Traditions-Theater für den Tourismus

VON GEORG BOOMGAARDEN · VERÖFFENTLICHT 14. OKTOBER 2014 

Wer reist, sucht das Andere. Man fährt an die See, in die Berge, in den Dschungel, in die Wüste. Die neuen, anderen Eindrücke müssen nicht unbedingt exotisch sein, auch der Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen Regionen und verschiedenen Lebensweisen bereichert die Reiseerfahrungen. Tourismus ist zu einer bedeutenden Industrie geworden. Millionen von Menschen wollen die Orte besuchen, die ihnen Entspannung und Erfahrungen bieten, die sie zuhause nicht haben können. Drei Voraussetzungen müssen diese Orte erfüllen: sie sollen schön sein, interessant und authentisch – sie sollen anders sein als unsere alltägliche Umgebung.

Entspannung kann man auch auf dem eigenen Balkon oder im nächstgelegenen Park haben. Klimatische Gründe legen nahe, Sonne und Strand, Berge und Schnee woanders zu suchen, die individuellen Bedürfnisse sind zu verschieden, manche suchen Einsamkeit, andere im Gegenteil Gesellschaft. Es gibt keine feste Regel wie Entspannung erreicht wird.

Was als schöne Erfahrung empfunden wird, hängt von vielen subjektiven Voraussetzungen ab. Es gibt keinen Konsens darüber, wohl aber scheint es eine Konvergenz der Vorstellungen zu geben, welche Orte eine besondere Schönheit ausstrahlen. Berglandschaften, vor allem, wenn sie ans Meer angrenzen, wild belassene Natur, Wälder und Seen gelten fast überall als schön. Es fällt auf, dass alte, enge historische Stadtkerne besonders attraktiv sind, während die modernen Vorstädte Besucher nicht anziehen.

Was als interessant gilt, ändert sich im Laufe der Zeit und hängt auch von Moden ab. Mal ist Burgromantik gefragt, dann gilt sie als kitschig und langweilig, mal ist ein historisch wichtiger Ort fast in Vergessenheit geraten, dann wiederum wird er zum Publikumsmagneten, vor allem wenn Berichte in den Medien, das Auftreten prominenter Besucher oder auch Erfahrungen von Freunden und Bekannten den Platz in einem neuen Licht erscheinen lassen. Auch vorausgegangene eigene Erfahrungen wecken die Neugierde auf andere Erfahrungen. Die Themen von Interesse decken eine große Bandbreite ab, jeder Tourist hat seine individuellen Favoriten. Aber historische, kunsthistorische und architektonische Denkmäler sind überall gefragt. Daneben sind es fremde Bräuche, Feste, Lebensweisen oder auch kulinarische Besonderheiten, die eine große Anziehungskraft haben.

Hier kommt die Forderung nach Authentizität ins Spiel. Die Kunstwerke in den Museen sollen Originale sein, die archäologischen Stätten möglichst wenig rekonstruiert sein, die Architektur die Atmosphäre einer anderen Zeit vermitteln – meistens einer vergangenen, moderne Architektur ist nur dann gefragt, wenn sie von unserem Alltag stark abweicht, beispielweise besonders futuristisch ist. Die lokale Küche mit ihren authentischen, alten Rezepten und Zutaten aus der Region wird stark nachgefragt, auch wenn der Tourist ein wenig Anpassung an den internationalen Geschmack gerne akzeptiert. Die Feste, die Lieder, die Trachten, alles soll typisch für die Region sein – und es soll für den Besucher sichtbar werden.

In den Museen und gut geführten archäologischen Ausgrabungsstätten ist es nicht schwierig, die Ursprünglichkeit dessen, was der Tourist betrachten will, zu bewahren und zugleich hinreichende Informationen in Reiseführern und vor Ort bereitzustellen, die das Gesehene richtig einordnen. Der gebildete Tourist kann in den alten Ruinen seine Kenntnisse der Geschichte nachempfinden, die Kunstwerke kann er einordnen und genießt so das Wiedersehen mit Vertrautem ebenso wie  neue Seh-Erfahrungen durch zeitgenössische Kunst. Bei der Architektur wird es schwieriger: Die alten Gebäude hatten in vielen Fällen längst ihre Funktion verloren, zum Teil waren sie schon verfallen. Jetzt werden sie für den Tourismus wieder hergestellt,  schöner angestrichen als sie es je waren, und neuen Nutzungen zugeführt. Sie sind keine authentischen Originale mehr, sie wurden für die Besucher authentifiziert, was bedeutet, dass sie künstlich in ihre Entstehungszeit zurückversetzt werden während ihre spätere Geschichte ausgelöscht oder allenfalls museal mit eingebaut wird. Der Tourist sucht zwar das Authentische – ist aber gerne bereit, sich ungefragt der Illusion hinzugeben, die ihm durch die Rekonstruktion vermittelt wird.

