Essay über Ethik

Essay über Ethik

VON GBOOM · VERÖFFENTLICHT 4. SEPTEMBER 2015 · AKTUALISIERT 17. SEPTEMBER 2023

Sein und Sollen sind gleich ursprünglich

Die Sprache des Sollens ist gegenüber der Sprache des Seins gleich ursprünglich. Das bedeutet auch, dass das eine nicht aus dem anderen hergeleitet werden kann – also der naturalistische Fehlschluss keine Ethik begründen kann. Ethisches Verhalten ist ein Verhalten, das den Mitmenschen respektiert, ihn ernst nimmt, seine Würde achtet, das das Gute tut und das Böse lässt. So weit – so einfach. Es gibt viele philosophische Ansätze Ethik zu begründen, aber keiner davon befriedigt mich wirklich. Oft hört man den Einwand gegen manche Lösungsversuche, dass diese auch Dinge begründen könnten, die uns abstoßen – dass diese Begründung keinen Wall bilden gegen diese oder jene Handlungsweise, die wir kollektiv verurteilen. Aber der Wunsch nach einer wasserdichten Ethik, die sich nicht dem Bösen öffnet, ist Wunschdenken und keine Grundlage einer überzeugenden Argumentation.

Wir Menschen sind stammesgeschichtlich geprägt, unser Gehirn hat im Laufe der Evolution eine hohe Kapazität erlangt, aber es lässt nach wie vor auch grausames Verhalten zu, es erlaubt Egoismus, die Idee eines Nietzscheanischen Herrenmenschen kann ebenso das Produkt unseres Denkens sein wie ein humanitärer Altruismus. Und wenn sich einige dazu entscheiden, sich zu Herren ohne „Sklavenmoral“ aufzuschwingen, dann mögen wir entsetzt sein, aber was entsteht, ist nur eine andere menschliche Lebensweise, möglicherweise eine andere Gesellschaft. Solche Lebensweisen sind durchaus möglich. Die antiken Sklavenhaltergesellschaften haben hohe moralische Grundsätze gepredigt, aber Sklaven waren rechtlos und von der menschlichen Solidarität ausgeschlossen. Viele Heere sind über die Länder gezogen um Kinder zu rauben, Männer zu töten, Frauen zu schänden, ganze Bevölkerungen wurden ausgerottet oder versklavt. Wenn unser Vorstellungsvermögen ausreicht, könnten wir durchdenken, was für eine Gesellschaft wir heute hätten, wenn Hitler gesiegt hätte, eine gruselige, aber keine unmögliche Vorstellung.

Was ein ethisch gutes Verhalten ist, das ist weder in der Geschichte noch in der Gegenwart überall gleich definiert. Der Versuch einiger Theologen und Philosophen eine Weltethik aus den grundlegenden Auffassungen zu entwickeln, die in den meisten existierenden Religionen und Weltanschauungen übereinstimmen, hat bisher die Praxis nicht erreicht. Zu sehr weicht auch das individuelle Verhalten in der Praxis von dem ab, was die Religionen überwiegend predigen, als dass aus dem SEIN des SOLLENS der religiösen Vorschriften ein SOLLEN aller Menschen ableitbar wäre. Sind wir also zu einem ethischen Relativismus verdammt ?

Eine der ältesten Regeln für ethisches Verhalten ist die sogenannte goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tue, das füg auch keinem anderen zu!“ – Kants kategorischer Imperativ ist komplexer, aber auch hier wird ein hypothetisches Verhalten dem möglichen Verhalten anderer gegenüber gestellt, das hier durch eine hypothetische Selbstgesetzgebung verallgemeinert wird.

Nietzsche besaß die Frechheit diese Gegenseitigkeit aufzukündigen und offen für die Ungleichheit des Starken gegenüber dem Schwachen einzutreten. In seiner Arroganz nimmt der „Herrenmensch“ für sich in Anspruch ausdrücklich so zu handeln, dass andere keineswegs beistimmen würden, daraus ein allgemeines Gesetz zu machen – die anderen werden durch Ausübung von Macht und Gewalt dazu gezwungen, das Gesetz der Herren zu achten. Man mag Nietzsche unappetitlich finden, aber die Crux ist, dass es keine logisch zwingenden Gründe gibt, mit denen er widerlegt werden könnte. Im Gegenteil: die Geschichte zeigt, dass die Mächtigen zu Herrschenden wurden und oft mit Gewalt über die anderen herrschten und nicht mit den anderen.

Auch Machiavelli ist Unmoral vorgeworfen worden, auch er beansprucht aber nur die Tatsachen richtig und ohne Wunschdenken zu beschreiben.

Die Warnung vor einem naturalistischen Fehlschluss gilt auch hier: aus der Tatsache, dass Macht vielleicht sogar überwiegend vor Recht gegangen IST, rechtfertigt keinerlei Satz, dass das so sein SOLL.

Woher kommt dann der Befehl zum SOLLEN. Religiöse Menschen haben es da leicht: vor undenklichen Zeiten haben Götter oder ein Gott den Menschen die Gesetze des Zusammenlebens offenbart, meistens durch einen Propheten oder besonders begabten Priester, der fähig war, Gottes Wort unmittelbar zu hören und aufzuschreiben. Oder die Regeln werden nach dem Vorbild der Geschichten aufgestellt, die über das Leben der Götter und Heroen erzählt werden. Im antiken Griechenland wurde zwischen göttlichen und menschlichen Gesetzen unterschieden. Große Männer taten sich als Gesetzgeber hervor: Drakon mit seiner drakonischen Gesetzgebung, Lykurg, der Sparta seine ganz eigenen Gesetze gab oder der Zehnmänner-Rat, der das hergebrachte Gesetz Roms aufschrieb. Wenn Regeln sehr alt waren und „immer schon“ galten, dann bekommen sie eine besondere Weihe.

Mit der Philosophie und mit den Sophisten entstand eine neue Grundlage für das SOLLEN: das „gute Leben“, die „Nützlichkeit“ für das Volk und den Einzelnen boten Gründe. Mit der Erkenntnis, dass beides durchaus wandelbar ist und vom Standpunkt jedes einzelnen aus anders aussehen kann, entstand dann auch ein Relativismus der Ethik, der keinen festen Grund mehr unter den Füßen hatte.

Über Jahrhunderte mühten sich Philosophen ab, dem Relativismus zu entgehen. Manche schwache Position wurde akzeptiert, weil sie helfe, nicht in Relativismus zu verfallen. Wer Relativismus akzeptierte galt schlechterdings als unmoralisch.

Die Grenzen unseres Denkens, die Grenzen dessen, was wir wissen können, begrenzen nicht das, was wir hoffen können. Der utopische Entwurf unserer Zukunft, entworfen nach unseren Wünschen und Träumen, gibt der Hoffnung viel Raum. Wenn wir einmal wissen, was wir hoffen, dann können wir zumindest prüfen, ob unser SOLLEN damit vereinbar ist.

