Labyrinth der Wörter

Labyrinth der Wörter-  Sinnen auf den Sinn

Ich habe mich im Leben verlaufen, es führt kein Weg zurück, eine Richtung ist nicht angezeigt und die Wegweiser sind undeutlich. In meinem Labyrinth begegnen mir Ungeheuer und Monster:

Jedes Wort kann mit jedem in überraschender Verknüpfung stehen, jedes Ding, jeder Tatbestand mit jedem. Wir sehen immer nur einen Teil des großen Netzwerkes unserer Welt. Poesie und Literatur ist die unerwartete Verknüpfung von Ausdrücken mit beabsichtigten aber unvorhersehbaren Folgen. Malerei bringt bildliche Verknüpfungen, Farben und Formen, Materialien und Ideen in einen festen Rahmen, die Skulptur kann nicht aus ihrer räumlichen Form heraus, die Sprache aber ist beliebig-dimensional - ihr Sinn oder Un-Sinn liegt nicht ein für allemal fest - wenn es das Ziel eines dadaistischen Gedichtes ist, zu verunsichern, Spaß zu machen und zugleich Querdenken anzuregen, dann ist das Lallen von Silben sinnbeladen.  Wenn ein Politiker zum Jubiläum der Feuerwehr lustlos aber mit Verve die Standardrede hält, die für jeden vorhersehbar war und keine neuen Elemente enthält, dann ist diese Rede ihren Sinn los, also sinn-los !

Das althochdeutsche Wort "sin" meint einen Weg, im übertragenen Sinne auch den Weg der Gedanken. Das dazugehörige Verb "sinnan" heißt, einen Weg machen, reisen. "Sinnen" heißt also, in der Welt der Gedanken reisen, in der Hoffnung, einen "rechten" Weg zu finden, "Sinn" zu entdecken. "Sinnen" kann ein Objekt haben, Wir sagen dann "auf etwas sinnen" und meinen "nach etwas trachten", vom althochdeutschen "trahton" abgeleitet und dem lateinischen "tractare" - ziehen, behandeln, überlegen - verwandt. Mit "Sinnen" verwandt ist das Verb "Besinnen". Es meint die Rückkehr vom Sinnen auf eine Richtung, auf ein Ziel. Meist wird es reflexiv gebraucht: "sich auf etwas besinnen" - dann schließt es ein Erinnern mit ein - oder einfach nur "sich besinnen", zum Sinn zurückfinden. Der "rechte" Weg hat eine Richtung, er ist gelenkt, lateinisch "rectus".

Die Welt des Geistes ist ein unendliches Labyrinth. Die Sprache bildet seine Mauern. Ein gewaltiger Minotaurus tobt in diesem Labyrinth. Wir wissen nicht, ob und wann er uns überrennt, auf die Hörner nimmt und unsere Reise beendet. Sinnend tasten wir uns durch die dunkelsten Winkel des Gedankenbaus. Ein "außen" gibt es für uns nicht : Generation für Generation bauen wir weiter an der Sprache - in neuem Baustil, mit altem Baumaterial - die Besten erweitern das unendliche Labyrinth in jede Richtung - stoßen aber damit nur zu den neuen Wänden vor, die von uns selbst errichtet wurden. Nicht, daß nicht auch Raum für einen modernen Daidalos bliebe. Die dritte, vierte und weiteren Dimensionen der Gedankengebäude sind weiträumig und lassen viel Luftraum für Höhenflüge. Aber es gibt keinen Landeplatz außerhalb des Labyrinths - Ikarus stürzt nicht ins weite Meer, das er überfliegen muß, sondern an eine andere Stelle des Labyrinths.

Einige Stellen im Labyrinth werden uns mit der Zeit vertraut. Wir bewegen uns dort mit einiger Sicherheit - wenn nicht gerade wieder einmal umgebaut wird oder der Minotaurus einbricht. Dorthin versuchen wir immer wieder zurückzukehren, wenn uns die Reise, das "Sinnen", vom gewohnten Ort fortgeführt hat. Der zuvor abgerollte Faden der Ariadne wird im "Besinnen" wieder aufgerollt und führt an den vertrauten "rechten Ort" zurück, an dem wir Wohnung nehmen.

Unser Labyrinth besteht nicht nur aus festen Mauern, es gibt dort Gärten, mit Pfaden, die sich verzweigen ("El jardín de los senderos que se bifurcan") -irgendwo mitten im Labyrinth soll es einen verschlossenen Garten geben - die Bäume des Lebens und der Erkenntnis sollen dort wachsen - aber es ist lange niemand mehr bis dorthin vorgedrungen. Es gibt im Labyrinth die große "Bibliothek von Babel" - unendlich und doch nur ein Teil des Universums, auch wenn manche sie allein als Universum bezeichnen.