Die Authentifizierung hat schon eine lange Geschichte. Die ersten Touristen waren die mittelalterlichen Pilger. Ob Jesus nun in einem Stall oder in einer Höhle geboren wurde, der Glauben wird suspendiert und in der Geburtshöhle in Bethlehem stellt sich das Gefühl ein, „hier ist ER geboren“. Ob der Leichnam des Heiligen Jakob jemals in Spanien gelandet ist, bleibt sekundär gegenüber dem authentischen Gefühl in Santiago de Compostela am Ende eines Weges – des Jakobsweges – angekommen zu sein und dort – genau an der Stelle – das Weihrauchfass in der Kathedrale schwingen zu sehen. Verlorene oder gestohlene Reliquien wurden in vielen europäischen Pilgerorten ersetzt durch legendär „wiedergefundene“, so dass authentische Orte re-authentifiziert werden konnten. Mancher Ortskern wird heute so zurückgebaut, dass er aussieht wie auf Fotos von vor hundert Jahren, er wirkt trotz neuer Funktion wieder authentisch.

Menschen aber kann man nicht rückbauen. Die authentischen Alten liegen in den Gräbern. Die Jugend gehört unserer globalisierten Welt ebenso an wie wir selbst.  Junge Andalusier gehen in Discos aus wo sie nach englischen und amerikanischen Hits tanzen, junge Leute im Teufelsmoor bei Bremen werden nicht mehr Torfkahnschiffer, und in Shantychören an der Nordsee besingen keine Seeleute ihre harte Arbeit auf den Segelschiffen. Der Tourist aber erwartet Flamencotänzer und -tänzerinnen, „echte“ Torfschiffer oder Shantychöre bestehend aus Seebären als Ausdruck der Authentizität. Die jungen Leute in ihren globalisierten Uniformen aus Jeans und T-shirts, Sneakers oder in Modekleidung aus den überall gleichen Ladenketten geben dem Besucher nicht das Gefühl eines Tapetenwechsels. Lokale Trachten, traditionelle Feste und Prozessionen, die anders sind als zuhause, die Traditionen der besuchten Region charakterisieren, alles das gehört zu den unvergesslichen Eindrücken eines authentischen Urlaubserlebnisses.

Es gibt natürlich lebendige Traditionen, auch wiederbelebte Traditionen können aktiv von der Bevölkerung angenommen werden. Diese Traditionen leben aber nicht davon, dass jemand von außen zuschaut. Der Tourist ist vieleicht willkommen, aber auch ohne Zuschauer würde die Tradition leben. Viele Traditionen sind aber eigens für Touristen neu erfunden worden. Ob es nun in die heutige Zeit hineinragenden alte Traditionen sind oder neu erfundene, beide sind in das heutige Umfeld der globalen Moderne versetzt.

Torfkahnschiffer im Teufelsmoor sind heute keine armen Teufel mehr, die durch ihre harte Arbeit kinderreiche Familien über Wasser halten müssen. Die niedrigen Häuser ostfriesischer Armer, wo in den Butzen vier Kinder in einem Bett  schliefen, sind heute bequeme Ferienhäuser geworden. Der Shantychor in Greetsiel singt für die Touristen und nicht zur Arbeit. Die Menschen bauen sich zeitweise zurück um dem Touristen die heile Welt des authentisch schönen und interessanten Ortes und seiner Menschen zu vermitteln. Das ist gar nicht so viel anders als der Rückbau von Wegen, die Restaurierung von Häusern, nur eben parallel zur Jetztzeit. Altes, längst nicht mehr rentables Handwerk wird ebenalls zur Show für die Touristen wiederbelebt. – Mancher übt es mit Freude und hoher handwerklicher Fertigkeit aus, aber nicht mehr in der Welt der Gilden, der ständischen Gesellschaft und oft auch Armut, die einst das Handwerk umgab. Was ist jetzt authentisch ?

Für den Touristen wird vor einer Kulisse aus alter und erneuerter Schönheit Theater gespielt. Und der Besucher will dieses Theater und genießt es. Das authentische,  traditionelle Leben wird auf der Bühne reproduziert, weil es das Original nicht mehr gibt. Das Tourismus-Theater ist sogar ein ruhender Pol für den modernen Touristen, der hier Entspannung vom Stress der An- und Abreise findet. Die Reise selbst -die bewegte Form des Tourismus- ist her eine Film-Erfahrung. In schnellen, kurzen Schnitten wird die vorbeirasende Landschaft, werden die durchfahrenen Orte fast schon unterschwellig aufgenommen.