Auch ohne zu wissen, was die Quelle unseres Sollens ist, können wir zumindest die Kohärenz des Systems unserer Regeln und Gesetze prüfen. Gesetze sind gesellschaftliche Phänomene, und so ist die Tradition, in die wir lernend hineinwachsen, und die Konvention, an dessen weiterer Entwicklung jeder von uns ständig ein Stück mitwirkt.

Hobbes hat den Willen zur Selbsterhaltung jedes Menschen als eine natürliche Tatsache betrachtet, aus der sich unter Naturbedingungen der Kampf aller gegen alle ergebe. Erst durch Unterwerfung unter einen souveränen Gesetzgeber wird das Zusammenleben ermöglicht. Hobbes kann sich als Souverän nur einen absoluten Monarchen vorstellen, so etwas wie Volkssouveränität kennt er nicht.

Das Bestreben von Menschen sich selbst, dann auch ihre Familie und Freunde zu erhalten, ist wohl grundlegend für das, was ein Individuum als Grenze der Ethik erlebt: wenn die eigene Existenz in Gegensatz zur Existenz eines anderen gerät, dann wird die Selbsterhaltung in der Regel den Vorrang haben. Durch Mythen und Religionen wird dieses Prinzip durchbrochen. Wer die eigene Existenz im Jenseits, im Paradies, oder auch nur in den Heroengeschichten seines Stammes fortsetzen kann, ist möglicherweise bereit seine aktuelle Existenz in Frage zu stellen.

Selbsterhaltung und kategorischer Imperativ

In einer Gruppe oder Gesellschaft legen Menschen großen Wert, von ihren Mitmenschen geachtet zu werden. Ihr Selbstbild, die Empfindung ICH zu sein, ist schon von Kindesbeinen an, ein Spiegel des Bildes, das andere von ihnen haben. So findet sich im Spiegel der Achtung durch andere auch die Selbstachtung, die zu erhalten wiederum ein starkes Handlungsmotiv ist.

Der Wille zur Selbsterhaltung hat für sich allein keine ethische Qualität. Die Selbstachtung als Reflex der gesellschaftlichen Achtung muss nicht unbedingt auf ethischen Regeln beruhen. Doch jede Ethik muss sich den beiden Fragen stellen: SOLL jeder Mensch auf seine Selbsterhaltung hinwirken, soll er das individuell oder für seine Gattung tun, SOLL jeder Mensch seine Selbstachtung fördern und bewahren, soll er die Achtung durch andere zu einem Ziel seiner Handlungen machen ?

Die Selbsterhaltung ist einem Individuum zunächst gar nicht möglich: die Kindheit wird in Abhängigkeit von den Erziehern und der nahen Gruppe verbracht, später wird zwar die Abhängigkeit von der engsten Familie gelockert, aber nur eingetauscht gegen die Abhängigkeit von der arbeitsteiligen Gesellschaft. Den gegenseitigen Abhängigkeiten entgeht niemand, selbst ein Heiliger muss essen und trinken, selbst ein Monarch braucht Unterstützer. Die Selbstachtung ist auch ein Element der Abhängigkeit, weil sie immer auch von der Achtung anderer abhängt. Allerdings kann man sich dieser Abhängigkeit allmählich entziehen, wenn man den Weg wählt, eine fiktive Welt für sich aufzubauen und dort dann seine Selbstachtung abzustützen: so wie ein religiöser Sektierer, der seine Selbstachtung daraus bezieht, dass ihm die Achtung der Götter in seinem selbstgemachten oder überlieferten Götterhimmel genügt.

In unserer Gesellschaft ist die Achtung eines Menschen davon abhängig, ob dieser ethisch handelt. Wer das internalisiert hat, verliert durch unethisches Handeln auch seine Selbstachtung. Dann liegt es nahe, diese Selbstachtung wiederzufinden, indem man sich Subkulturen zuwendet, die andere Kriterien der Achtung und Selbstachtung haben. In Jugendbanden, wo Kraft und Gewaltfähigkeit, Tapferkeit und Geschicklichkeit auch bei Handlungen, die die Gesellschaft als kriminell betrachtet, die Achtung aller Mitglieder steigern, oder in politischen oder religiösen Sekten, wo die Mitglieder die Gesellschaft verachten und nur der Achtung verdient, der sich ganz den Zielen der Sekte verschrieben hat.

Der kategorische Imperativ, den Kant postuliert, stellt die Verallgemeinerungsfähigkeit der eigenen Handlungsmaximen in den Vordergrund. Doch Kant rechnet nicht mit einer Gesellschaft, die so heterogen ist, dass eine Verallgemeinerung an einer Vielzahl von Subkulturen scheitert, die ihre internen allgemeinen Gesetze haben und an denen ihre Mitglieder ihre Handlungsmaximen ausrichten. Der kategorische Imperativ funktioniert nur in einigermaßen homogenen Gesellschaften, wo es eine Übereinstimmung darüber gibt, was denn als allgemeines Gesetz gelten könnte.

Eine der ersten ethischen Grundsätze in der Geschichte der Menschheit ist die goldene Regel: „was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ Diese Regel der Gegenseitigkeit wird in fast allen Gemeinschaften anerkannt. Aber auch die goldene Regel hat oft nur eine begrenzte Reichweite. Eine hierarchische, ungleiche Gesellschaft ist immer auch schon eine Verletzung der goldenen Regel. Da gilt eher „quod licet Jovi, non licet bovi“: was dem Jupiter erlaubt ist, das darf das Vieh noch lange nicht. Urchristliche und kommunistische Lehren haben erkannt, dass Ungleichheit eigentlich die Menschenwürde verletzt und wollen sie deshalb abschaffen. Die meisten halten das für eine unrealistische Utopie. Aber bis in die Neuzeit hinein galt auch die Abschaffung der Sklaverei als unrealistisch, dennoch wurde das in hohem Maße durchgesetzt, auch wenn es immer wieder Reste davon gibt.

Slaverei gehörte über Jahrtausende zur menschlichen Gesellschaft dazu: dem Sklaven wurde das SELBST abgesprochen, so dass er weder Selbsterhaltung anstreben noch Selbstachtung haben konnte. Er wurde von seinem Herren „fremderhalten“ und verbraucht wie ein ökonomisches Gut, sein Wert war der Kaufpreis, durch sein Können konnte der Sklave Fremdachtung erwerben und so auch eine Illusion von Selbstachtung, die aber sofort dahin war, wenn der Herr das Können nicht nutzte oder sich zum Verkauf entschloss.

