Jede politische Kultur kennt einen Idealzustand, so wie bei Platon die aristokratische gute Gesellschaft. Toleranz ist eine politische Tugend. Direkte Demokratie zwischen Bürger und Regierung - Massendemokratie ist vermittelt. In Amerika entstand so die Gruppen-Demokratie und der Föderalismus. Verbot der Staatskirche und Anerkennung der religiösen Vielfalt. Rolle des Individuums in der Mitgliedschaft in einer Gruppe manifestiert. Duldung abweichender Praxis ist notwendiges Übel und zugleich zur Erhaltung der Demokratie wichtig. Pluralismus ist Toleranz als "Leben und leben lassen". Toleranz bedeutet Kompromisse, bei Gegnerschaft auch Beschwichtigung.
Die "Gruppendemokratie" ist ein interessantes Phänomen, dass heute auch in Gestalt von Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen, und anderen Bewegungen auftritt. Unsere Gesellschaft ist auch in Deutschland pluraler geworden. Amerikaner nehmen allerdings den kulturellen Machtanspruch gewisser großer Gruppen nicht stark wahr - obwohl sie ihn in Gestalt evangelikaler Christen deutlich spüren. Sie unterschätzen daher auch die Probleme der Integration von Parallelgesellschaften mit stark abweichenden religiösen Traditionen, insbesondere, wenn eine Religion wie der Islam mit einem rechtlichen und politischen Hegemonie-Anspruch daherkommt.
Das geht von Annahme aus, Handeln sei mehr durch Interessen, weniger durch Normen und Prinzipien bestimmt. Stärke der USA: prinzipielle Konflikte als Interessenkonflikte zu behandeln, Stärke der französischen Haltung: Interessenkonflikte als prinzipielle Fragen zu behandeln. Gruppen neigen nach außen zu Intoleranz. Industriegesellschaft funktioniert nicht ohne Toleranz. Mills Utilitarismus: jeder darf komische Kleider tragen, Bärte wachsen lassen, sexuell abweichen - Typus kosmopolitischer Großstädte wie London, Paris, New York. Liberale Staatstheorie beruht auf Auslegung der Menschennatur. Konservative sehen eher eine Verbindung aller mit allen in der Gemeinschaft. Freiheit als Egoismus ist eine Gefahr. Mill sieht, dass Freiheiten nicht für Kinder gelten, Konservative sagen, Menschen bleiben Kinder und brauchen väterlichen Monarchen oder Anführer. Man kann nicht rational eine irrationale Autorität akzeptieren. Ideologie verweigert Anerkennung unangenehmer Tatsachen und erkennt revolutionäre Faktoren nicht. Verwechslung des Interessenkonflikts mit Machtkonflikt. Politik der Interessengruppen leugnet gesamtgesellschaftliche Interessen.
Der Hinweis auf Machtkonflikte ist wichtig: Interessen können so nicht ausgewogen ausgeglichen werden. Antidemokraten verweisen immer wieder auf die unmündige Masse. Aufklärung muss aber auch fordernd sein - den Massen also etwas abverlangen, wenn sie aus selbstverschuldeter Unmündigkeit entkommen wollen und sollen.
Wenn Denker Verifikation ablehnen, trennen sie sich von der Wissenschaft. Kann man in Sozialwissenschaften überhaupt etwas "wissen"? Sind nicht alles Vorurteile unserer Epoche und Generation? Es gibt keine Garantie, dass eine kritische Gesellschaftsauffassung richtig ist. Werturteile werden als Person, nicht als Wissenschaftler gefällt, dabei oft Rückzug auf Religion und Kapitulation der Rationalität. Wer andere leiden lassen will, ist nicht mit Argumenten zu schlagen. Werte sind historisch kontingent. Vagheit ist intellektuelle Feigheit, notwendig ist intellektuelle Demut. Rationales Denken trifft auf Widerstand. Ehe die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt werden kann, dass Kosten des Leids die Folgen einer Revolution aufwiegt. 40.000 Verkehrstote werden akzeptiert, 40.000 Hinrichtungen würden nicht akzeptiert. Wissenschaft ist tolerant, aber rücksichtslos intolerant gegen Unvernunft und Trug.
Die Wissenschaft grenzt sich gegen Hexerei und Aberglauben ab - aber wo die Grenze genau liegt, ist nicht leicht feststellbar. Werturteile können Böses rechtfertigen - sind sie damit falsch? Das ist mit den Mitteln der Wissenschaft nicht feststellbar. Ist daher Toleranz angebracht? Gegen Dummheit und Böses sicher nicht - aber wer stellt das fest? Das Abgrenzungsproblem wird hier ebensowenig gelöst wie das Problem der rationalen Argumentation gegen Irrationalität.
Toleranz zu verwirklichen erfordert Intoleranz gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Toleranz ist parteiliches Ziel, subversiv und befreiend. Toleranz gegen Böses und Verdummung, wenn das den wirtschaftlichen Wohlstand fördert, ist unangebracht. Toleranz geht nur, wenn sie allseitig ist, nicht bei institutioneller Ungleichheit. De facto gilt sie nur auf Boden legalisierter Gewalt und Unterdrückung.