Ein Ausweg auf der Suche nach Authentizität ist die Reise in unberührte, exotische Weltgegenden. Unberührte Natur ist noch vorhanden, aber sie ist gefährlich, und der moderne Tourist mag die Abenteuer der Entdeckungsreisenden als Lektüre mitnehmen, aber der vernünftige Fernreisende macht Malaria-Prophylaxe, ist gegen Gelbfieber geimpft und nimmt in der Wildnis kein eigenes Gewehr mit, sondern einen Wildhüter und eine Kamera. Das afrikanische Großwild lebt in Reservaten,  unberührte Natur muss geschützt werden, nicht zuletzt gegen die Invasion von Touristen. Im Amazonasgebiet gibt es noch unberührte indigene Stämme. Kontakt zu Touristen könnte sie stark gefährden. Also reist der moderne Tourist an den Rand der exotischen Gebiete, dorthin, wo die touristische Infrastruktur vorhanden ist. Dort wird allerdings wiederum das gleiche Theater gespielt wie an weniger exotischen Plätzen. Die trommelnden und tanzenden Ersatz-Wilden in Manaus sind längst im heutigen Brasilien angekommen.

Natürlich gibt es auch den Abenteurer, der bewusst kein Tourist sein will und oft verächtlich auf diese Scharen herabschaut. Der Abenteurer sucht die Gefahr, den extra-Kick. Wenn dann aber Terroristen ihn bei einer authentischen Motorradtour durch die Sahara kidnappen, erwartet er selbstverständlich, dass sich andere in Gefahr begeben und vielleicht hohes Lösegeld zahlen um ihn wieder frei zu bekommen.

Es gibt eine andere Exotik in Übersee, die viel authentischer ist als das Touristentheater. Das ist die Armut in Ländern, in denen noch große Teile der Bevölkerung mit einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Doch Touristen kann nicht empfohlen werden in brasilianische Favelas oder indische Slums zu gehen. Dort würden sie Lebensweisen finden, die sich wirklich deutlich von dem unterscheiden, was wir von zuhause kennen. Das sind übrigens Lebensweisen, die in der Vergangenheit auch bei uns ganz authentisch waren – in den Zeiten, aus denen viele der von Touristen so geschätzten Traditionen unter ganz anderen Umständen entstanden sind.

Wenn der Tourist nach Hause zurückkehrt, dann will er etwas mitbringen – eine Art Fetisch, der die Verbindung zu dem Urlaubsort hält, also mehr ist als eine bloße Erinnerung. Dazu sollte auch das Andenken authentisch sein.  Die Enttäuschung ist groß,  wenn auf der Unterseite des Andenkens „Made in China“ steht, es sei denn, man war in China (dann wäre „Made in Germany“ eine Enttäuschung). Aber selbst die wirklich lokal hergestellten Souvenirs folgen heute einem Schema, das längst global ist, denn der Geschmack der Käufer ist global. Mancher, der zuhause ein untrügliches Gespür für Kitsch hat, ist bereit Andenken zu kaufen, die er selbst als Kitsch bezeichnen würde.

Tourismus als Besuch des Welt-Theaters, Traditionen als Bühnenstücke,  Andenken als Kitsch-Fetische, all das unauthentische – ist das nicht alles Anlass für eine massive Kulturkritik? – Im Gegenteil: alles dieses ist Ausdruck unserer modernen – oder soll ich sagen post-modernen Kultur. Denn auch zuhause ist das tägliche Theaterspiel Teil unseres Lebens. Wirtschaft und Politik finden hinter eine öffentlichen Fassade statt, wie die orthodoxe Messe hinter der Ikonostase. Vor der Öffentlichkeit aber wird das Zeremoniell abgehalten. Was uns die Medien als Info-tainment bieten ist auch eine Form des Theaters.

Monarchien wie in Großbritannien,  Spanien, den Niederlanden oder Skandinavien hatten schon immer Sinn für ein ausgeprägtes Staatsschauspiel. Der Tourismus wird durch die opernhafte Prachtentfaltung sichtlich gefördert,  die bunten Uniformen, die Reiterei, die traditionellen Zeremonien, alles das ist ebenso Theater wie die Touristenspektakel in andalusischen Flamenco-Lokalen oder die Torfkähne im Teufelsmoor. Damit wird ein kulturelles Bedürfnis erfüllt. Unser Alltag ist sehr profan geworden, da fehlt Farbe und  Musik, da fehlt ein Schuss Kitsch und Sentimentalität – das deutsche Regietheater kann bzw. will das auch nicht bieten. So bleibt uns der entspannte Urlaub im Theater für Touristen. Tourismus ist heute Teil unserer Kultur, und das Theaterspiel für das authentische  oder eben authentifizierte Urlaubserlebnis gehört dazu.