Der Intellektuelle, der PI entdeckt, wird verrückt.
Der Entdecker von PI
Die Priester hielten Gerichtstag. Sie schritten gravitätisch durch das Labyrinth. Niemand wußte, wann Gerichtstag war, sie kamen einfach und sprachen und was sie sprachen, war Recht. Und mit ihnen kamen Büttel. Sie verkörperten die Gewalt, ohne die das Recht nicht Recht war. Die Priester trugen an diesem Tage lange, weiße Roben ohne jede Verzierung, aber aus bestem Stoff. Die Büttel waren mit schwarzem Leder bekleidet. Priester und Büttel maskierten sich als Götter des Lachens. Alle hatten Ehrfurcht vor den Priestern und wer sie nicht hatte, heuchelte aus Furcht die Ehrfurcht.
Das Labyrinth war so kunstvoll ungeordnet aus Schnecken, Kreisen, Kurven und anderen krummen Linien zusammengefügt, daß es keine Ecken und Kanten hatte und daß niemand eine Regelmäßigkeit an ihm entdecken konnte. Generationen hatten es immer mehr erweitert, die Heutigen bauten weiter daran. Die Priester hatten jeden Gedanken an Geometrie ausgemerzt. Geometrie hieß, anecken, Ecken aber waren verflucht. Die Vollkommenheit lag im Chaos, im Tohuwabohu des Anfangs, der auch das Ende ist. So wurde immer wieder peinlich darauf geachtet, daß nur rund und unregelmäßig gebaut wurde.
Die Menschen dieser Generation waren daran gewöhnt, daß nichts Bestand hatte, so daß es keine wirkliche Gewohnheit geben konnte. Das Runde war ihre ganze Welt. Und das Runde durfte sich nie zum Kreis, zur Regelmäßigkeit fügen. Das Labyrinth war ihr Leben. Das "Andere", die Eckenwelt, war ihnen nur als Hölle vorstellbar und die Hölle ist eben der Schatten des Unvorstellbaren.
Antworten auf Fragen, die niemand zu stellen wagte, gaben die Priester des Alltages. Sie waren ständig unter den Menschen, aber sie blieben unerkannt, weil sie sich nicht von den anderen unterschieden. Wie das Salz in der Suppe gaben sie den Geschmack an, den die Gesellschaft pflegte. Gleich einem einfachen musikalischen Motiv gaben sie den Ton an in der Sinfonie der Menschheit.
Menschen sind unruhige Geister, die Fragen stellen und selbst nach Unvorstellbarem fragen. Sie verstoßen gegen die Logik des Chaos und damit gegen das Recht des Labyrinthes. Doch die Priester des Alltages beherrschen die Wörter. Die angeborene Syntax des Fragesatzes formen sie in einem langen Erziehungsprozeß in einen Katechismus um, der zu jeder kanonisierten Frage eine Antwort parat hält. Die Alltagssprache ist die Liturgie der Priester des Alltages, abgerundet, ohne Ecken, aber fest in den Mauern der rhetorischen Fragen und der Orthodoxie eingeschlossen.
Am Gerichtstage erscheint der Priester des Alltages nun im weißen Gewand und urteilt. Sein Urteil spricht er sanft und ohne Emotion. Wer nicht Teil des Chaos sein will, sondern gegen das Labyrinth lebt, wird zur Strafe der Geometrie verurteilt. Die Büttel schleppen ihn sofort weg.
In einem entfernten Teil des Labyrinths gab es Räume, die einen rechten Winkel enthielten. Die Verurteilten konnten ihren Blick nicht von diesem Winkel wenden, die litten Schmerzen, zweifelten an sich selbst, Schweiß brach ihnen aus, das Denken selbst wurde durch die sichtbar gewordene Vorstellung der Orthogonalität verwirrt. Der Versuch, den Blick abzuwenden, endete schnell, wenn das Auge auf die martialischen Büttel fiel, die stumm über allem wachten. Manche schlossen die Augen - mit keiner anderen Folge, als daß sie wie im Traum die Ecke vor ihrem Geiste tanzen sahen, intensiver, greller als in der düsteren Wirklichkeit.
Es gab Menschen, die sprachen nicht mehr, wenn sie von dieser Strafe zurückkehrten. Andere sahen ständig lauernd um sich, als ob sie hinter jeder Rundung eine Ecke vermuteten. Alle waren verändert, denn sie hatten den Vorhof der Hölle gekostet. Wenige aber wurden süchtig. Sie versuchten, erneut verurteilt zu werden. Dies war nicht einfach, denn niemand kannte die Priester des Alltages. Außerdem war nie ganz klar, was eigentlich das Recht war, gegen das sie verstoßen mußten.