Herbert Marcuse geht erst einmal davon aus, dass die herrschenden Verhältnisse Toleranz nur zu ihren Gunsten ausüben, also als repressive Toleranz. Natürlich stellt sich auch ihm das Problem der Toleranz gegenüber dem Bösen. Marcuse ist allerdings von unglaublicher intellektueller Arroganz, wenn er die Definitionsmacht über das, was Falsch, Böse und Unterdrückung ist, ganz sich selbst zuschreibt.
Das Problem Harmonie zwischen individueller Freiheit und dem Anderen herzustellen, besteht nicht in Kompromiss zwischen Konkurrenten, sondern in Herbeiführung einer Gesellschaft, wo der Mensch nicht an Institutionen versklavt ist. Der Weg zur Freiheit erfordert Toleranz. "Aber die Gesellschaft kann nicht dort unterschiedslos verfahren, wo die Befriedung des Daseins, wo Freiheit und Glück selbst auf dem Spiel stehen: hier können bestimmte Dinge nicht gesagt, bestimmte Ideen nicht ausgedrückt, bestimmte politische Maßnahmen nicht vorgeschlagen, ein bestimmtes Verhalten nicht gestattet werden, ohne dass man Toleranz zu einem Instrument der Fortdauer von Knechtschaft macht." Das Telos der Toleranz ist Wahrheit. Das demokratische Argument, dass alle Meinungen gleich sind wird hinfällig, weil der demokratische Prozess selbst hinfällig wird. weil ökonomische und politische Macht Mentalität vorbestimmt, was Recht und Unrecht, Wahr und Falsch ist..
Hier propagiert Marcuse eine totalitäre Ideologie. Wenn das Gute auf dem Spiel steht, darf jeder als Feind (fast im Sinne Carl Schmitts) deklariert werden, der dem im Wege steht - und damit wird die Repression anderer gerechtfertigt.
Zugang zur Sprache wird nicht-etablierten Ansichten versperrt. Demokratie braucht Unparteilichkeit, aber ohne den Unterschied Recht-Unrecht, Wahr-Falsch zu verwischen, sonst wird herrschende Intoleranz und Unterdrückung nur verkleinert dargestellt. Dafür müssen Lehrende von herrschender Schulung befreit werden. Tatsachen sind nie unmittelbar zugänglich. Ganze Wahrheit lässt sich nicht im Rahmen abstrakter Toleranz und unechter Objektivität vollziehen. Damit können nicht Menschenopfer für bessere Gesellschaft geopfert werden, aber doch Kosten gegen Risiko von Alternativen aufgewogen werden.
Marcuse hebt Unparteilichkeit sofort wieder auf, weil er allein offenbar weiß, was wahr und falsch, Recht oder Unrecht ist. Die Befreiung der Lehrenden von herrschender Schulung wird ersetzt durch Indoktrinierung in seinem Sinne - das eine Befreiung zu nennen, hätte auch Stalin oder Mao einfallen können. Er lehnt vorgeblich das Aufopfern von Menschen für die bessere Zukunft ab - aber alle anderen Formen von Unfreiheit und Unterdrückung hält er für angebracht zur höheren Ehre des Endziels.
"Dazu würde gehören, dass Gruppen und Bewegungen die Rede- und Versammlungsfreiheit entzogen wird, die eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassistischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen. Darüber hinaus kann die Wiederherstellung der Denkfreiheit neue und strenge Beschränkungen der Lehren und Praktiken in den pädagogischen Institutionen erfordern. ...schlösse die Wiederherstellung einer solchen Freiheit auch Intoleranz gegenüber wissenschaftlicher Forschung ein, die im Interesse tödlicher 'Abschreckungsmittel', des Ertragens unmenschlicher, abnormer Bedingungen usw. erfolgt..."
Hier wird es ganz klar, wie totalitär Marcuse denkt. Ganz konkret werden seine Positionen als die einzig wahre Kirche dargestellt, jeder Feind dieser Auffassungen ist zu unterdrücken - nicht mit der oben erwähnten repressiven Toleranz, sondern mit unerbittlicher Intoleranz und Entzug der Menschenrechte und Freiheiten.
Auf die Frage, wer qualifiziert sein soll, darüber für die Gesellschaft zu entscheiden, antwortet Marcuse: das sei jeder, der gelernt hat , rational und autonom zu denken.
Nur, wer im Sinne von Marcuse indoktriniert wurde, kann autonom und rational denken und darf über die Gewährung von Freiheiten entscheiden. Alle anderen sind einfach zu dumm dafür und müssen schweigen.
Der Artikel ist entlarvend für Herbert Marcuse als totalitärem Ideologen. Es ist bedenklich, wie viele junge Leute ihm damals gefolgt sind und seine Ideen aufgesogen haben. Manche Repression, manche Unterdrückung der Redefreiheit im Namen von "political correctness" von heute kommt vermutlich aus dieser trüben Quelle.