In der Mitte des Lebens

In der Mitte des Lebens


In der Mitte meines Lebens ging ich durch die große Stadt. Grelles Neon, flackernde Reklame spiegelten sich auf der regennassen Straße. Die Gesichter, die entgegenkamen, waren mir fremd. Meine Gedanken waren einsam und ohne Richtung. Meine Füße trugen meinen von mir detachierten Körper, der die Regentropfen kaum verspürte. Ohne festes Ziel bog ich in eine Gasse ein, aus der Musik zu tönen schien. Vor einem Gully hatte sich eine Zigarettenschachtel festgeklemmt und staute das rinnende Wasser auf, bevor es gurgelnd zwischen den eisernen Zähnen verschwand. 

Den Namen des Lokals sah ich eher zufällig - links ein verschlungener Neonkolben, der in giftigem Grün eine Palme darstellen sollte, daneben stand in orangenen Lettern "Paradiso". Jedenfalls ging es ein paar Stufen hinab, dann durch eine schwarzbeschlagene Tür in den Barraum. Ich weiß noch, daß hinter einigen Ginflaschen, die sich an einem Spiegelwand verdoppelten, eine Schiffsuhr stand. Sie schlug vier mal mit hellem zartem Kling-Kling, acht Glasen zur Mitternacht. Was ich getrunken habe ? - Ich glaube es waren einige Halbe. Dann noch ein paar Whisky und dann - ist ja auch egal !

Wie ich an Beatrice gekommen bin, weiß ich auch nicht mehr. Jedenfalls war sie bei mir, als ich aus dem schönen Rausch erwachte.

Die Zeit, die ich mit Beatrice verbrachte, war ohne Anfang und ohne Ende - von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Es war ein Traum, eine Trance, die Liebe in ihrer höchsten Reinheit. Mein Wille und mein Wünschen waren nur noch von der Liebe bestimmt. Die Sonne schien schon durch das offene Fenster als ich erwachte. Noch halb schlafend, halb die Frische der Morgenluft verspürend, hörte ich die helle Stimme von Beatrice: Mir war wie einem, welcher beim Erwachen den Traum vergaß und sich die Stirne reibt, umsonst sein Gedächtnis zu entfachen. 

Beatrice stand an der Balkontür. Sie trug ein langes weißes Kleid, das locker ihre harmonischen Formen umfloß. Sie lächelte als sei sie von einer anderen Welt. Mehr tanzend, denn gehend, sich einige Male um sich selbst drehend mit einer Eleganz, die mich bannte, durchmaß sie das Schlafzimmer. Das Sonnenlicht drang weit in den Raum und druchflutete ihn, so daß Beatrice gleichsam in einem Fluß des Lichtes trieb.

Auf dem weißgedeckten Tisch stand eine Kristallvase mit roten Rosen. Die Rosen dufteten frisch, ich schaute die Schönheit der Rosenblätter, deren jedes für sich ein Spiel der Farben vom zartesten rosa bis ins tiefe weinrot hinein schimmern ließ. Wir tranken Milch und aßen frische Erdbeeren. Seit meiner Kindheit versetzt mich der Gedanke an frische, rote Erdbeeren in den Zustand der Seligkeit. Ich nahm immer nur eine auf einmal auf den silbernen Löffel und ließ sie langsam auf der Zunge zergehen.

Vor dem Haus blühten die Magnolien, Kastanien hatten ihre Kerzen aufgesetzt und verwandelten die Allee in einen festlichen Corso. Vögel pfiffen ihr Liedchen und lockten ihre Liebchen. Beatrice legte eine Platte mit festlichen Trompetenkonzerten von Corelli auf. Ich schwelgte in den hellen reinen Klängen und konnte den Blick nicht von Beatrice wenden. War sie es wirklich, mit der ich mich in der Nacht vereinigt hatte. Welche Gnade hatte mich mit dieser Venus verschmelzen lassen. Jede Hoffnung übertreffend war Wirklichkeit geworden, was in meinen Träumen mich vor Wonne zittern ließ.

Mittags saßen wir auf der Terasse des Alster-Cafés und schauten zu, wie sich in der leichten Brise die Segel der Jollen blähten. Es war der erste wirklich schöne Tag in diesem Sommer. Beatrice schmiegte sich an mich und strich mir über die Haare.