Der Massentourismus hat auch in unserem Labyrinth keinen Halt gemacht. Manche Wege sind schon sehr ausgetreten von den vielen, die den Reiseführern nachtrotten. Auch der Individualtourismus ist schon ein Massenphänomen: obwohl die Reisenden voneinander nichts wissen wollen, suchen sie doch die gleichen Stellen auf, die ihnen Abwechslung und Schönheit versprechen. Selbst der Abenteuertourismus ist schon straff organisiert, damit sich niemand im Urwald des Geistes verliert und keiner sein Flugzeug zurück zum Ausgangsort verpaßt.

Aber irgendwo im Labyrinth trifft man sie noch an: die einsamen Wanderer, die immer neue Wege beschreiten, Mauern durchbrechen, neue Pfade eröffnen und die unbegrenzten Grenzen des Gedankengebäudes ausloten. Manche lassen sich als Einsiedler in einem fernen Winkel nieder, vergessen sich selbst und werden vergessen. Der ewige peregrinus aber zieht durch die Welt und begegnet dabei immer wieder anderen Pilgern auf dem Wege zum Altar des unbekannten Gottes.

Wenn wir uns auf den Weg machen, um die nähere Umgebung unseres Rastplatzes zu verlassen, um das Labyrinth auszuforschen, dann gesellen sich unversehens Höhlenführer zu uns, die uns anbieten, den richtigen Weg zu zeigen. Und die Führer verweisen uns auf andere Führer, weil auch sie nur einen begrenzten Raum kennen.  Die besten unter ihnen lehren uns zwischen guten und schlechten Führern zu unterscheiden und die Wegmarken zu deuten, die es allerorts gibt, die aber nicht ohne weiteres sich erschließen.

Aber niemand kennt alle Winkel der großen Höhle, keiner kann vorhersagen, was uns erwartet, wenn wir uns zu weit von dem vertrauten Gebiet entfernen. Es sind Einwohner völlig verlorengegangen, die den Raum der ewigen Ruhe und des himmlischen Friedens suchten, niemand weiß, ob sie gefunden haben, was ihnen ein ekstatischer Führer in den glühendsten Farben geschildert hatte. Sie waren willig gefolgt, gingen schmale gewundene Wege ohne Licht und Luft, vertrauend auf ihren Führer nie die Hoffnung auf die große Lichtung verlierend.

Einige Führer sind von allgemeiner Bekanntheit, weil sie von Generation zu Generation weiterempfohlen werden. Ihr Ruf schwankt, aber ihre Anziehungskraft erscheint zeitlos.  Vergil ist einer von ihnen, der schon den Augustus von seiner göttlichen Mission überzeugte und auch Dante durch Höhen und Tiefen führte, die keiner vor ihm sah und keiner und nach ihm besuchte.  Die meisten führten uns im Kreise, wohl heftig bis hin zu Haßgefühlen aufeinanderstoßend, wenn sie sich aus entgegengesetzter Richtung kommend in der Tiefe der lichten Höhen begegneten und feststellen mußten, daß sie den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung gingen.

Ich folgte manchen aus Gewohnheit, anderen auf Empfehlung. Mit der Zeit hatte ich einen inneren Kompaß entwickelt, der meinem Orientierungsvermögen eine große Stütze war, jedenfalls solange ich bereits bekannte Pfade durchschritt. Schrittweise und mit großer Vorsicht ging ich bei jedem Ausflug ein wenig über die Grenzen hinaus, die bisher für mich das Ende der Welt bedeutet hatten.  Durch helle und dunkle Gänge wanderte ich treppauf, treppab, traf auf weite prächtige Säle und dunkle Nischen, sprach zu Lebenden und zu Toten.

Platon führte mich ein Stück des Weges, ließ Sokrates für sich sprechen und leitete mich zu Parmenides. Doch sein Gleichnis von der Höhle  war zu einfach. War nicht jede Sonne, die ihre Schatten in die Höhle warf, am Ende wieder nur ein Lichtschacht gewesen, der in weitere Höhlen führte.  Nein - nicht angekettet warteten wir auf den Moment, wo uns einer von der Sonne erzählte, herumgetrieben und ewig auf der Suche wanderten wir selbst in unserem Labyrinth, den Minitauros wohl manchmal fürchtend, aber ihm zum Trotz doch immer weiter irrend auf ein unbekanntes Ziel zustrebend.

