Die Abstimmung

Die Abstimmung 

(Georg Boomgaarden, Moskau 1995)

Seit Wochen war die Kampagne auf vollen Touren. überall hingen Plakate. Spots im Fern­sehen warben für die größte Volksabstimmung aller Zeiten. Die Menschheit als Ganzes war zum ersten Mal aufgefordert, in demokratischer Abstimmung zu entscheiden. Niemand stellte das Prinzip: ein Mensch - eine Stimme infrage. Vom vollendeten 16.Lebensjahr an war jeder stimm­berechtigt. Chinesen, Nigerianer oder Deutsche stimmten ebenso ab wie Russen, Amerikaner, Monegassen oder Nicaraguaner. 

"Wer sich der Stimme enthält, gibt sie den anderen" - ließ der Oberste Wahlrat verkünden, der für die Durchführung der Abstimmung verantwortlich war. "Das Überleben der Menschheit steht auf dem Spiel" lautete die Unterschrift unter einem Plakat, das eine dichtgedrängte Menge zeigte, die ihre Hände nach einem darüberhängenden Brotkorb streckte. "Weniger ist mehr!" hieß es lakonisch auf einem anderen Plakat, das eine Ein- Kind-Familie an einem reichlich gedeckten Tisch zeigte.


Eine wichtige Entscheidung stand zur Abstim­mung: es ging darum, das Problem der Überbe­völkerung zu lösen. Seit Jahrzehnten gab es die verschiedensten Lösungsvorschläge, aber die Bevölkerung der Erde war immer weiter ange­wachsen. Jetzt waren es 22 Milliarden und das Wachstum war immer noch nicht gestoppt.


Die Folgen waren schlimm: die Umweltkatastrophe war schon eingetreten, Kriege um Wasser-Ressourcen, Konflikte um Luft und Kämpfe um Nahrungsmittel häuften sich. Immer noch gab es arme und reiche Länder, aber alle gemeinsam sahen den Untergang vor sich, wenn nicht dringend etwas geschah. Die alten Regelungsmechanismen hatten versagt. Zwar starben in den armen Ländern fast die Hälfte der Kinder bevor sie zehn Jahre alt waren, zwar forderten neue Epidemien und Umweltver­giftung selbst in den reicheren Gebieten ihren Tribut. Aber die Bevölkerung war dennoch weiter gewachsen. Niemand war bereit gewesen, einsei­tig auf das Wachstum zu verzichten oder gar seinen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Planeten zu ver­mindern.


Für ein paar Jahre war es anders gewesen. Die reicheren Länder zeigten ein immer geringeres Bevölkerungswachstum, ja einige schrumpften sogar. Es gab die These, daß allein Reichtum gegen Überbevölkerung helfe.


Aber dann kamen zwei Dinge, die den Trend wie­der umkehrten. Zuerst forderte die Umweltkrise so viele Opfer und verminderte die Lebenser­wartung auch in den reichsten Gebieten in dramatischer Weise auf etwa 55 Jahre, so daß die Menschen begannen, mehr Kinder zu haben, damit wenigstens einige der Nachkommen überlebten. 

Und dann kam hinzu, daß Ansprüche auf einen Anteil an den Gütern der Welt nur auf die Zahl der Menschen gestützt werden konnten. Die Milliarden des Südens konnten immer mehr Druck darauf aus­üben, daß das Prinzip "Ein-Mann- ein-Brot" durchgesetzt wurde. Dies hieße nicht etwa, daß dieses Prinzip schon durchgesetzt wäre, nur war es allgemein so weithin akzeptiert, daß jeder Staat, der nicht genügend viele Menschen aufzuweisen hatte, unter Druck geriet. Die Folge war nicht etwa, mehr abzugeben, sondern es wurde geradezu um die Wette die größere Familie gefördert.


Der Papst trat nach wie vor vorzugsweise für den Schutz des ungeborenen Lebens ein und dis­ziplinierte diejenigen, die den Schutz des geborenen Lebens darüber stellen wollten.


Nun stand die Abstimmung vor der Tür. Einige traten dagegen auf und erklärten sie für unethisch. Die Mehrheit könne in einer so wichtigen Frage nicht allein bestimmen, was geschehen solle. Diesen wurde entgegengehal­ten, daß sie keine Demokraten seien. Es gab eine Gemeinsamkeit aller Demokraten, die Mehr­heitsentscheidung zu akzeptieren, auch wenn anerkannt wurde, daß demokratische Entschei­dungen nicht unfehlbar waren, so gab es doch kein besseres Verfahren. Andere hatten Beden­ken gegen die genannten Zahlen. Ein erbitter­ter Streit entbrannte darum, ob nicht eine Reduzierung der Bevölkerung um 20% ausreichen würden oder ob sogar über die zur Abstimmung stehenden 33% hinausgegangen werden sollte. 

Jede Seite brachte ihre Gutachter vor die Kameras, die jeweils anderen wurden verteu­felt, der Unwissenschaftlichkeit oder einfach der Ignoranz gescholten. Manche ließ die ganze Abstimmung kalt: sie pflegten ihre Gärten, düngten biologisch-dynamisch, aßen ihre Sesam­körner und debattierten darüber, ob der Sozia­lismus vor vielen Jahrzehnten nicht doch eine Chance gehabt hätte, wenn er ... - aber es wäre ein ganzer Roman, diese Debatte weiter auszuführen!


