Großmutter im Eisschrank

Die Großmutter im Eissschrank


"Heute ist Sonnabend - Großmutter wird heute wieder bei uns sein", sagte unsere Mutter und wir Kinder waren wieder sehr gespannt darauf. Unsere Oma war immer der Mittelpunkt, wenn sie bei uns war. Das heißt unsere Oma war es eigentlich gar nicht, sondern die Urgroßmutter von Vati, aber wir nannten sie immer nur unsere Oma.


Wir Kinder waren immer sehr neugierig und Oma konnte besser erzählen als die Eltern oder die richtigen Großeltern, die sowieso kaum mal zu uns kamen, weil sie so weit weg wohnten. Außerdem gehörte Opa - der richtige - zu der Generation der 'Computerfreaks' vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. 

Mit diesen Leuten war ja nichts anzufangen. Mein Vater regte sich immer auf, wenn er von Opa ständig mit Electronic Mail belämmert wurde. Der Alte war so versponnen, daß er uns dauernd seine neuesten Tricks im Umgang mit seinem Computer schickte. Dabei interessierte sich bei uns kein Schwanz dafür. 

Vater hat uns mal erzählt, daß er  -als er noch klein war - vom Opa immer den Wendehals-Kuß bekam, weil sein Vater sich nur flüchtig vom Computer wegdrehte und ihm mit verdrehtem Genick einen leichten trockenen Touch mit der nach vorn gezogenen Lippe verpaßte und dann schnell zu seinem Computerspiel zurückkehrte. Mutti sagt immer: es ist ein Wunder, daß Vati als Computer-Waise nicht völlig verwahrlost ist.


Omi war da ganz anders - jetzt rede ich wieder von der Omi, die jeden Sonnabend mit uns Kaffee trank. Die mochten wir so sehr, weil sie unheimlich spannende Geschichten erzählen konnte. Sie erzählte aus ihrer Jugendzeit, sie hatte noch den zweiten Weltkrieg als junges Mädchen miterlebt, für uns Kinder einfach unvorstellbar. Wir wandten uns gruselnd ab um dann gleich wieder näher an sie heranzurücken und noch genauer hinzuhören.


Heute war irgendetwas nicht ganz in Ordnung. Vati war sehr nervös. Mutti schaute ihn vorwurfsvoll an und sagte fast flüsternd: -"das kannst du doch nicht vergessen, du weißt doch, daß immer mindestens 9 Stunden für das Auftauen benötigt werden"


"Man darf doch wohl mal einen Moment unkonzentriert sein", antwortete Vati, "ich hatte Ärger mit dem Chef, außerdem war ich müde und hatte Kopfschmerzen und jetzt laß mich in Ruhe!"

"Aber was sollen die Kinder denken - sie freuen sich immer so auf den Sonnabend"

"Wir bekommen das schon hin, Frieda! - dann fangen wir eben etwas später mit dem Kaffee an. Ihr Weiber seid doch sowieso verrückt mit eurem Pünktlichkeitsfimmel. Es ist doch egal, ob wir uns nun um vier Uhr nachmittags zusammensetzen oder erst um neun Uhr abends. Die Kinder schreien doch 'Hurra', wenn sie ausnahmsweise etwas länger aufbleiben dürfen."

"Wenn das man gut geht, die Kinder stellen manchmal so penetrante Fragen!" - meinte Mami.


Wir Kinder bekamen zwar nicht alles mit, worüber unsere Eltern an diesem Tag stritten, aber irgendwie hatten wir das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Und neugierige Kinder lassen nun einmal nicht locker. Sollten wir wirklich länger aufbleiben dürfen. Alex und ich waren wirklich immer sehr stolz, wenn wir einmal bis Mitternacht aufbleiben durften. Aber das gab es eigentlich nur in der Sylvesternacht - und dann schliefen wir manchmal von selbst zu früh ein.


Sollte es heute eine große Eisportion zum Kaffee geben - wir wußten ja, daß Omi Eis liebte. Dann hatte Vati wohl vergessen, es rechtzeitig aus dem Gefrierschrank zu holen. Wir Geschwister schauten uns gegenseitig an und jeder wußte, daß er im Verdacht war, alleine Eis aus dem Eisfach genascht zu haben ohne den anderen zu beteiligen. Aber durch Körpersprache mehr als durch Worte war schnell geklärt: Das war es nicht. Die Neugierde wurde damit nur noch angestachelt.