Sokrates verwirrte die Geführten, indem er sie an Weggabelungen führte und sie dort fragte, wohin zu gehen sei.  Parmenides bestand darauf, daß jeder zuerst einzusehen hatte, daß es nur eines gab: das Labyrinth und nichts außerdem. Das Labyrinth umfaßte alles und war ohne Anfang und ohne  Ende. Demokrit aber führte alles auf die elementaren Räume zurück, die ob groß oder klein, ob gestreckt oder niedirg, alle gemeinsam die räumliche Struktur hatten, 

Heraklit aber wies darauf, wie verschieden jede Wand, ja jeder Weg war, je nachdem von wo aus man ihn beschritt, mit welchem Geist man ihn anschaute und wer einem dort begegnete. Selbst gleiche Wege waren dann in andere verzaubert, niemand ging eigentllih den gleichnWeg zweimal, und wenn er sich fragte, wer er sei, dann war er auch nicht zweimal der gleiche, denn der ältere sah anderes als der gleiche Jüngere, an den er sich noch erinnerte einmal gewesen zu sein.

Immanuel Kant gab mir einen Kompaß mit, der recht zuverlässig schien.

Die Wände waren manchmal völlig mit Inschriften überdeckt, andere al fresco bemalt. Andere hatten dort über ihre Wanderungen berichtet, es war nicht so wichtig, ob sie nur von erdachten Wegen berichteten, denn es erfreute mich, die Berichte zu lesen und es half mir, meine Wege zu finden.

Mit der Zeit wurden meine Beine müde, manches, was mir in früheren Jahren als neu und aufregend erschienen war, verwandelte sich zum wohlbekannten Einerlei, die lange Weile wurde ein nicht seltener Begleiter. Meine eigenen Wanderungen führten häufiger als früher zum Ausgangspunkt zurück, sie waren vielleicht weniger mutig. 

Dafür verlegte ich mich mehr auf das ruhige Lesen der Inschriften und das Betrachten der Bilder. Ohne selbst alle diese Wege gegehn zu können, erschloß sich mir eine weitere Dimension des Labyrinthes. Im Raume war diese Dimension endlos, in der Zeit aber maßlos. Jedes geschaute Bild zeugte hundert weitere Bilder in mir, öffnete mir Höhlen, die für meine Schritte unerreichbar waren. Jede Inschrift schrieb sich in mir weiter, alle Buchstaben der Welt versammelten sich in mir und schrieben sich zu einem großen Buch zusammen. Ich sah nur das Aleph und wußte mich doch Eins vom Alpha bis zum Omega.

Ich erkante, daß hier viele der bekannten und unbekannten Führer ausruhten. Ohne weiter anzutreiben, luden sie auch mich zum Ruhen ein. Lao Dse gab mir ein Gedicht zur Reinigung der Seele, Buddha eine Lehre zum Vergessen des Körpers und Christus ein Licht zur Erhellung des Geistes. 

Ich erkannte, daß alle Führer Suchende waren. Sie suchten nach dem Einen, das die Vollendung bedeutete. Alle hatten andere Namen dafür, viele hatten unendliche Irrwege durchwandert. Sie alle hatten Verantwortung auf sich geladen, weil sie diejenigen, die sich ihnen anvertraut hatten, nicht halten konnten, sich in obskuren Ecken zu verlieren und sogar aufeinander einzuschlagen. Jahrhunderte waren hinter ihnen hergetrottet, bis sie ihre selbstverschuldete Gedankenlosigkeit erkannten und selbst nach Wegweisern suchten. Jahrtausende der Hoffnung und der Schuld lasteten auf ihnen und so saßen sie dort, bewegten sich kaum mehr von der Stelle und überließen anderen, neue Welten im Labyrinth zu entdecken.

Ich saß in meinem Zauberberg und versenkte mich in meine Innenwelt. Willkür beherrschte den Traum, die Logik war zerbrochen, die Welt stand kopf. Erneut las ich die Inschrift vom Dädalus, der die Maschine erfand, das Labyrinth zu verlassen, träumte dann von Ikarus, der in einem Labyrinth der Wolken schwebte und immer wenn er stürzte erneut von neuen Wolken umgeben war, farbigen Wolken, nicht nur weißen, grauen oder blauschwarzen, auch roten und grünen, gelben und violetten.

