Orwell 1984 Newspeak

George Orwell – 1984 – Newspeak / Neusprech


VERÖFFENTLICHT 26. JULI 2022 

Die Warnung Orwells gilt auch heute noch!


„1984“ ist ja nur ein Roman, und 1984 ist längst Geschichte. Zum Glück kam es doch etwas anders als es sich Orwell in seinen Alpträumen vorgestellt hatte. Aber es war eine „mögliche Welt“. Der Roman hatte aufgerüttelt und vielleicht manchen veranlasst, das menschenmögliche zu tun, um die Orwell-Welt zu vermeiden und bessere Möglichkeiten offenzuhalten.

Der Roman ist es wert, immer wieder gelesen zu werden, gerade auch, weil er heute in einem neuen Licht erscheint. Die Gefahr kommt in neuem Gewand, aber sie kommt.

„Worin alle Aufzeichnungen übereinstimmten war: die Lüge ging in die Geschichte über und wurde zur Wahrheit.“ – heißt es in „1984“. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft“, lautete der Slogan der Einheitspartei, und „wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“. Alles, was gebraucht wurde, war eine unendliche Reihe von Siegen über das eigene Gedächtnis: auf Newspeak / Neusprech hieß das „doublethink“ / „Doppeldenken“.

Ich weiß nicht, ob viele aus der jüngeren Generation Orwells Roman gelesen haben. Die Herrschaft der Lüge bricht an. Die Warnschilder vor Newspeak sind offenbar verschwunden, doublethink ist im Kommen. Wer die Gegenwart kontrolliert, strebt danach, die Geschichte nachträglich so zu korrigieren, dass sie politisch passt. Peter der Große und der Nordische Krieg werden zu Vorgängern Putins stilisiert, die Geschichte der Ukraine soll nach Putins Willen aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Trump hält an seiner falschen Behauptung, die letzte Wahl sei ihm gestohlen worden, einfach fest. Und wenn seine Anhänger das gewaltsam ändern wollen, sei es drum.

Auch in westlichen, demokratischen Ländern wird Geschichte ständig umgeschrieben: es gilt oft als politisch unkorrekt, historische Dokumente einfach aus ihrer Zeit heraus verstehen zu wollen. Sie müssen so angepasst werden, dass sich die Gegenwart in ihnen spiegelt. Straßennamen zu ändern ist noch eine harmlose Variante, „Pipi Langstrumpf“ umzuschreiben eher eine kuriose Variante. Die von Donald Trump gleich massenweise verbreiteten „Fake News“ werden von seinen Anhängern als Glaubenssätze angenommen und zu Geschichtslegenden verklärt. Auch die Geschichtsklitterung mancher ideologisch gefärbten postmoderner „Theorien“ sind Beispiele für den von Orwell beschriebenen „Übergang der Lüge in die Geschichte“.

„Vergangene Ereignisse, so heißt es, haben keine objektive Existenz, sondern überleben nur in schriftlichen Dokumenten und im menschlichen Gedächtnis. Die Vergangenheit ist also das worüber die Aufzeichnungen und die Gedächtnisse übereinstimmen.“ Genau das aber kontrolliert in Orwells Roman die Einheitspartei in vollem Umfang. Heute ist es nicht unbedingt eine Partei, sondern Gruppen, die ganz im Sinne Gramscis die Hegemonie über den Meinungspool erobert haben.

Orwell beschreibt „doublethink“ als ein Labyrinth, in dem sich das Denken verliert, wo man „etwas weiß und nicht weiß, sich der kompletten Wahrheit bewusst ist, während man sorgfältig konstruierte Lügen verbreitet, wo man gleichzeitig zwei sich gegenseitig ausschließende Meinungen vertreten kann, wissend, dass sie sich widersprechen und zugleich fest an beide glaubend; Logik wird gegen Logik gesetzt, Moralität zugleich reklamiert und zurückgewiesen – Demokratie, so glaubt man, ist unmöglich – aber die Partei ist Wächter der Demokratie.“ – Doublethink heißt: zu vergessen, was immer nötig ist zu vergessen, und es im Moment, wo das nötig ist, ins Gedächtnis zurückzuholen.“

Die Existenz einer objektiven Realität wird bestritten, auch wenn man genau diese berücksichtigt, falls man sie gerade braucht. „Realität gibt es nur im menschlichen Geist und nirgends sonst.“ wer den menschlichen Geist kontrolliert, siegt über die Realität: „wir zerstören unsere Feinde nicht einfach; wir ändern sie.“

Es war etwas verfrüht, diese Welt der Labyrinths des doublethink in das Jahr 1984 zu verlegen, aber mir scheint, 2022 sind wir schon viel weiter auf diesem Weg fortgeschritten. Orwell kannte 1948, als er den Roman schrieb, nur die Anfänge des Fernsehens: „Mit der Entwicklung der Television und dem technischen Fortschritt, der es möglich machte, gleichzeitig auf dem gleichen Instrument zu senden und zu empfangen, kam das Privatleben an sein Ende. Jeder Bürger, zumindest jeder der wichtig genug dafür war, konnte 24 Stunden am Tag unter den Augen der Polizei und unter Berieselung der Propaganda gehalten werden, alle anderen Kommunikationskanäle wurden geschlossen.“.

Hätte Orwell geahnt, welche Möglichkeiten die über Internet übertragenen neuen Medien zur Manipulation von Menschen bieten, die „objektive Realität“ wäre ganz im Meer der Undefinierbarkeit von Wahrheit untergegangen. Die totalitäre Kontrolle der „Moral“ der Bürger, wie sie die Volksrepublik China eingeführt hat, ist noch näher an Orwells Horrorvision.