- ich muß weg! - Mach's gut !

- bleib doch, es ist so ein wunderbarer Tag, erwiderte ich.

- Du must noch viel lernen, sagte sie - ich kann nicht bleiben.

- Warum hast du mich mitgenommen ? - fragte ich.

- Ich arbeite gelegentlich im "Paradiso", aber ohne feste Anstellung.  Da, wo du heute nacht warst. Du hast mich die ganze Zeit angestarrt, ich hatte Mitleid mit dir. Du hattest zu viel getrunken. Aber du warst sanft wie ein Lamm. Manche werden ausfallend, ja gewalttätig, aber du warst wie ein Lämmchen. Als ich nach Hause ging, habe ich dich mitgenommen, du warst ja nicht mehr in der Lage irgendwo hinzugehen - auf der Straße hättest du gelegen. Du gefällst mir übrigens und im Bett warst du wunderbar. Die meisten können nicht, wenn sie getrunken haben - aber du warst ganz lieb, ganz vorsichtig und ganz zart. Ich mag das. Die meisten anderen sind vulgär. Da mache ich meinen Job und das wars dann. Aber bei dir war das anders.

- Willst du sagen, du machst es mit..." - fing ich an. Sie unterbrach mich.

- Aber natürlich. Was hast du erwartet ?

Ich wollte nicht begreifen, daß Beatrice eine Hure war - ich hätte es doch wissen müssen! Aber - so sagte ich mir - sie war es eigentlich auch nicht. Sie ging ihrem erwählten Berufe sehr wählerisch nach und ging nicht mit jedermann ins Bett. Ihren Beruf mußte man eben akzeptieren, auch wenn es mich verletzte.

Ich war fest entschlossen, Beatrice zu retten, sie aus den Klauen ihres Elends zu befreien. Ob sie es wert war ? - Ich fragte nicht mehr danach. Alle ihre Boshaftigkeit und ihren Hang zur Lüge hatte ich zu spüren bekommen, aber ich führte es auf ihre schlimmen Lebenserfahrungen zurück. Wenn sie erst bei mir lebte, dann wird alles anders.

Beatrice riß sich von mir los und rannte zu dem Taxistand, stieg ein und fuhr los. Ich sprang in das nächste Taxi und rief außer Atem: folgen Sie dem Taxi da vorne, ich darf sie nicht verlieren.

Der Taxifahrer war von der wissenden Sorte: Aber natürlich, keine Aufregung, wir werden sie nicht verlieren, man soll ja den Weibern nicht nachlaufen, aber hinterherfahren kann man schon.

Ach so eine ist das ! -sagte der Taxifahrer trocken, als das Taxi mit Beatrice anhielt und sie ausstieg. Was heißt hier: so eine ist das ? Sehen Sie doch,  das ist die Hafenklinik und dort vorne links müssen sich die Huren zur Gesundheitskontrolle melden. Lassen sie die Frau gehen, das ist nichts für Sie, meinte er wohlwollend. Soll ich Sie zurückfahren ?

Mein Herz pochte wie ein Niethammer, meine Gurgel wurde eng. Stimmte es doch, was ich im innersten immer noch nicht zu glauben bereit war ? - Ich stürzte ihr nach. Der Pförtner hielt mich auf. Ich muß dringend zum Zimmer 654 log ich; da müssen sie sich versehen haben, diese Nummer gibt es bei uns nicht - außerdem ist keine Besuchszeit. Zu wem wollen Sie denn ? - 

Ich mußte die Taktik ändern. Ich will gar nicht zu einem Pateienten, ich bin mit Dr.Müller verabredet. Welche Station ? - ich glaube 4 , aber es kann auch 7 sein, ich habe es nicht so genau im Kopf - innerlich hoffte ich, daß in dieser Klinik keine Abweichung von der Statistik vorlag, nach der es in jeder deutschen Institution mit mehr als 100 Mitarbeitern auch einen Müller gibt - und in einem Krankenhaus selbstverstädnlich Dr.Müller. 