Heute betrachten wir Sklaverei als unethisch, ja als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – aber in der Antike und im Mittelalter war Sklaverei eine akzeptierte Institution. Allein dies zeigt schon, dass unsere Ethik sich gewandelt hat – also auch veränderlich ist. Heute gilt es als geradezu unmöglich die Sklaverei wieder einzuführen. Aber was war denn das Zwangsarbeitersystem der Nationalsozialisten, was war der stalinistische GULAG anderes als die Haltung großer Mengen von rechtlosen Arbeitssklaven. Wenn Freie versklavt werden, dann ist der erste Schritt, die Selbstachtung zu brechen – und genau so gingen die Schergen der Arbeitslager vor.

Das tatsächliche, „natürliche“ Verhalten der Menschen ist als Grundlage einer „naturrechtlichen“ Ethik völlig ungeeignet. Die meisten Menschen verhalten sich in den meisten Umständen eher gut, sie zeigen Empathie und handeln nach Maximen, die wir für allgemein anerkennenswert halten. Aber die „Kruste der Zivilisation“ ist dünn. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt zusammenbricht oder die Führung einer Gesellschaft in Hände von Menschen oder Subkulturen gerät, die eine eigene abweichende Ethik vertreten, dann kann die Barbarei schnell an die Stelle der Zivilisation treten.

Wenn weder der kategorische Imperativ noch die goldene Regeln zur BEGRÜNDUNG einer Ethik dienen können, warum SOLLEN wir dann ethisch handeln – ethisch im Sinne des Alltagsverständnisses unserer jeweiligen Gesellschaft ?

Es gilt als Fehler, als „naturalistische Fehlschluss“, das SOLLEN aus dem SEIN abzuleiten. Aber ich glaube, das ist ein „naturalistischer Kurzschluss“. Unser Weltverständnis von dem, was IST, und unser Verständnis von dem, was SOLL, erwerben wir gleich urspünglich durch das Aufwachsen in unserer Familie und Gesellschaft auf dem Substrat der Entwicklung unseres Gehirns. Auch die Wissenschaft beruht auf der intellektuellen Redlichkeit, auf der Fähigkeit zur Selbstkritik, auf der Anerkennung logischen Denkens – alles dieses gehört auch zum SOLLEN, bevor wir auch nur über SEIN in dieser Welt reden können (SOLLEN wir das überhaupt?).

So wie wir uns über unser Sein und die Welt täuschen können, so können wir uns auch über das Sollen täuschen. Unser Gehirn ist imstande uns eine ganz eigene Welt zu bauen, die nur schwer in die Welt der anderen passt. Der Druck auf Konformität, auf Kommunikationsfähigkeit in einer Gesellschaft ist sehr groß, aber Abweichungen – kreative wie zerstörerische – sind immer möglich. Also werden wir im Zweifel auf das Thema der Kohärenz (wenn diese nun sein SOLL) zurückgeworfen: wenn jemand bestimmte Handlungsweisen für ethisch gut hält, dann muss er oder sie auch die Konsequenzen verantworten konnen – also so etwas wie die Verantwortungsethik Max Webers vertreten. Aber selbst die Forderung nach logischer Konsistenz und Widerspruchsfreiheit wird nicht allgemein akzeptiert.

Ethik ist somit eine Grundlage für unser Handeln, die wir in unserer Gesellschaft erlernt haben, die uns Grundlage für Selbstachtung geworden ist und die wir mit anderen kommunizieren und teilen können. Womit wir nicht rechnen dürfen ist die räumliche Geltung für alle oder die zeitliche Unveränderlichkeit. Beides ist nicht zu haben. Eine starke Ethik und eine starke Gesellschaft bedingen sich gegenseitig. Und zu jeder Gesellschaft gehört auch ein gewisses gemeinsames Weltverständnis, das ebenfalls auf beides – Ethik und Gesellschaft – zurückwirkt.

Wenn Weltverständnis, Ethik und Gesellschaft sich gegenseitig bedingen, dann haben wir es mit einem rückgekoppelten System zu tun, wie es die Systemtheorie beschreibt. Die Systemkomponenten gehören zusammen und können mehr oder weniger stabiles Gleichgewicht sein. Durch Variationen und Veränderungen kommt es zu evolutionären Prozessen: Ethik, Weltverständnis und Gesellschaft entwickeln sich ständig weiter – auch die Emergenz neuer Gesellschaftsformen ist dabei möglich. Diese Weiter-Entwicklung ist nicht automatisch – wie im 19.Jahrhundert oft geglaubt – ein Fortschritt, sondern zunächst einmal wertfrei. Die Ethik ist Teil der Entwicklung, eine Metaethik zur Beurteilung der ethischen Entwicklung hat hier keinen Platz.

Was passiert, wenn verschiedene Gesellschaften aufeinanderstoßen, die sich unterschiedlich entwickelt haben und damit auch abweichendes Weltverständnis und eine abweichende Ethik haben ? Das ist in einer globalisierten Welt leicht der Fall. Durch Kommunikation erfahren beide Gesellschaften voneinander, aber sie verstehen sich möglichwerweise erst einmal nicht. Das unterschiedliche Weltverständnis sorgt für Missverständnisse, unterschiedliche Ethiken führen zu Konflikten. In solchen Fällen grenzen sich Gesellschaften erst einmal gegeneinander ab und beschränken die Kommunikation auf das, was möglich ist, in der Hoffnung, dass mit der Zeit das gegenseitige Verstehen wachsen könnte. Konflikte können die Abgrenzung so weit treiben, dass Verständigung noch schwerer wird und dass Gewalt an die Stelle von Dialog tritt. Die Anwendung äußerer Gewalt kann in letzter Konsequenz eine Gesellschaft zerstören – oft werden beide konfligierenden Gesellschaften Opfer eines gewaltsamen Konfliktes.

Ähnliche Probleme treten auf, wenn innerhalb einer Gesellschaft Subkulturen mit abweichendem Weltverständnis und Ethik entstehen. Solange die Gesellschaft sehr stark ist, kann sie mit einem gewissen Maß an Subkulturen umgehen, wenn die Abweichungen zur Ablehnung der Gesellschaft in den Subkulturen führen, kann dies Sprengstoff für die Gesellschaft werden und ihren Zerfall herbeiführen. Ich glaube, dass beispielsweise das Christentum den inneren Zerfall der antiken Gesellschaft mit herbeigeführt hat, so wie der Islam die Gesellschaft des oströmischen Reiches verwandelt hat, lange vor der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. In beiden Fällen lag in der Zerstörung auch der Keim einer Neuschöpfung, im Sinne der Evolutionstheorie sahen wir die Emergenz neuer Gesellschaften aus der Asche der vergangenen Kulturen.

