An der Quelle des Tao 79


Versöhnt man großen Groll, 

und es bleibt noch Groll übrig, 

wie wäre das gut? 

Darum hält der Berufene sich an seine Pflicht 

und verlangt nichts von anderen.

Darum: Wer LEBEN hat, 

hält sich an seine Pflicht, 

wer kein LEBEN hat, 

hält sich an sein Recht.


Der große Groll ist in unseren Tagen leider überall auf der Welt in Gestalt von Gewaltbereitschaft zu finden. Wir selbst sind nicht frei davon. Gewiss erinnern Sie sich an Situationen, in denen Sie am liebsten, wie man im Volksmund sagt, mit Eisenbahnschienen dreingeschlagen hätten. Laotse wusste einst auch ohne Studium der Psychologie, dass selbst bei einem Lebensmodell der Gewaltlosigkeit im menschlichen Stammhirn Rudimente urtümlicher Gewaltbereitschaft schlummern. Dass so etwas nicht gut ist, braucht er uns in seinem neunundsiebzigsten Spruch nicht erst mit seiner Frage ,wie wäre das gut?“ unter die Nase zu reiben. Ihr Gehirn und natürlich auch meines - ist das Gehirn der Menschheit, das sich in Jahrmillionen zu seinem heutigen Stand entwickelt hat. Mit seinen Überbleibseln aus der Reptilien Vergangenheit scheint es noch immer nicht genügend Zellverbände entwickelt zu haben, die ein friedliches Zusammenleben mit Artgenossen, geschweige denn mit anderen Lebewesen garantieren. Immerhin hat die Vernunft insoweit gesiegt, dass es inzwischen weltweite Abkommen gegen den Missbrauch von Massenvernichtungswaffen gibt, so dass unser Planet wohl noch eine längere Zeitspanne unter seinen Bewohnern wie unter Parasitenbefall zu leiden haben wird. Nichtsdestoweniger, und allen Heils- und Friedensbotschaften zum Trotz, bleibt nach der Versöhnung leider noch eine gewaltige Restmenge des großen Grolls übrig. Menschen hassen sich, und dies primär ihrer unterschiedlichen Überzeugungen wegen. Dass die Güter dieser Welt ungerecht verteilt sind, ist kein Geheimnis. Die Massen leiden unter der Raffgier und den Monopolen der Reichen. Aber dort, wo man sich zur Wehr setzt, sind nicht etwa diese Monopolisten die Opfer – es sind nur ähnlich Arme, die zu ihrem Pech eben eine andere Weltanschauung haben als die verzweifelten Aggressoren. Laotse hat die einstigen Zustände beinahe höflich kritisiert, aber man spürt beim Hineinfühlen doch die Resignation heraus, mit der die Zeilen verfasst worden sind.


Laotse hat für die Behebung des Missstandes eigentlich kein Rezept, selbst ihm fällt nichts ein, was ein Millionenvolk als Ganzes befrieden könnte. Er mag einst geahnt haben, wie langsam die Evolution unsere Hirnmasse verändert vielleicht hat er sogar gefühlt, dass chaotische soziale Zustände unter den Völkern in der Großhirnrinde eher zusätzliche Muster aggressiver Abwehrbereitschaft wachsen lassen, statt dass die alten mangels Gebrauch verkümmern würden. Er setzt auf den Berufenen, also auf den Menschen des Tao. Es klingt fast wie ein Befehl, der Berufene möge sich an seine Pflicht halten und von anderen nichts verlangen – ergo auch nichts erwarten. Ich würde Pflicht aus heutiger Sicht mit Verantwortlichkeit übersetzen. Und zwar eine Verantwortungsbereitschaft, die der Mensch des WEGES einzig sich selbst abverlangt, von den anderen aber nicht einfordert. Weil er einsichtig genug ist, sie von seinen Mitmenschen erst gar nicht zu erwarten. Dass der Berufene willens und fähig ist, Verantwortung zu tragen und sie in seinem alltäglichen Leben konsequent einzusetzen, verdankt er laut Laotse der Tatsache, dass er LEBEN hat. Leben tun die anderen auch, aber dieses LEBEN bedeutet im chinesischen Originaltext die Lebensenergie Chi, die dritte Säule der taoistischen Philosophie. Chi fließt dem Menschen zu, der in sich selber die Quelle der Lebensenergie gefunden hat, die aus dem Tao strömt. Aus diesem Potenzial schöpft der Mensch des Tao alle Energie, für sein eigenes Leben die volle Verantwortung zu tragen. Er wird niemals in Fällen des Misslingens die Schuld bei anderen suchen. Er wird seine Fehler analysieren, sich zu ihnen bekennen – und auf der Stelle daraus lernen, damit sie sich niemals mehr wiederholen. Die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, heißt ein Sprichwort, das sind die Weisen. Die beim Irrtum verharren - das sind die Narren, Menschen, denen Chi fehlt, schließt Laotse seinen Spruch, halten sich an ihr Recht. Was auf Deutsch heißt, sie rennen zum Kadi, wenn die Folgen der eigenen Fehler sie zu überrollen beginnen. Sie lassen ihren großen Groll, sprich ihre Aggressionen bei jeder Gelegenheit an ihren Mitmenschen aus. Mit der Folge, dass sie selber natürlich nirgendwo in Frieden leben könnten. Man macht dann eben die anderen, die bösen, verständnislosen Mitmenschen, insbesondere die einem am nächsten Stehenden für alles verantwortlich. Der Unterschied zwischen der vom Chi gestärkten Verantwortungsbereitschaft einer Existenz und der via Bürgerliches Gesetzbuch in der Balance gehaltenen ist gewaltig. Frieden im Herzen werden vor allem jene Menschen finden pun damit auch zwangsläufig ihr gutes Recht die sich ihrer latenten Gewaltbereitschaft bewusst sind, sie nicht verleugnen, aber so selten wie möglich Gebrauch von ihr machen. Wie sagt die Bibel: „Wer zum Schwert greift, wird durchs Schwert umkommen." Wie wahr. Halten wir uns also in unserer Welt voller Turbulenzen an Laotses Rat und verlassen uns auf die Lebenskraft des Chi. Diese muss nicht erst erzeugt, erarbeitet, verdient oder er-meditiert werden sie ist schon immer da gewesen, selbst Laotse beschreibt etwas, das lange vor ihm im Menschen angelegt war.


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