Wir lauschten hinter der Tür, als Vati mit Mutti in der Küche redete. Sie sprachen über den ausgefallenen Kaffee mit Omi.


"Oma taut doch wirklich immer so langsam auf. Wenn du sie erst so spät holst, dann kann man sich doch vor zehn Uhr abends nicht richtig mit ihr unterhalten" - meinte Mami


Wir waren ganz anderer Ansicht. Wir kannten Omi als sehr rege alte Dame, die nur so vor Temperament sprudelte - und da behauptet die Mami, Oma würde nur langsam auftauen. Aber Mami verstand wohl auch nicht, was an Omi so faszinierend war. Für uns Kinder war sie wie eine Märchenoma, aber Mami redete immer nur über sachliche Dinge mit ihr: ob man die Kleider mit Benzin reinigen sollte oder mit neuen gentechnologischen Säften, die immer so angepriesen werden, ob der Kuchen mit den 15 Eiern nicht gesundheitsschädlich sei - den Oma immer empfahl und lauter so langweilige Dinge mehr.


Wir folgten Vati, als er in den Keller ging. Gleich vorn an der Treppe war eine Stahltür, die in einen kleinen Kühlraum führte, wo wir Fleisch und Milchprodukte aufbewahrten. Wir durften nie in den Kühlraum, obwohl wir manchmal an der Tür standen und hineinschauten, wenn einmal Rinderhälften angeliefert wurden. Zwei halbe Rinder wurden an Fleischerhaken an Seile gehängt, die unter der Decke befestigt waren. 

Viel war nicht zu sehen: rechts und links vom Eingang waren Regale mit Kartons darauf. "Irische Butter", "Holländer Käse", "Milchpulver" stand darauf.  Vati hatte uns immer Angst mit dem Kühlraum gemacht: "Es gab mal einen Jungen, der wollte probieren, wie es dort drinnen ist. Die Tür fiel ins Schloß und er konnte nicht wieder hinaus. Als man den Jungen fand war er erfroren. Und wirklich - auf dem Boden sah man kleine blanke Eispfützen und an manchen der Regale hatte sich weißblaues Eis festgesetzt.


Wir sahen, wie Vati einen riesigen Sack aus dem Kühlraum holte. , Manchmal gab es ganz feine Schinken, die in solchen Säcken steckten. Wir Kinder waren ganz wild auf diese Delikatesse und freuten uns schon auf den Schmaus am Abend. Vati brachte den Sack ins Gästezimmer und schloß die Tür hinter sich. Wir folgten Vati auf leisen Sohlen und schauten gespannt durchs Schlüsselloch. Aber wir waren enttäuscht. Der Sack lag schon leer auf dem Boden und Vati war ins Gästebad neben dem Zimmer gegangen, wohin wir durch das Schlüsselloch nicht blicken konnten. Als er herauskam, schloß er hinter sich ab. Wir verzogen uns in unser Zimmer. Aber wir beschlossen, wachsam zu bleiben.


Irgendetwas lag in der Luft, wir wußten nur nicht, was es war! - Jedenfalls wies alles darauf hin, daß es ein Festessen geben sollte und daß Omi deshalb später kommen würde. Die üblichen Feste kannten wir ja alle. Ostern gabs Lamm oder Weihnachten die Gans und zum Neujahr Forelle - alles ganz konventionell, ja geradezu altmodisch. Deshalb konnten wir uns auch gar keinen Reim darauf machen, warum es gerade heute ein Festessen geben sollte. War es Vatis Schul- oder Arbeitsjubiläum, hatte Mutti einen besonderen Ehrentag. Aber es schien ja auch etwas mit Omi zu tun zu haben. So genau wußten wir selbst nicht, worauf sich unsere Neugierde am meisten richtete: auf das geheimnisvolle Fest, das offensichtlich bevorstand oder auf den Festschmaus.


Am Sonnabend um vier Uhr war Omi meistens schon bei uns. Sie kam immer erst kurz vor vier. Vati holte sie mit dem Auto vom Bahnhof ab. Sie kamen immer durch die Tiefgarage. Heute fuhr er aber nicht zum Bahnhof.


"Kommt Omi heute nicht ?" - fragten wir.