Heute halten die meisten Menschen unsere westliche Gesellschaft zwar für alles andere als perfekt, wollen aber nicht ihre Zerstörung, sondern ihre Erhaltung und eine Evolution zu einer immer besseren Gesellschaft. Einige Gruppen finden unsere Gesellschaft nicht erhaltenswert, sondern halten ihre allmähliche, oder auch revolutionäre Zerstörung für die Voraussetzung einer besseren Gesellschaft. Zugleich haben alle westlichen Gesellschaften inzwischen Subkulturen, die zu ihrer Veränderung beitragen. Einwanderung hat dazu in sehr unterschiedlicher Weise beigetragen: in einem Mikrokosmos wie Berlin-Neukölln haben sich bespielsweise türkische Einwanderer relativ besser an die bestehende Gesellschaft angepasst als eingewanderte arabische Großfamilien. Eigentlich würde ich Angehörige von EU-Mitgliedsstaaten nicht unter die Rubrik Einwanderer fassen, zumal sie nur das Recht auf Freizügigkeit in der EU in Anspruch nehmen – aber auch in diesen Gruppen haben einzelne Subkulturen ausgebildet, andere nicht.

Kriminelle Organisationen aus den Herkunftsländern oder in Deutschland neu formierte kriminelle Gruppen können durch Terrorisierung von Einwanderern aus ihren Herkunftsländern Subkulturen schaffen, aus denen auszubrechen schwierig ist. Religiöse Spaltungen können ebenso wie Klassenspaltungen immer auch zu Subkulturen führen. Das war zeitweise, vor allem während des „Kulturkampfes“ Bismarcks gegen die katholische Kirche in Deutschland der Fall, die SPD bildete vor allem zur Zeit der Sozialistengesetze eine eigene Subkultur der „Arbeiterklasse“. Auch islamische Gruppen und christliche Sekten neigen dazu Subkulturen zu bilden, die sich ausdrücklich von der Gesellschaft insgesamt abgrenzen.

Eine Gesellschaft mit hoher Integrationskraft kann solche Subkulturen tolerieren, sie kreativ nutzen und so weit integrieren, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Wenn die Gesellschaft insgesamt schwach ist, dann drohen Konflikte mit und zwischen den Subkulturen. Wenn allerdings Subkulturen von der Ablehnung der Gesellschaft leben, daraus ihre Legitimation beziehen, und dann noch gewaltbereit sind, dann sind Konflikte vorprogrammiert – bis hin zu Bürgerkriegen.

Hans Otto Apel hat sich die Aufgabe gestellt, das Grundprinzip des Sittlichen – und damit die Ethik – als denknotwendig nachzuweisen. Dazu gehört aber wiederum die Annahme, dass Denken überhaupt notwendig sei. Apel arbeitet mit dem Satz des Widerspruchs, indem er die Denknotwendigkeit dadurch nachzuweisen glaubt, dass sonst ein Widerspruch mit vorverstandenen Grundannahmen über die condition humaine, über das Mensch-Sein entstünde. Genau das ist aber widerspruchsfrei bestreitbar, wenn nicht schon andere Grundsätze anerkannt sind – also handelt es sich am Ende um eine petitio principii. Er sieht die Verpflichtung zur diskursiven Konsensbildung als etwas, das durch sinnvolle Argumente nicht bestritten werden kann. Aber wer bestimmt, was sinnvolle Argumente sind ? Die Herstellung diskursiver Freiheit könnte durchaus der Friedenspflicht unterstellt werden, die eigene Beteiligung am öffentlichen Diskurs ist möglichwerweise eine systematische Überforderung fast jedes Menschen – und mancher, der sich damit nicht überfordert fühlt, ist vielleicht nur zu arrogant, dies zuzugeben.

Kritik der Diskursethik

Die Diskursethik, die vor allem mit dem Namen von Jürgen Habermas verbunden ist, aber auch mit Karl-Otto Apel, verarbeitet in großer Breite die vorausgegangenen Philosophie-Schulen, darunter auch den „linguistic turn“ der Philosophie und die Kritik an Kants methodischem Solipsismus. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns hat Habermas eindrucksvoll verschiedene Stränge der Philosophie – einschließlich systemtheoretischer Ansätze – zusammengeführt, die zuvor in fruchtloser Frontstellung gegeneinander gestanden hatten. Sein Theoriegebäude war zu seiner Zeit so gut fundiert, dass es heute so etwas ist, was die Juristen „die herrschende Lehre“ nennen. Um so wichtiger ist es, systematisch die Schwachstellen der Diskurstheorie auszumachen und zu kritisieren. Auch neue Erkenntnisse der Sozialforschung ebenso wie der naturwissenschaftlichen Forschung müssen dabei einbezogen werden.

Ob dabei am Ende auf dem großen Theoriegebäude von Habermas aufgebaut werden kann, oder ob ein neuer Wurf möglich ist, wage ich nicht vorherzusagen. Einerseits sollten wir eine Synthese von möglichst vielen Erkenntniswegen anstreben (die vielleicht sogar vergessene Denkwege aus der Philosophiegeschichte wieder aufnehmen), andererseits müssen wir dann die bereits getesteten Irrwege eliminieren und versuchen, die Theorie ohne sie weiterzuentwickeln. Mich interessiert besonders, was an Diskursen sowohl unter idealen als auch unter realen Bedingungen NICHT funktioniert, wie mit Missverständnissen und Fehlverhalten umgegangen werden kann ohne dabei gleich die Ethik über Bord zu werfen. Der auf sich selbst zurückgeworfene Grundsatz der Selbstachtung – Reflex der gesellschaftlichen Achtung, aber internalisiert im autonomen Individuum – scheint mir dafür ein Schlüssel zu sein.

Das ist ein Weg ins offene Meer, eine passende Metapher für die Unvorhersagbarkeit unserer Denkwege. Und dabei kann – um bei der Metapher zu bleiben – ein Kompass zwar immer noch helfen, aber heute orientieren wir uns dann doch eher mit Hilfe der viel komplexeren Satelliten-Navigation. So wie der Kapitän sich heute auf die Zuverlässigkeit der Satellitenbetreiber, die Funktionsfähigkeit seiner Geräte und die Richtigkeit dessen, was diese anzeigen, verlassen muss, bevor er seinen Kurs festlegt, so muss heute ein Philosoph sich auf die Erkenntnisse moderner Wissenschaften einschließlich der Hirnforschung verlassen, bevor er sich an seinen Zielen orientieren kann. Natürlich kann man auch jemanden, der Satelliten auf eine Umlaufbahn schießen kann, der dann auch noch Navigationsgeräte entwickeln, bauen und testen kann, anschließen auch einmal zum Kapitän machen – in einer arbeitteiligen und komplexen Gesellschaft gilt das zu Recht als höchst unwahrscheinlich. Auch kann ein Hirnforscher Philosophie betreiben und ein Philosoph Hirnforschung – aber betrachtet man wie viele Fachgebiete von der Molekularbiologie, Biophysik und Biochemie bis zur Nanotechnologie, Neurologie und Chirurgie das umfasst, dann wird klar, wie schwierig es auch in diesem Falle ist, die Arbeitsteilung zu überwinden.

