Vernissage für einen Rasierapparat

Georg Boomgaarden

Vernissage für einen Rasierapparat

 

Mein sehr verehrten Damen, meine Herren,

 

was könnte mehr den ewigen Wechsel der Generationen symbolisieren als das stete Nachwachsen des männlichen Bartes. Täglich wächst Neues nach, gnadenlos gerät Altes in die Schermesser des Todes. Der Bart steht für den uralten Mythos des ewigen Werdens. Nicht zweimal im Leben scherst Du den gleichen Bart, so könnten wir in Anlehnung an den großen Vorsokratiker Heraklit sagen. Das Ritual ist immer gleich, es ist die Wiederholung des Handlungstypus in immer neuem Kontext, so wie die ewig gleichen Festtage dem Wechsel der Jahreszeiten einen Hauch von Dauer verleihen.

 

Jeder steht allein vor seinem Bart, doch im Wissen um die Gemeinschaft all der Männer, die zugleich alltäglich die Schärfe der Klinge oder des Schermessers an die Stoppeln ansetzen, im Wissen darum, dass ein überpersonales Band uns alle zusammenhält, sind wir doch nur Teil einer seriellen Kultur des Bartes.

 

Natürlich können wir nicht einfach darüber hinwegsehen, dass es auch Subkulturen der Nichtscherer gibt, doch der Versuch, dem Barte Ewigkeit zu geben, ist im Diesseits zum Scheitern verurteilt. Nur die religiöse Hoffnung auf ein anderes, neues Leben kann die Erwartung nähren, dass aus dem mit der Zeit ergrauten Barte des Alters wieder ein Jungbrunnen neuer Haarigkeit quillt.

 

Und da steht er vor uns - jahrelang hat er jeden Morgen die Energie aus der Steckdose gesogen und ist mit einem zärtlichen Brummen über unsere Wangen, an den Schläfen hoch und unter dem Kinn bis zum Halse gefahren, mal leicht hinweggehend über zarten Flaum, mal durch ein akutes, etwas spitzes Geräusch anzeigend, dass sich einige harte Stoppeln zu weit hervorgewagt hatten.

 

Dass es ein elektrischer Rasierapparat ist, der hier als Kunstwerk vor uns wieder aufsteht, nachdem er als Gerät ausgedient hat, zeigt die Modernität des Denkens, das an der Zeit ist, an. Der schwarze Korpus hat über Jahre in der Hand gelegen wie ein Faustkeil - damit wurden seit der Steinzeit tiefe atavistische Gefühle des Menschen angesprochen. Lange noch bevor die revolutionäre Idee auftrat, Schwerter zu Pflugscharen umzuwidmen, wurde aus dem Mordinstrument des Faustkeils die erste steinerne Rasierklinge.

 

Doch der moderne Rasierapparat hat die Geschichte der Zivilisation ins sich aufgenommen. Über Jahrhunderte wurden Messer angesetzt, einzelne Klingen gehärtet, Doppelklingen wurden erfunden. Doch der Rasierapparat bedeutete einen qualitativen Sprung zur multiplen Klinge, die Geräte wurden sozusagen geMIRVt. Dem Kenner wird dieser Bezug auf die Bestückung von Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen zeigen, wie der Rasierapparat im Spannungsfeld spielerisch-reflexiver Selbstverortung von Gegenwart und Archaik auch in die Nähe der Tiefendimension aktueller Politik gerät.

 

Die Scherfläche hebt sich vom Korpus durch silbrigen Glanz ab. Um mit Wittgenstein zu sprechen: damit wird nichts gesagt, aber es zeigt sich etwas. Was aufscheint ist die Vorwegnahme des Kommenden, die Unausweichlichkeit des Ergrauens des Bartes, sozusagen das Scheren als Entwurf des Lebens auf den Graubart hin, der erst die Erfüllung der Eigentlichkeit des Bartes bedeutet.

 

Im massiven Metallrahmen, dessen Stilelemente zeitlose Schlichtheit mit Funktionalität verbinden, wird ein dünnes metallisches Netz in Spannung gehalten.

 

In diesem Netz wird der Bartstoppel an sich gleichsam eine Falle gestellt. Unschuldig gewachsen, rutscht das lebendige Haar in das Netz. Doch darunter lauert die rotierende Klinge. Eben noch Teil des Organismus, fähig zu Wachstum und vor sich alle Möglichkeiten einer produktiven Entfaltung, wird jetzt aus dem von seiner Wurzel abgeschnittenen Haar ein trockenes kurzes Stück Materie, das wie Staub vom Apparat abgeschüttelt wird.

 

Was will uns der Künstler mit dieser Installation sagen ? - Schweigend stehen wir davor und erschauern, wenn wir uns der Dimension bewusst werden, in die eine Reflexion über den Rasierapparat uns entführt. Bewegen wir uns nicht an der prekären Grenze des Unsagbaren - des Unsäglichen ?

 

So spricht das Kunstwerk direkt zu uns - nicht vermittelt durch partikuläre Abschattungen seines Seins, sondern in der Ganzheit der Erscheinung.

 

"Wirf das alte Ding doch endlich weg" - ruft meine Frau ins Badezimmer hinein, wo ich immer noch verzückt vor dem alten Rasierapparat stehe, der mir fast zwanzig Jahre treue Dienste geleistet hat - "eine Reparatur lohnt doch nicht mehr" - sagt sie und bricht ein in meinen Aufstieg des Kunsterlebnisses vom Schönen zum Erhabenen - "Außerdem rasierst du doch sowieso immer nur Nass!"