromm sagte in seiner Rede während einer Arbeitstagung 1957 im Institut für Psychoanalyse an der Staatsuniversität von Mexiko folgendes dazu: Für Jung ist das Unbewusste im Wesentlichen der Sitz der tiefsten Quellen der Weisheit, während das Bewusstsein der intellektuelle Teil der Persönlichkeit ist. Aus dieser Sicht wird das Unbewusste mit dem Keller eines Hauses verglichen, in dem alles angehäuft ist, was weiter oben im Gebäude keinen Platz hat.
In den Vereinigten Staaten gehört es quasi zum guten Ton der gehobenen Gesellschaft, dass man einen Therapeuten hat. – Und den haben die Leute wahrlich auch nötig. In unserer modernen Gesellschaft ist die emotionale Situation der Menschen kein bisschen besser. Die sonst so geizigen Krankenkassen bezahlen Therapien, die unter Umständen viele Monate dauern. Und engagierte Psychologen arbeiten mit den Patienten daran, die unbewussten Bewusstseinsinhalte aus dem Keller in die oberen Etagen zu befördern. Damit diese dort unten aufhören zu rumoren und ständig zu stören. Oft funktioniert die Kur, aber leider nicht immer.
Kann nun die Lebenskunst des Tao den Psychotherapeuten ersetzen? Ich werde mich hüten, etwas Derartiges zu behaupten. Aber: wenn die in Ihnen seit Ihrer Geburt im Unbewussten eingelagerte Erkenntnis Ihrer wahren universellen Identität an die Oberfläche Ihres Bewusstseins gelangt – und dies wird geschehen, wenn Sie eben diese Erkenntnis nicht durch anders lautende Überzeugungen kontinuierlich unterdrücken – wenn Sie die Tür zu Ihrem Keller mehr als nur einen Spaltbreit öffnen. Dann kommen zwar auch alle anderen Dinge herauf, die Sie, seit Sie denken können, unter Verschluss halten. Im Klartext: Die Erfahrung Ihrer Identität mit dem Tao wird sich Ihnen spontan und unwiderruflich mitteilen, wenn Sie die Tür zum Keller einfach aufreißen. Was mit anderen Worten Ihre Bereitschaft bedeutet, zu sich selbst in allen Teilen Ihres Wesens Stellung zu nehmen. Selbst wenn nach diesem Akt der Selbsterkenntnis drunten im Keller des Unbewussten noch immer Teile Ihres traumatischen Restmülls lagern sollten – die Proportionen Ihrer Traumen haben sich im Licht Ihrer neuen Erkenntnis gewaltig zu Gunsten einer stabilen, gesunden Identität verschoben.