Niccolo Machiavelli gilt gemeinhin als Verteidiger einer moralfreien Staatsraison. Max Weber hat erkannt, dass das so nicht stimmt: Machiavelli vertritt eine Position, die Weber als Verantwortungsethik bezeichnen würde. Machiavelli sieht die Überlebens- und Friedenssicherung als ein wichtiges Ziel an. Gerade heute sind beide Ziele außerordentlich wichtig und moralisch alles andere als irrelevant. In seinem Buch über den Fürsten spricht er davon, dass der Herrscher klug wie ein Fuchs und mächtig wie ein Löwe sein muss, wenn er die Wölfe in Schach halten will. Heute sind Politiker zumindest in Demokratien keine Herrscher mehr, sondern eher – wie Helmut Schmidt es einmal formulierte – wandelnde Vermittlungsausschüsse. Sie müssen heute mehr listige Füchse sein, Löwen sind nicht gefragt (vielleicht war Winston Churchill der letzte Löwe der modernen Demokratien). Die Wölfe haben von den Füchsen die Verstellung gelernt, kein Wunder bei einer so langen Symbiose. Aber die Wölfe, die es in Schach zu halten gilt, die Störer des Friedens und diejenigen, die unsere Sicherheit und unser Überleben bedrohen, sind deshalb nicht etwa verschwunden.

Thomas Hobbes vergleicht die Menschen mit Wölfen, die als anomische, sich gegenseitig zerfleischende Meute betrachtet werden. Tatsächlich ist das eine Verleumdung der Wölfe, wie Zoologen uns versichern. Aber das muss ja nicht zugleich eine Verleumdung der Menschen sein, die bewiesen haben, was sie sich unter geeigneten politischen Bedingungen gegenseitig anzutun bereit sind. Hobbes geht davon aus, dass Menschen durchaus rational denken können und deshalb Vorteile und Nachteile ihres Verhaltens abwägen, seine Vertragstheorie geht vom Vorrang des Interesses eines jeden an seiner Selbsterhaltung aus. Seine Folgerung daraus ist, dass Schutz und Kontrolle der Menschen einem Souverän anvertraut wird, Hobbes Vorstellungsvermögen sieht dabei offenbar einen zeitgenössischen absoluten Monarchen als Paradigma eines Souveräns. Seit der französischen Revolution ist von Volkssouveränität die Rede – aus der Sicht von Hobbes sicher ein unmögliches Ding. Aber für den Kern seiner Theorie, dass Menschen unter den Bedingungen der Anarchie und Gesetzlosigkeit nicht sicher sind und selbst ihr Überleben ständig in Gefahr ist, gibt es heute in vielen Teilen der Welt genügend Anschauungsmaterial.

Wölfe in Schach halten, Anarchie verhindern – das gehört heute auch zu den Vorstellungen einer traditionellen konservativen Ideologie, die für „law and order“ in einem starken Staat eintritt, der dafür auch schon einmal individuelle Grundrechte einschränken und persönliche Interessen zurückdrängen muss. Der klassische Liberalismus verlangt vom Staat das Gleiche, nur dass er sich auf diese Kernaufgaben beschränken soll ohne die Freiheitsrechte der Individuen zu beeinträchtigen. Anarchisten setzen dem entgegen, dass die Herrschenden selbst die Wölfe sind und mit Abschaffung von Herrschaft und Staat erst das Paradies ausbricht, wo es Wölfe gar nicht mehr gibt (die sind von Anarchisten vorher mit Bombenanschlägen weggeräumt worden) – oder die Wölfe sich von paradiesischen Erdbeeren ernähren. Im Übrigen streiten sich die anderen Ideologen verschiedener Couleur eher darüber, wer denn die Wölfe sind, die man in Schach halten müsse.

Rene Descartes hat mit seinem methodischen Zweifel das moderne Denken maßgeblich begründet. Er gelangte zu dem Schluß, dass er alles und jedes bezweifeln könne, nur nicht die Tatsache, dass er denkt und dass er es ist, der da denkt. Descartes hat daraus keine Moraltheorie abgeleitet. David Hume hat festgestellt, dass aus dem Sein in der Natur kein Sollen im menschlichen Handeln ableitbar ist, dass Normen nicht auf Fakten gegründet werden können. Er weckte Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“, wie dieser es selbst nannte.

Immanuel Kant hatte ein weitaus optimischeres Menschenbild als Machiavelli oder Hobbes. Als vernunftbegabte Wesen sind Menschen prinzipiell fähig zur Mündigkeit auch in Fragen der Ethik und Moral. Sie können ihr Handeln an verallgemeinerungsfähigen Gesetzen orientieren – und das setzt ja eine Gemeinschaft vernünftiger Menschen voraus, auf die sich die Verallgemeinerung bezieht. Diese findet aber bei Kant in einem leeren Raum statt. Jeder Mensch muss die Frage, welche Maximen denn geeignet wären als ein allgemeines Gesetz zu gelten, letztlich mit sich selbst ausmachen. Aber wenn Kant Aufklärung als „Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnet, dann ist darin auch ein Erziehungsgebot enthalten. Die Menschen SOLLEN mündig werden – und das impliziert auch: sie sollen zur Mündigkeit erzogen werden. Kant spricht das nicht aus, weil er Moral und Ethik als eine in den menschlichen Individuen existierende Tatsache ansieht, nicht als etwas, das mit jedem Erziehungsprozess wieder neu formiert wird.

Die Fortführung der Gedanken Kants liegt nahe: Im Sinne der Aufklärung ist die Erziehung der Individuen zur Mündigkeit von Kindesbeinen an zu fordern. Die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maximen in Form allgemeiner Gesetze kann durch eine individuelle Selbstprüfung nicht erreicht werden. Vielmehr erfordert sie einen Dialogverfahren, einen öffentlichen politischen Diskurs. Insofern ist die Diskurstheorie zugleich Kritik und Weiterentwicklung der Ideen von Kants. Auch die Frage, wie die Erziehung zur Mündigkeit am besten erreicht werden kann, ist ein wichtiger Gegenstand des Diskurses, eben so wie der Metadiskurs darüber wie ein Diskurs seine Funktion der Entscheidungsfindung unter mündigen Bürgern überhaupt erfüllen kann.

Allerdings sehe ich keinen Gegensatz zwischen der individuellen Selbstprüfung und der dialogischen Prüfung im öffentlichen Diskurs. Beides ergänzt einander. Im Grunde findet jeder tatsächliche Diskurs nur in einer begrenzten Gruppe statt, die „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ kann sich fiktiv ja sogar in der Vorstellungswelt eines erfahrenen und empathischen Individuums befinden. Ich halte den Begriff der „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ für ein fragiles, theoretisches Konstrukt, das in der realen Kommunikationsgemeinschaft keine Entsprechung hat.