Aber der sture Bürokrat ließ nicht locker. Haben sie denn eine Telefonnummer oder irgendein Papier ? - Ich kramte ein wenig in meinen Taschen herum, suchte hier, stocherte dort, dann setzte ich einen leidenden Gesichtsausdruck auf - oder das was ich dafür hielt und bedauerte: ich muß es zuhause liegengelassen haben. Der Zerberus war unbezwingbar. Der Venunft war er unzugänglich, so hoffte ich auf seine Bestechlichkeit. Aber damit brachte ich den Minos nur in Rage. Sehen Sie nicht, daß ich zu tun habe, fauchte er mich an, belästigen Sie mich nicht weiter.

Es blieb mir gar nichts anderes übrig als draußen zu warten. Es wurde früh dunkel. Beatrice war lange geblieben. Plötzlich sah ich sie - die Haare aufgelöst im Wind fliegend. Sie war schön wie immer, aber ihr Gesicht war eine Spur zu hart, ihre Augen waren unter den Schatten der Neonleuchten nur schwarze Höhlen, das blaue Licht gab ihr eine fahlgelbe Hautfarbe. 

Die Tür zu dem Pförtnerhaus schlug trocken metallisch zu. Sie ging an mir vorbei. Sie mußte mich sehen. Aber sie schaute an mir vorbei und ging zu ihrem Taxi. Kurz bevor sie die Tür schloß, schaute sie auf, sah sie wortlos zu mir hinüber. Jetzt wußte ich es. Es war vorbei. Ein geplatzter Traum ließ mich allein stehen.

Wie lange ich erstarrt gestanden hatte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war es wie ein Erwachen in einer anderen Welt als mich eine Männerstimme fragte:

- warten sie auf jemanden ? -

Ich war verwirrt -jedenfalls stotterte ich nur herum und konnte den Frager nicht befriedigen.

- Kommen Sie mit mir, sie frieren sich ja die Beine ab. Ich arbeite hier.

Diesmal war es kein Problem, den Höllenhund am Eingang zu überwinden.

- Guten Abend, Herr Doktor, grüßte er artig und ließ mich unter dem Schirm des hohen Titels passieren als sei die Vorgeschichte abgeschlossen und die Geschichte beginne erst.

- Ich habe heute Bereitschaftsdienst, kommen Sie doch erst einmal herein. Was war los ? Ich sah sie dort so in sich versunken stehen. Da ist etwas passiert, dachte ich bei mir, der Mann braucht Beistand. Halte ich Sie auf ?

Ich verneinte.

Der Abend kam näher und Durch das Leiden reinigte sich mein Geist allmählich von seiner Verhexung. Die Illusionen schwanden wie Schemen, die sich aus einem Film ausblenden.

- Danke für ihre Freundlichkeit, ich war etwas durcheinander, ich weiß auch nicht, warum. Aber jetzt will ich Sie nicht aufhalten. Sie werden sicher zu tun haben.

- Bitte bleiben Sie doch. Ich freue mich, wenn sie mir Gesellschaft leisten, ich bin nicht gerne allein hier. Müller heiße ich übrigens, Dr. Werner Müller.

-Sehr erfreut, ich heiße Danto, Emilio Danto - meine Eltern sind Italiener aus Florenz, wissen Sie.

-Wie interessant, aus der Toskana. Ich habe einmal einige Semester in Mantua studiert. Da bin ich natürlich auch viel gereist.  Ich liebe Italien. Aber die Politik dort, das ist ja furchtbar, diese Korruption, Mafia und Terroristen, hoffentlich räumt da mal jemand auf ! - Sie sprechen übrigens sehr gut Deutsch - wo haben Sie das denn gelernt ?

- Ich bin hier in Deutschland geboren und bin hier aufgewachsen.

- Whisky ?

- Ja, danke.

- Mit Soda ?

- mit etwas Wasser. Danke ich nehme mir schon etwas.

- einen kleinen Whisky-Soda kann ich auch vertragen - sagte er , und schenkte sich einen nicht ganz kleinen Whisky-Soda ein.

Wir schauten uns an. Dr.Müller hatte dunkle Augen. Ich war immer zuerst auf die Augen fixiert. Ob ich jemandem traute oder nicht - die Augen waren entscheidend. Er war nicht sehr groß, aber athletisch gebaut, wahrscheinlich ein sportlicher Typ. Ich mochte sportliche Typen eigentlich nicht, aber die Augen hatten mich schon gewonnen.