Der Tag der Abstimmung war gekommen. Eigent­lich war es nicht ein einzelner Tag, denn in verschiedenen Ländern durfte innerhalb von drei Tagen der Wahltermin flexibel festgelegt werden. Wichtig war, daß das Ergebnis der Abstimmung aus keinem Bezirk bekanntgegeben werden durfte, bevor nicht alle Gebiete der Erde abgestimmt hatten. Bei uns fiel der Tag wie schon traditionell auf einen Sonntag. Schon am Vormittag deutete sich eine recht gute Beteiligung an. Man erwartete bei uns über 70% Wahlbeteiligung, einige Länder wie die USA würden wahrscheinlich kaum auf 40% kommen. Aber es war ja auch eine wichtige Abstimmung und immerhin die erste, die überall auf der ganzen Welt stattfand.


Das Bevölkerungsproblem hatte die Gemüter schon lange erregt. Als Malthus im Jahre 1798 seinen Essay schrieb, wo er sein Bevölkerungsgesetz entwickelte, meinten einige, daß die Katastrophe schon vor der Tür stand. Aber die Erde konnte viel mehr Menschen tragen als man angenommen hatte. Hätten nicht Kriege und Rüstungswahnsinn, Ungleichheit und fehlende Solidarität dies verhindert, dann hätte man schon Ende des vorigen Jahrhunderts alle Menschen zumindest ernähren können, ihnen ein Dach über den Kopf verschafft und ein Minimum an Bildung vermitteln können. 

Aber die Zeiten waren nicht so. Man schob sich gegen­seitig die Schuld zu: die Reichen beuteten die Armen durch ungleichen Handel aus, die Armen zerfleischten sich gegenseitig in sinnlosen Kriegen, die Reichen behinderten den Handel durch Protektion, die Armen erschwerten ihre Lage durch Behinderung der freien Wirtschaft. Man könnte diese Liste der Vorwürfe weit ausdehnen. Fest steht, daß um die Jahrhundert­wende jährlich 100 Millionen Kinder unter fünf Jahren starben ohne daß das Bevölkerungswachs­tum gebremst wurde. Die malthusianische Kata­strophe war zwar eingetreten, aber als Regulativ war selbst sie nicht mehr geeignet.


Neue Ideen kamen auf: das chinesische Modell der Ein-Kinder-Ehe versprach gute Ergebnisse. Trotz mancher Verstöße gegen das Gesetz, sorgte doch ausreichender staatlicher Terror dafür, daß summa summarum die Bevölkerung sta­bil blieb. Auch dieses System brach zusammen, und als Indien die 2 Milliarden-Grenze überschritten hatte und China fürchtete, ins Hintertreffen zu geraten, wurde auch dort wieder Geburtenförderung betrieben. In Afrika hatte die Natur grausa­mer als anderswo die Bevölkerung dezimiert. Zu Epidemien kamen die Ausbreitung der Wüsten -vom Menschen nach Kräften befördert und Kriege, die mehrmals in Genozid endeten. Dort waren Ideen zur Begrenzung des Bevölkerungs­wachstums wenig populär. Die führenden Staats­männer hatten andere Prioritäten.


In Lateinamerika war ein bescheidener Wohl­stand für eine immer breitere Mittelschicht möglich geworden. Daneben gab es natürlich die hoffnungslos zurückgebliebenen Gebiete, die der Fürsorge karitativer Organisationen auf Dauer überlassen blieben. Die Kirche hatte hier große soziale Leistungen vollbracht - auch die Zahl der Taufen nahm ständig zu. Die Mittelschichten in den Metropolen fühlten sich immer mehr bedroht von diesen Marginalisierten und igelten sich in ihren festungsartigen Städten ein. An Geburtenkontrolle war nicht zu denken.


Ich ging zum Abstimmungslokal. Mit ernsten und heiteren Mienen, einige mit ihrer Familie schlendernd, andere geschäftig eilend, kamen mir diejenigen entgegen, die schon vom Wahlakt zurückkehrten. "Zeigen auch Sie Verantwortung" strahlte mir ein sympathisches Gesicht von einem überdimensionalen Plakat entgegen. 

Abge­stimmt wurde im städtischen Kindergarten. In den hellen, schönen Räumen, die heute sonnen­durchflutet waren, standen an den Wänden Spielzeugkästen. Der Wahlraum war in pastell­rosa getüncht. Ich gab meine Abstimmungsbe­rechtigungskarte ab. Der Wahlhelfer prüfte die Angaben und kreuzte meinen Namen auf der Wählerliste an. Dann gab er mir den Stimmzet­tel zusammen mit einem grünlichen Umschlag. Ich ging in die Kabine. Nur JA oder NEIN war anzukreuzen. Die Frage lautete:

 Sind sie dafür, die Bevölkerung des Planeten Erde sofort um ein Drittel zu vermindern und einem Losverfahren unter der Aufsicht des Weltsicherheitsrates zuzustimmen, das festlegt, welche Personen dem Drittel zugeordnet werden sollen, das von dieser Verminderung direkt und sofort betroffen sein wird ?


Ich zögerte ...