Die reale Kommunikationsgemeinschaft ist auch Teil der realen Gesellschaft wie sie historisch entstanden ist, als Ergebnis von Evolution (und Revolutionen), der Diskurs findet statt in Gruppen, von denen jede ihr eigenes Weltverständnis hat und die gelegentlich gar keine gemeinsame Gesprächsgrundlage haben. Da die Vorstellungen von der physikalischen und der moralischen Welt in den jeweiligen Gehirnen entstehen, geprägt von der umgebenden, erziehenden und auf Konformität drängenden Gemeinschaft, sind diese Vorstellungen auch offen für Sektierertum, Fanatismus, Dummheit, Eitelkeit, Elitismus und andere allzumenschlichen Herangehensweisen an den Dialog mit anderen. Die ideale Kommunikation wird so weniger zu einer Instanz ähnlich dem Gewissen als eine Forderung nach bestimmten Formen des Diskurses. Fairness, Aufrichtigkeit, intellektuelle Redlichkeit, Anerkennung von logischen Schlussregeln und Respekt vor dem Gesprächspartner sind Grundlagen des Diskurses, die in keinem Regelwerk stehen, sondern Ergebnis von menschlicher Evolution, gesellschaftlicher Entwicklung und individuellen Lernens sind.

Kant hat keinen Begriff von Evolution – Darwin war noch nicht geboren. Die Gegenseitigkeit der Verständigung in einem möglichst herrschaftsfreien Diskurs ist erst mit der Diskurstheorie in vollem Umfang thematisiert worden. Doch reicht die gegenseitige Verständigung nicht aus: die beidseitigen Hoffnungen, die jeweiligen Erwartungenj an den anderen, die Erfahrungen miteinander und am Ende die Gegenseitigkeit des Handelns sind notwendig, damit der Dialog nicht als folgenlose und damit sinnlose intellektuelle Übung verstanden wird.

Die Diskursethik sieht als Grundnormen diejenigen Regeln an, die von allen am herrschaftsfreien Diskurs beteiligten anerkennungsfähig sind. Und zu beteiligen sind dort alle „Betroffenen“. Die Schwierigkeit besteht darin, wer denn darüber urteilen soll, was „anerkennungsfähig“ ist, und darin, wer denn behaupten darf, betroffen zu sein und wer nicht. In Berlin gab es über die Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof eine Volksabstimmung. Die Bebauung wurde abgelehnt. Alle Berliner durften mitstimmen, so auch Berliner aus Frohnau, die man schwerlich als „Betroffene“ bezeichnen kann, während Brandenburger, die relativ nahe an Tempelhof gleich südlich von Berlin wohnen, und die vieleicht ein Interesse gehabt hätten, näher an ihre Berliner Arbeitsplätze zu ziehen, kein Stimmrecht hatten. Wer satt und zufrieden ein Häuschen oder eine eigene Wohnung hatte, durfte ebenso mitvotieren wie Wohnungssuchende. Diejenigen aber, denen in demokratischer Wahl das Vertrauen auf Zeit ausgesprochen wurde, diese Frage sorgfältig im Abgeordnetenhaus zu prüfen, alle Vor- und Nachteile abzuwägen und dann nach Anhörung aller „Betroffenen“ verantwortungsbewusst zu entscheiden, waren dann an das Ergebnis einer Volksabstimmung gebunden, die alle diese für ein Parlament geltenden Sorgfaltspflichten verletzt hatte, weil das eben beim „Volk“ so nicht vorgesehen ist.

Das Grundsatzproblem, dass Wahrheit auch dann Wahrheit bleibt, wenn sie niemand anerkennt, wird durch Konsens über Anerkennungsfähigkeit jedenfalls nicht aus der Welt geschafft. Natürlich kann man einwenden, was denn so eine Wahrheit ist, die derzeit niemand erkennt – ein Phantom, ein Ding-an-sich ? Aber so einfach ist das nicht: anders als Kants Ding-an-sich, das prinzipiell unerkennbar ist, kann sich eine unerkannte Wahrheit durch Nachforschung, sorgfältige Wahrheitssuche oder auch Zufall und neue Erkenntnisse später herausstellen. Das bedeutet ja nicht, dass sie erst im Moment der Auffindung zur Wahrheit wird.

Die Diskursethik befasst sich mit der idealen Situation eines gleichberechtigten Diskurses zwischen mündigen Bürgern. Wo aber hat dort der Dialog zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Erzieher und Aufwachsendem seinen Platz ? Oder das Gespräch mit einem „Experten“, der im Rahmen der Arbeitsteilung Wissen erworben hat, das abgefragt wird ? Beide Diskurse wären ja dann autoritäre Gespräche und damit vielleicht unethisch. Es sind ja die Lehrer und Erzieher, die in einem Heranwachsenden viele Vorstellungen einpflanzen, die später das Bild von der Welt und vom Menschen bestimmen. Als Erwachsene sind die meisten Menschen in der Religion, in der nationalen oder familiären Tradition fest eingebunden, die durch die Erziehung auf sie gekommen ist. Das Ergebnis der Erziehung ist fest als Erfahrung in seinen Hirnstrukturen verankert. Es ist keine feste Verdrahtung, wie man zeitweise glaubte, sondern sehr flexibel. Da das Lernen nie ganz aufhört, ist es durchaus möglich, den frühen Prägungen in gewissen Maßen zu entkommen, aber dies kostet eine große Anstrengung und wird von der traditionellen Gemeinschaft in der Regel mit Sanktionen belegt.

Diese Vorprägungen sind weit mehr als das von Gadamer beschriebene Vorverständnis, das jedem Verstehen eines anderen vorausliegt. Wenn eine Gruppe mit unterschiedlichen religiösen oder atheistischen Prägungen aus der Kindheit in einen realen Diskurs tritt, dann ist das Missverständnis eher die Regel und das Verstehen die Ausnahme. Das gegenseitige Verstehen wird sozusagen ausgehandelt, indem jede Seite sich an die andere herantastet und sich nimmer wieder rückversichert, ob etwas wirklich verstanden wurde. Erst auf des Grundlage einer so gefundenen gemeinsamen Sprache kann dann der eigentliche Diskurs beginnen – vor dem Handeln steht das Verhandeln.