- Zum Wohl, Emilio - ich darf doch Emilio sagen ? - ich heiße übrigens Werner - und so tranken wir uns zu und kamen ins Reden. Es ging um Gott und die Welt.

- Ach ja, - sagte Werner und machte eine Kunstpause und wechselte das Thema.

- Wir haben nachts oft Neuaufnahmen. Meistens Verkehrsunfälle und Schlägereien. Aber auch andere Krankheiten.  Da kommt irgendsoein Seemann mit seinem Schiff nach Hamburg und da stellt sich heraus, daß sein Blinddarm beschlossen hat, in Hamburg zu bleiben. Das ist eine Routinesache.

Von draußen klang ein Martinshorn. Ein Krankenwagen bog in die Zufahrt zum Hospital ein. Die gelben Türen mit dem roten Balken wurden schnell geöffnet, eilig trugen zwei weißgekleidete Männer jemanden zu uns herein.

- Schnell - er hat wahrscheinlich den Arm gebrochen - riefen die Sanitäter.

Es war ein junger Mann, fast noch ein Knabe, jedenfalls seinem Milchgesicht nach zu urteilen, das vielleicht auch durch den Schock blasser war als gewöhnlich. Der Fall war schnell erledigt: mit einer Schiene und einem Verband konnte der Knabe das Hospital sogar wieder verlassen. Morgen wird er einen richtigen Gips bekommen.

Ich ging mit Werner die Treppen hinauf  zur Station 8

Der neunte Fall war es am heutigen Abend - keine ungewöhnliche Zahl - eher etwas weniger als sonst. Aber was ist überhaupt ein Fall, wenn es um Menschen geht. Werner ging hinaus. Auf einer Trage wurde eine junge Frau hineingetragen. Das Gesicht war völlig zerstört, der Schädel hatte eine schwere Fraktur, die Glieder hingen in Fetzen herunter. Nie hatte ich so etwas gesehen. Es würgte in mir. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Welche Hoffnung sollte da noch bestehen.

- wir werden tun, was wir können, -sagte Werner, aber die Frau wird nicht wieder sehen können, sie wird an den Rollstuhl gefesselt bleiben und ihr Gesicht bleibt entstellt. Ob ihr Gehirn wirklich wieder richtig funktionieren wird, ist fraglich. Die Polizei hat sie gefunden. Angeblich Mordversuch an einer Prostituierten. Die Mädchen leben gefährlich auf dem Kietz !

Ein Polizeibeamter brachte die bei der Schwerverletzten gefundenen Papiere. Werner schaute in seiner Kartei nach und zog eine Karteikarte heraus.

- die Adler! - wir kennen das Mädchen. Sie ist hier in Behandlung. Sie hätte längst aufhören müssen! Es ist unverantwortlich, aber was soll man schon tun. Die Menschen sind unbelehrbar!  Ich gehe mit nach oben, vielleicht können wir sie noch einmal zusammenflicken.

Als Werner den Raum verlassen hatte, eilte ich zu der Kartei, die offen vor mir stand. Nervös ließ ich die Karteikarten durch meine Finger fließen, schaute flüchtig hin, fixiert nur auf das eine - ob der Name Beatrice irgendwo vermerkt war. Warum hatte ich sie nicht nach ihrem Nachnamen gefragt ? - Unsinn ! Die Liebe kennt keine Nachnamen.

Da war es - Beatrice Adler -geboren 7.2.1970 - wohnhaft, usw. usw.,  HIV-positiv.

ich wartete Werners Rückkehr nicht ab, sondern stürzte hinaus und rannte und rannte wie von Sinnen.

Mein Körper kehrte zu mir zurück. Was war ich mehr als dieser Körper, der früher oder später todgeweiht war ? - War es nicht die Richtung, die ich immer gewußt habe und nie wahrhaben wollte ? Meine Gedanken konnten sich nicht mehr lösen von dem Weg, den ich vor mir sah.

Ich war niedergeschlagen und doch befreit. Ich war gereift für die Hölle des Lebens, durch die Wahrheit befreit vom Fegefeuer der Angst.

Trage das Kreuz, das dir der HERR bestimmt hat, sagte der Priester, trage es wie unser Herr Jesus Christus und du wirst erlöst werden.  Vom Hamburger Michel tönten 12 schwere Schläge. Ich weiß jetzt, das ich bald erlöst sein werde.