Die Nachrichten in Orwells Welt wurden nicht einmal gefälscht: es war einfach die Ersetzung eines Unsinn durch einen anderen Unsinn. Das Material hatte keinerlei Verbindung mit irgendwas in der realen Welt. Auch Statistiken waren in der Originalversion genauso reine Fantasien wie in der korrigierten Version. Das „Ministerium der Wahrheit“ kümmerte sich auch darum, das Proletariat durch proletarische Literatur, Musik, Drama und ganz allgemein durch Unterhaltung bei Laune zu halten. So seicht wie es heute viele Privatsender und die Boulevardpresse allen anbieten.

„Hier wurden Schundblätter produziert, die fast nichts enthielten außer Sport, Verbrechen und Astrologie, sensationelle fünf Cent Geschichten, mit Sex-aufgeladene Filme, mechanisch komponierte sentimentale Songs und ein besonderes Kaleidoskop, das manVersifikator nannte. Es gab sogar eine Unterabteilung Pornosec – so hieß sie auf Newspeak – die billigste Pornographie produzierte, die in versiegelten Päckchen verschickt wurde und die Parteimitglieder (außer denen, die daran arbeiteten) nicht ansehen durften.“ – Oh Orwell: so viel Scham herrschte dort noch – das ist längst vorbei!

Als Orwell seinen Roman schrieb, war die britische Presse in dieser Hinsicht weiter fortgeschritten als das in anderen Ländern der Fall war. Heute haben alle aufgeholt. „ der Zweck von Newspeak ist nicht, ein Medium bereitzustellen um sich auszudrücken, sondern alle anderen Arten von Gedanken unmöglich zu machen.“

Der Umfang des Vokabulars von Newspeak wird immer kleiner. Zum Teil werden neue Wörter erfunden aber im wesentlichen werden unerwünschte Wörter eliminiert. Am Ende wird so jedes Gedankenverbrechen unmöglich, weil dafür die Worte fehlen.

Orwell stellte sich unter den Gedankenverbrechen wahrscheinlich etwas politisches vor. Doch in unserer heutigen Welt gilt schon die politisch inkorrekte Sprechweise über jedes kulturelle Phänomen als eine Art von Gedankenverbrechen – jedes Sprechen ist heute bereits Politik. Und das bewährte Mittel dagegen könnte direkt aus Orwells Roman stammen: bestimmte Wörter werden als „belastet“ aus der Sprache ausgeschieden. Die Gedankenpolizei war allgegenwärtig.

Oft dient die Intervention gegen bestimmte Sprechweisen einem guten Zweck. Hasspropaganda soll verboten werden, auch unbeabsichtigte Verletzungen und Beleidigungen vermieden werden. Das ist gut gemeint.

Das Problem liegt woanders. Im Roman „1984“ ist es die Obrigkeit, die festlegt, was zu gelten hat. Unsere aktuellen Sprachzensoren maßen sich selbst die Entscheidung über richtigen und falschen Sprachgebrauch an. Wenn sie staatliche oder gesellschaftliche Macht haben, dann kann das für politische Einflussnahme durch kulturelle Hegemonie im Sinne Gramscis missbraucht werden.

Ein weiteres Problem ist, dass die Beleidigung nicht an einem gerichtlich feststellbaren Tatbestand sondern an der subjektive Befindlichkeit von Personen anknüpft, die „sich verletzt fühlen (oder fühlen könnten)“ – was dem „Viktimismus“ entgegenkommt, der Stilisierung als „Opfer“ als Instrument für politische Ziele.

Selbst ein unangemessener Gesichtsausdruck war ein strafwürdiges Vergehen, das „Gesichtsverbrechen“ / „facecrime“ genannt wurde. Ob Armin Laschet diesen Zusammenhang kannte, als er in seinem Wahlkampf 2021 an der falschen Stelle lachte?

Es gibt nur vier Arten mit der eine herrschende Gruppe die Macht verlieren kann: Eroberung von außen, Revolte von innen aufgrund ineffizienten Regierens, eine starke und unzufriedene Mittelklasse, oder der Verlust des Selbstvertrauens und des Willens zu regieren. Eine herrschende Klasse die sich gegen diese vier Arten schützt, kann auf Dauer an der Macht bleiben.“ –

Orwell fügt hinzu: „eine regierende Gruppe ist so lange eine regierende Gruppe wie sie ihre Nachfolger nominieren kann.“, wobei er natürlich die Erfahrungen der totalitären Diktaturen von rechts und von links in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Blick hat. Allerdings haben Diktaturen das Problem, dass sie das Nachfolgeproblem nicht lösen können.

„die Menschheit hatte die Wahl zwischen Freiheit und Zufriedenheit, für die große Mehrheit war Zufriedenheit besser. … Macht ist kein Mittel; es ist ein Selbstzweck. Man etabliert nicht eine Diktatur um die Revolution zu retten, sondern man macht Revolution um die Diktatur zu etablieren.“ Das moderne Phänomen der „gewählten Diktaturen“, die sich dann nicht wieder abwählen lassen, ist gefährlich, weil der Weg in diese Diktaturen von populärer Zufriedenheit gestützt wird.

„Die alten Zivilisationen reklamierten, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegründet zu sein.“ Orwells neue Zivilisation ist auf Hass gegründet. Und so sind auch die neuen Autokratien auf Hass gegründet. Das Trump-Regime passte genau in dieses Bild – und dennoch droht seine Wiederkehr! Das Putin-Regime ist ein auf Hass gebautet Lügenregime – und dennoch glauben viele ihm.