Der Diskurs findet im Medium der Sprache statt – dort kann ein Mensch gegenüber allen Beteiligten seine Standpunkte mit Argumenten verteidigen. In seiner Vorstellung kann er seine Argumentation so führen, dass er glaubt, auch über den Kreis der Beteiligten hinaus eine ideale Kommunikationsgemeinschaft überzeugen zu können – aber das bleibt ungestestet. Wenn dann alle nach dem Diskurs in die Routine des alltäglichen Handels zurückkehren, dann stellen viele fest, dass eines geredet, aber etwas anderes getan wird. Die Handlungen reflektieren nicht oder nur teilweise das Ergebnis der Diskurse. Wenn dort durch Konsens Ergebnisse erzielt wurden, und diese in Vereinbarungen festgehalten sind, dann kommt eigentlich erst jetzt der entscheidende Schritt: die Vereinbarungen müssen auch durchgesetzt werden. Wenn das nicht geschieht, geht das Vertrauen in das Instrument des Diskurses verloren.

In vielen Fällen ist ein solches gegenseitiges Vertrauen auch schon bei Beginn eines realen Diskurses nicht vorhanden – es muss dann erst mühsam erworben werden. Dann werden Vereinbarungen noch klarer fixiert. Beide Seiten legen dann großen Wert darauf, dass niemand übervorteilt wird. Gegenseitigkeit ist dann das Stichwort: Vertrauen gegen Vertrauen – und wenn es gebrochen wird: Misstrauen gegen Misstrauen. Dann kommen Machtunterschiede ins Spiel: wenn beide Seiten die Fähigkeit haben, mit sehr ähnlichen Folgen für einen Vertrauensbruch zu drohen, dann ist Gegenseitigkeit eher herstellbar, als wenn es große Unterschiede im Machtpotenzial gibt.

Ethik hat deshalb das primäre Ziel, eine Fremdbindung an ethische Prinzipien zu erreichen, die einem ermöglichen, ohne Angst vor anderen zu leben und auf Solidarität anderer rechnen zu dürfen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist das Individuum bereit auch seinerseits eine Selbstbindung vorzunehmen, damit andere bereit sind, im Gegenzug ebenfalls eine solche Selbstbindung vorzunehmen. Wenn aber die Fremdbindung – die Verpflichtung des anderen – auf die Ethik nicht gelingt, dann geht auch der Selbstbindung die Grundlage verloren. Das gilt auch für die Etablierung eines Diskurses. Die Regeln dafür müssen durch gegenseitige Selbstbildungen für jeden zu einer Fremdbindung der anderen für jeden individuellen Teilnehmer führen.

Nun könnte der Diskursethiker einwenden, dass er ja nie behauptet habe, dass der herrschaftsfreie Diskurs in einer idelaen Kommunikationsgemeinschaft einen realen Diskurs abbilden würde. Nur muss sich ja jede Ethik mit dem befassen, was tatsächliche Probleme sind, sonst wäre sie irrelevant. Kann die Diskursethik dann vielleicht Maximen anbieten, nach denen ein realer Diskurs stattfinden SOLLTE. Das ist sicher so, aber niemand kann garantieren, dass die jeweilige reale Kommunikationsgemeinschaft diese Maximen auch anzuwenden bereit ist. Voraussetzung der Anwendung ist nämlich genau das gegenseitige Vertrauen, das in realen Situationen so oft fehlt. Zur Vertrauensbildung können soziale Mechanismen eingerichtet sein – oder werden ad hoc eingerichtet. Es gilt immer wieder eine klare Assymmetrie: Vertrauen gewinnen kostet sehr viel Zeit, es zu verlieren nur einen kurzen Augenblick.

Ein weiteres Charakteristikum realer Kommunikationsgemeinschaften ist, dass sie in weiten Teilen Generationsgemeinschaften sind. Verschiedene Generationen teilen sich zwar die Erde, kommunizieren aber nicht in der gleichen Weise miteinander wie dies innerhalb einer Generation geschieht. Dabei ist die Zugehörigkeit zu einer Genereation nicht vom Alter abhängig, sondern auch eine Frage der Sozialisation, aber der bekannte Generationenkonflikt ist nur ein Zeichen dafür, wie unterschiedlich die Kommunikationsweisen sein können. Es ist der Wechsel von dem ungleichen Lehrdialog und dem autoritären Erziehungsdialog zum Dialog unter mündigen Gleichen, der den Generationssprung verursacht: Menschen tun sich schwer mit ihren Lehrern in einen Diskurs unter Gleichen einzutreten.

Eine besondere Herausforderung entsteht, wenn die Voraussetzungen eines idealen Diskurses definitiv verletzt werden. Habermas sagt: „Auch an der Art dieser Fehlschläge erweist sich die Rationalität einer Äußerung – Fehlschläge können erklärt werden“ (Theorie des kommunikativen Handelns, S.29). Aber das geht nur, wenn solche Fehlschläge nicht wegerklärt werden, weil sie peinlich sind.

„Mit dieser kommunikativen Praxis vergewissern sie sich zugleich ihres gemeinsamen Lebenszusammenhangs, der intersubjektiv geteilten Lebenswelt“(Theorie des kommunikativen Handelns, S.32). Wenn dieser gemeinsame Lebenszusammenhang nicht vorhanden ist, oder wenn er zerbrochen ist, dann steht es schlecht um die Möglichkeit eines Diskurses.

Habermas führt den Begriff der Lebenswelt so ein wie er in den vergangenen Jahrhunderten in europäischen Ländern vielleicht feststellbar war: „An dieser Stelle kann ich den Begriff der Lebenswelt zunächst als Korrelat zu Verständigungsprozessen einführen. Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. (Theorie des kommunikativen Handelns, S.107). Diese Lebenswelt kann pluralistisch sein, sie kann in sich Gegensätze und Widersprüche enthalten, aber es bedarf eines Grundbestandes gemeinsamer Hintergrundüberzeugungen. Wenn diese aber nicht vorhanden sind und zwei oder mehr Lebenswelten nebeneinander existieren, die nicht ohne weiteres vereinbar sind und womöglich auf entgegengesetzten Hintergrundüberzeugungen beruhen, was dann?

Zu Recht bemerkt Habermas: „Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen.“(Theorie des kommunikativen Handelns, S.107). Was aber, wenn in einer neuen Generationen vollständig mit den Traditionen gebrochen werden soll ? Nun, das ist vielleicht sehr unwahrscheinlich ! Aber wenn eine neue Generation von Einwanderern ihre Lebenswelt aus ihrer ursprünglichen Heimat mitbringt und die vorangetane Interpretationsarbeit IHRER vorangegangenen Generationen gespeichert hat, dann kann ein solcher Gegensatz entstehen.