"Doch, doch - sie kommt heute später" -sagte Vati und schaute dabei etwas verwirrt drein. "Wir werden erst um neun Uhr zusammensein, Kinder. Aber ihr dürft heute so lange aufbleiben wie ihr wollt.- Aber laßt die Oma bitte etwas in Ruhe, vielleicht ist sie doch um die Zeit schon etwas müde."


Wir jubelten. Also es wird ein Fest geben. "Nicht wahr, heute gibt es ein großes Eis für alle! - wir feiern ein Fest, ja - Vati ?" - drangen wir auf ihn ein.


Zerstreut antwortete er "Ja,ja - mal sehen", aber wir merkten, daß er nicht meinte, was er sagte. Er war wie abwesend und meinte wahrscheinlich nur 'Laßt mich in Ruhe'. Wir wußten nicht mehr als vorher. Es hatte keinen Zweck ihn zu fragen, solange er so zerstreut war. Also ein großes Eis könnte es geben, und Schinken und sicher auch Kuchen. Unsere Nasen warteten darauf, welche vielversprechende Düfte aus der Küche kommen würden.


Um neun Uhr rief uns die Mutter: "Kommt zu Tisch, Kinder, es ist alles gerichtet, laßt es euch schmecken! - und die Oma ist auch schon da."


Wir hatten nicht aufgepaßt. Wann war die Oma denn gekommen. Wir hatten gar nicht mitbekommen, wann Vati zum Bahnhof gefahren war. Aber jetzt würden wir ja sowieso erfahren, was der Anlaß für das Fest war. Außerdem freuten wir uns wie immer auf die Oma.


Oma war heute verändert. Sie redete wenig und etwas schwerfällig und aß nur sehr langsam. Mutti hatte recht gehabt: sie taute nur langsam auf und war gar nicht so rege wie sonst bei unseren Kaffee-Nachmittagen. War sie krank gewesen ? - Kinder leben nicht im Fluß der Zeit, sie nehmen das Altern nicht wahr und sind nur überrascht, wenn jemand plötzlich nicht mehr der oder die Alte ist.


Wir waren so erschreckt darüber, daß das nicht mehr unsere Märchenoma sein sollte, daß wir folgsam die Oma schonten, nur wenige Worte wechselten und im übrigen stumm bei Tisch saßen und uns gegenseitig anschauten.


Plötzlich sagte Alex: "da ist ja Wasser unter dem Tisch, ich bekomme ganz nasse Füße!"


"Hast du dir wieder die Schuhe ausgezogen!" - schimpfte Mami - "ich habe dir doch gesagt, daß du nicht immer die Schuhe unter dem Tisch ausziehen sollst!"


Natürlich hatte Alex. Aber das war ja nicht entscheidend. Entscheidend war, wo das Wasser unter dem Tisch herkam. Hatte etwa jemand... ? - nein , nicht auszudenken - aber das wäre ruchbar geworden! -War irgendetwas ausgelaufen ? - Blitzschnell kroch ich unter den Tisch, bevor Mutti mich mit einem Aufschrei daran hindern konnte. Eine kleine Wasserlache -fast schon eine Pfütze - breitete sich unter dem Tisch aus, ein kleines Rinnsal lief schon unter dem Tisch hervor und es war ganz eindeutig, wo das Wasser herkam: von Omi. Es tropfte von ihren Beinen und quoll aus ihren engen schwarzen Schuhen. Omi schwitzte soviel aus, daß eine Wasserlache entstanden war.


"Omi tropft !" - sagte ich, und Mutti wurde bleich. Strafend sah sie Vati an und sagte: "Ich habe doch gesagt, daß Omi nicht rechtzeitig aufgetaut sein wird, da haben wir die Bescherung! Es geht einfach nicht, daß du sie erst mittags aus dem Eisschrank holst - sie braucht länger zum Auftauen!"


Vati versuchte vergebens, Muttis Redefluß zu bremsen. Er schaute uns an, die Omi und dann wieder Mutti und wußte nichts zu sagen außer: "Dann ist es ja raus, du verrätst ja alles - aber irgendwann mußten die Kinder ja aufgeklärt werden."


Und dann erzählte er uns die ganze Geschichte: wie die Omi vor fast 60 Jahren eingefroren wurde, wie wir sie einmal in der Woche auftauen, um sie zum Kaffee bei uns zu haben. Aber das ist eine lange Geschichte für ein anderes Mal.