Abaelard war süchtig geworden. Er liebte die Nacht im Labyrinth, wenn alle Formen verschwammen und die Lichtpunkte der Sterne alle Gedanken auf sich konzentrieren ließen. "Aus dem Punkt werde ich mir meine Welt entwickeln", sagte er bei sich und suchte nach anderen, die gleich ihm durch die Nacht wanderten. Er fand den einen oder anderen Nachtschwärmer, der ihn ein Stück seines Weges begleitete, aber niemand wollte ihm wirklich zuhören. Fast alle hatten eine fixe Idee und wollten nur darüber reden.
Abaelard aber hatte gelernt, zu schweigen, wenn andere seine Sprache nicht sprachen. "Wo ist die Macht der Priester", hatte er eines nachts zu einem Weggenossen gesagt, "wo ist sie, wenn die Formen ganz im Dunkel sind und die Imagination allein bestimmt, welche Geometrie wir sehen wollen." Das Wort "Geometrie" hatte seinen Weggenossen erschreckt und er war sofort davongehuscht. Schon wenige Tage danach wurde Gericht über Abaelard gehalten. Er wurde verurteilt und sah die Hölle.
Er fröstelte, eine Gänsehaut überlief ihn schon auf dem Weg zur Hölle, in die ihn sechs Büttel trugen. Aber als er die Ecke in all dem Rund sah, ertrug er die Orthogonalität. Er wollte quer denken, quer zu dem, was die Priester in ihrer Liturgie heiligten. Abaelard konzentrierte sich auf die Ecke und dachte sie sich aus vielen Lichtpunkten zusammengesetzt. Wenn er die Augen schloß, strahlten die Lichtpunkte auf und formten aus der einen Ecke Dreiecke, Vierecke und regelmäßige Polygone, die sich zu einem fantastischen Gebäude fügten. Blickte er um sich, empfand er die Büttel als Zwerge vor dem neuen Universum der Geometrie, das sich vor ihm auftat. Es geschah etwas entscheidendes mit ihm: er verlor die Furcht, nachdem er die Ehrfurcht schon zuvor verloren hatte.
Als er nach dem Abbüßen seiner Strafe wieder im das runde Labyrinth zurückgekehrt war, vernachlässigte er den Weiterbau am Labyrinth, der doch die Aufgabe seiner Generation war. Die anderen Menschen begannen, seine Nähe zu fürchten. Abaelard zog es mehr noch als zuvor in die Nacht. Er setzte die Lichtpunkte der Sterne zusammen zu Bildern. Er ordnete das Chaos des Universums nach seinen Kategorien und fand, daß es gut sei.
Heloise liebte Abaelard über alles. Sie verlangte nicht nur nach seinem Körper, sie wollte auch seinem Geist nahe sein. Heloise war ein Kind ihrer Zeit, sie dachte rundheraus, glaubte an die Hölle und war den Priestern ergeben. Aber in ihr brannte die Liebe zu Abaelard. Die Nacht zeigte ihr, wie in ihm die Lichtpunkte der Geometrie brannten. Sie wollte ihm nahe sein, seinen Atem und seine Haut spüren. Abaelard erwiderte die Liebe, aber er blieb still. Schweigend lehnte er sich an Heloise an, küsste sie, streichelte ihren Körper und umarmte sie. Doch wenn Heloise zu sprechen begann, dann erschrak er und wandte sich ab. Er fürchtete das Gewöhnliche, das Alltägliche zu hören und er fürchtete etwas zu sagen, das ihn als Ketzer verriet.
(Heloise gewinnt Liebe in aller Tiefe erst zum geistgen Abaelard) (Abaelard wird mit Heloise einem Dreieck ausgesetzt und beide durchstehen dies durch Verallgemeinerung des allgemeinen Polygons)
(Schließlich kommt die schwerste Prüfung für Abealard: er wird selbst zum Priester kooptiert, und soll damit korrumpiert werden. Er darf in Kreisrunden Räumen leben - ohne Unregelmäßigkeit aber auch ohne Ecken - ein Privileg der Priester. Aber er entdeckt das Gesetz des Kreises - die Zahl PI - und zerstört damit, daß er die IRRATIONALE Zahl PI entdeckt, die Rationalität des Chaos der Priester.)
(PI wird zum Ruf der Freiheit durch die Geometrie. Nicht Furcht vor der Geometrie, sondern Beherrschen ihrer Gesetze läßt Ordnung im Chaos zu, läßt aber auch Überwindung der engen Geometrie der Priester zu.)