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren es vor allem Glaubensüberzeugungen und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebensweisen, die die Menschen bis hin zum Bürgerkrieg trennten. Weit stärker als alle konfessionellen Unterschiede im christlichen Europa war der Gegensatz zur Lebenswelt des Islam, vor allem wenn dieser als Eroberer auftrat und die traditionelle Lebenswelt der eroberten Völker gewaltsam vernichtete und eine neue an dessen Stelle setzte. Ähnlich gewaltsam war die Konfrontation der Lebenswelten der europäischen Eroberer gegenüber der Lebenswelt der Urbevölkerung auf dem amerikanischen Kontinent. Die Spanier hinterließen noch parallele Lebenswelten als Restbestände, in Nordamerika blieb auch davon wenig übrig.

In einer entgrenzten Welt stoßen heute die verschiedenen Lebenswelten unvermittelt aufeinander. Grenzen trennen diese Welten nicht mehr voneinander. Das Konfliktpotenzial ist hoch. Früher wurden fundamentale Konflikte an den Grenzen ausgetragen, heute in den Städten und Vorstädten in Europa.

Habermas bemerkt: „In Verständigungsprozessen gehen wir heute von denjenigen formalen Gemeinsamkeitsunterstellungen aus, die notwendig sind, damit wir auf etwas in der einen objektiven, für alle Beobachter identischen bzw. auf etwas in unserer intersubjektiv geteilten sozialen Welt Bezug nehmen können.“(Theorie des kommunikativen Handelns, S.82).

Das weist darauf hin, dass es trotz unterschiedlicher Lebenswelten Berührungen gibt, die in der gemeinsamen sozialen Welt liegen. Das war für lange Zeit vor allem die Arbeitswelt, die Arbeit am gemeinsamen Arbeitsplatz, gleiche Probleme im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wirkten integrativ. Die Wohnwelten allerdings leisten diese Integration immer weniger. Vor allem dann, wenn Menschen einer Lebenswelt sich in bestimmten Wohnvierteln sammeln und von anderen abgrenzen – was zugleich auch Ausgegrenzung erleichtert – , dann kann es zu einem „Auseinanderleben“ kommen. Ein Diskurs wird nicht nur nicht geführt, er wird von beiden Seiten aktiv vermieden, oft auch von der einen oder der anderen Seite trotzig verweigert.

Habermas: „Von Diskursen will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruches die Teilnehmer konzeptuell zu der Unterstellung nötigt, dass grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei „grundsätzlich“ den idealisierenden Vorbehalt ausdrückt: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte.“(Theorie des kommunikativen Handelns, S.71). Der vom damaligen Innenminister Schäuble eingeleitete Islamdialog war ein Versuch, einem solchen Diskurs einen institutionellen Rahmen zu geben. Es war ein vernünftiger Ansatz, der genau davon ausging, dass prinzipiell Einverständnis erzielbar sein sollte. Bei allen Kontroversen entsprach auch der Verlauf des Dialogs dem Verständnis eines Diskurses wie ihn Habermas beschrieben hat. Aber der Diskurs geriet in eine Sackgasse, weil gegenseitiges Vertrauen letztlich nicht entstand.

Natürlich weiß Habermas: „In der philosophischen Ethik gilt es keineswegs als ausgemacht, dass die mit Handlungsmormen verknüpften Geltungsansprüche, auf die sich Gebote oder Sollsätze stützen, in Analogie zu Wahrheitsansprüchen diskursiv eingelöst werden können. Aber im Alltag würde sich niemand auf moralische Argumentattionen einlassen, der nicht intutiv von der starken Voraussetzung ausginge, dass im Kreise der Betroffenen grundsätzlich ein begründeter Konsens erzielt werden kann.“(Theorie des kommunikativen Handelns, S.39).

Diese Annahme muss aber nicht der Wissenschaftler oder Theoretiker machen, sondern die Teilnehmer am Diskurs selbst. Wenn dann die Überzeugung Boden gewinnt, dass grundsätzlich einm begründeter Konsens nicht möglich ist, dann sind die Geltungsansprüche nicht mehr diskursiv einlösbar. Innerhalb des Islam haben fundamentalistische Auffassungen und Lebensweisen an Gewicht gewonnen. Die Ablehnung solcher Lebensweisen durch die Mehrheitsgesellschaft strahlt auch auf die Anhänger eines gemäßigten Islam aus, die sich damit zu Unrecht identifiziert und ausgegrenzt fühlen. Nur ein kleiner – aber wachsender – Teil der Moslems in Deutschland ist gewaltbereit, aber die Zahl derer, die in einer anderen Lebenswelt aufwachsen und leben wollen, ist erheblich.

Wenn das Zusammenleben auch mit denen in unserem Lande gestaltet werden soll, die in einer eigenen, uns fremden Lebenswelt verharren wollen, dann wird der Diskurs schwierig. Argumente greifen nicht, wenn nicht wenigstens ein Minimum an gemeinsamen Grundüberzeugungen dafür eine Basis geben.

Deshalb ist es für die Zukunft unserer Gesellschaft wichtig, dass auch Kinder und Jugendliche von nicht integrationswilligen Moslems lernen, mit uns im Diskurs zu argumentieren. Habermas sagt: „Das Konzept der Begründung ist mit dem des Lernens verwoben. Auch für Lernprozesse spielt die Argumentation eine wichtige Rolle.“ (Theorie des kommunikativen Handelns, S.39).

Dafür müssen wir dann auch bereit sein, diesen Diskurs aufzunehmen. Das Trennende kann nur überwunden werden, wenn aktiv Verbindendes gestaltet wird – und das Verbindende kann nur eine Form des Verfassungspatriotismus sein. Alle am Diskurs beteiligten Seiten müssen akzeptieren, dass auch die Pluralität von Lebensweisen und Auffassungen über die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft von rationalen Diskursen abhängt. Die dazugehörige intellektuelle Redlichkeit, die moralischen Universalien, die Diskurse an Stelle von Zwang und Gewalt setzen, die demokratische Grundordnung, die das Zusammenleben bestimmt, alles das muss erlernt werden. Dies wird nur noch selten im Elternhaus vermittelt, um so wichtiger ist es, dafür andere Lernorte zu schaffen.

Jede Ethik ist nach meiner Auffassung gleich ursprünglich erlernt wie die Weltsicht auf die natürliche Umwelt und physikalische Gegenstände. So wie ein Kind lernt, was ein Haus, ein Baum, ein Stuhl oder ein Tisch ist, so lernt es auch, was gut und böse ist, was man darf und was man nicht darf. Auch der Umgang mit anderen Menschen wird erlernt. Das Vorbild der Eltern und engsten Verwandten, später der Altersgenossen, prägt das soziale Verhalten schon früh. Natürlich gibt es auch individuelle Charakterzüge, die sich nicht einfach auf die Erziehung zurückführen lassen. Eltern wissen wie verschieden Geschwister sein können, auch wenn sie im gleichen Umfeld erzogen werden. Dennoch sind es die Erzieher im weitesten Sinne, die als erstes auf die Weltbilder der noch prägsamen Kinder einwirken.