Essay über Vernunft

Essay über Vernunft

VON GBOOM · VERÖFFENTLICHT 4. SEPTEMBER 2015 · AKTUALISIERT 17. SEPTEMBER 2023

Emile Durkheim verstand den Pragmatismus als „Angriff auf die Vernunft, einen regelrechten Kampf, der in voller Rüstung ausgetragen wird“*, weil er den Rationalismus aufgab. Nietzsche war für ihn der erste Pragmatist noch vor William James oder Charles Sanders Peirce. Der Einbruch des Irrationalen hatte viele Wurzeln. Hegel versuchte die vielfältigen Selbstbezüge in unserem Denken in den Griff zu bekommen. Ich glaube, er hat das sprachlich nicht bewältigt.

Die Psychoanalyse machte deutlich, dass in uns ein Unterbewusstsein steckt, das uns nicht ohne weiteres zugänglich ist – selbst wenn die Psychoanalytiker glaubten, diesen Schatz heben zu können – vermutlich haben sie sich überhoben. Heidegger versuchte sich an einer fundamentalen Ontologie. Auch er scheiterte an der Sprache und endete in poetischem Raunen. Die Dialektik der Aufklärung wurde entdeckt: Adorno und Horkheimer erkannten, dass auch die Monstrosität nationalsozialistischer Verbrechen noch etwas mit Rationalität zu tun hatte. Sie wollten die Aufklärung nicht über Bord werfen, aber irgendwie gelang es ihnen nicht sie überzeugend zu retten.

Inzwischen ist mehr als ein Jahrhundert vergangen und die Vernunft scheint wieder einmal sturmreif geschossen. Der alte unkritische Rationalismus ist keine ernsthafte Philosophie mehr, der „kritische Rationalismus“ wie ihn Karl Popper oder Hans Albert vertreten, versuchte die Vernunft auf eine neue, solidere Grundlage zu stellen. Die „dritte Welt“, die Popper und Eccles konstruiert haben, um den geistigen Phänomenen gerecht zu werden, kann aus meiner Sicht den Ergebnissen der modernen Gehirnforschung nicht gerecht werden.

Es ist absurd, aber die Ergebnisse der Gehirnforschung können nur erzielt werden, wenn wissenschaftliche Vernunft und Rationalität herrschen, aber zugleich werden unsere traditionellen Begriffe von Vernunft und Rationalität durch diese gleichen Ergebnisse in Frage gestellt.

Wir brauchen einen neuen Begriff von Vernunft, der den Forschungsergebnissen nicht widerspricht und doch sie und weitere solche Ergebnisse auch ermöglicht. Wir brauchen auch Vernunft für den Umgang mit den Ergebnissen im Alltag. Mein Begriff von Vernunft ist ein ethischer Begriff: so wie das Bemühen um Logik, so ist auch das Bemühen um Vernunft – unter den Bedingungen unseres Daseins als Wesen, deren Gehirn nicht nur Vernunft zulässt – für mich ein SOLLEN.

Wenn ich dieses SOLLEN akzeptiere, wenn ich auch das SOLLEN der Verwendung der Logik betone, dann kann ich daraus auch weitergehende Schlüsse ziehen. Wenn ich das nicht akzeptiere, dann bleiben auch Schlüsse ohne Grundlage, werden zu Kurzschlüssen. K.O. Apel hat seine These der Letztbegründung darauf gestützt, dass die Argumentierenden sich nicht selbst widersprechen können ohne die Argumentation selbst unmöglich zu machen.

Meine These liegt noch davor und besagt: wir SOLLEN den Selbstwiderspruch vermeiden, wir SOLLEN Vernunft und Logik anwenden. Und wenn ich vom Sollen spreche, dann deshalb weil ich eine gegenteilige Haltung durchaus für möglich halte. Die Verweigerung von Vernunft und Logik führt zu einer anderen Art des menschlichen Umgang miteinander: zum Rückzug voreinander, zur Verweigerung von Dialog, oft zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und der Welt, aber nicht selten auch dazu, dass Gewalt das einzige „Argument“ wird.

Habermas spricht von dem eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Jemand, der angemessene Argumente nicht akzeptiert, wird getadelt. Es liegt also eine Art ethischer Pflicht zur Argumentation, zur Sachlichkeit usw. vor, die jedem Argumentierenden abverlangt wird. Dazu gehört auch die Pflicht, logische Widersprüche weder zu dulden noch zu produzieren, die Pflicht zureichende Gründe zu liefern oder ggf. auch mangels Anhaltspunkten auf ein Urteil zu verzichten.

* Vorlesung vom 9.Dezember 1913