Meine Träume erreichten den Himmel und stürzten in die tiefste Hölle, und wenn ich wachte, dann wartete ich auf den nächsten Traum, während mir der nackte Boden der Tatsachen karg und öde wurde. Doch es war zu früh für den Tod und nichts anderes erwartete mich in dieser Höhle. Das ewig Weibliche zog mich hinaus.  Eine neue Wanderschaft begann, langsamer, bedächtiger als die erste.


Noch mehr Labyrinthe (18.12.94)

So kriechen wir auf unserem Globus herum, stochern auch schon mal in seine feste Hülle, nehmen am festen, flüssigen und gasförmigen Stoffwechsel teil und glauben, wer weiß was wir sind. Das minoische Labyrinth wurde nur weiter ausgebaut, aber nie vollendet. Der Minotaurus wurde zum Urvater vieler Minotauri.

Im Labyrinth der Zeit gibt es nur eine Richtung un die geht ins Ungewisse. Die hinter uns liegende Zeit liegt im Gewissen, aber versinkt im Nebel des Vergessens, die vor uns liegende kommt entgegen, ob wir nun gehen oder nicht ist nicht feststellbar. An jedem Punkt gabeln sich unendlich viele Wege, in jedem Moment werden sie verschlossen, jede Sekunde schlagen die Türen der Möglichkeiten vor uns zu, die Chancen einzutreten sind vertan, nur ein Weg bleibt und wohin man sich wendet, gibt es keine Umkehr, keinen anderen Weg mehr.

Es irrt der Mensch so lang er strebt, es verirrt sich der Mensch so lang er lebt. Das Labyrinth hat es an sich, daß die Orientierung verloren geht. Mancher hat eine Karte bei sich und glaubt, er wisse den Weg. Aber tatsächlich gibt es viele verschiedene Karten, die sich sogar gegenseitig widersprechen. Auch die Karten gehören zum großen Verwirrspiel.

Es gibt Momente, wo sich das Orientierungsvermögen kurzzeitig einstellt. Ganz nahe am Standort, vorausgesetzt die Bewegung ist nur gering, gibt es lokale Orientierung, aber sie reicht nicht weit. Führer bieten sich an, sie nennen sich Seher und sind normalerweise blind. Das erleichtert die Orientierung, weil die Blinden sich nicht verwirren lassen. Sie tappen im Dunklen und wissen das. Die anderen tappen im Dunklen und glauben es nicht.

Es gab einen, der hieß Stachelig - er suchte Gott. Und er fand ihn überall im Labyrinth. War der Raum gerade, so bewies dies more geometrico, daß Gott dort war, war der Raum krumm, bewies es das gleiche. Doch er hatte keine Jünger. Es gab einen anderen, Namenlosen, der sprach nur von Gott, als sei er bei ihm, er suchte nicht, weil er schon gefunden hatte, er zweifelte nicht, weil er sich sicher war. Und Jünger gingen mit ihm und lobten Gott.

Es gibt zwei Arten mit dem Labyrinth umzugehen, die einen wollen es erforschen, die anderen verändern. Diejenigen, die es verändern wollen, malen aber nur die Wände an und bewegen sich nicht von der Stelle, diejenigen, die erkennen wollen aber, reisen durch Welten und bleiben nicht lange genug, um etwas zu verändern.


Labyrinthe (17.6.95)

Manchmal treffen viele Wege aufeinander, von überall her kommen Leute und bleiben an der Kreuzung der Wege stehen. Sie gehen nicht mehr weg, denn die Kreuzung hält sie im Bann. Sie schlagen Nischen in die Mauern, vergrößern den Platz, auf den die Wege gehen und lassen sich dort nieder. Das Wegekreuz gibt den Eindruck der freien Wahl. Platzluft macht frei " - 

Uns scheinen viele Wege offen, nichts zwingt uns, gerade einen bestimmten zu nehmen. Zugleich wird das Leben unsicher, denn welchen Weg sollen wir denn nehmen, sollen wir denn überhaupt einen nehmen oder nicht lieber eine Befestigung bauen, damit niemand hinausgeht und nicht immer neue hineinströmen. 

Die schon da sind, kennen diese Gedanken, sie gehören zu uns, die neuen brauchen lange, bis sie alle diese Ideen, die jemandem nur kommen, wenn er mit vielen anderen gemeinsam auf dem Platz ist, verstehen. Wir Wissenden bilden eine Verschwörung der Vernunft - die uns nicht folgen, sind Unwissende, die nicht an unserem gemeinsamen Erbe teilhaben.