An der Quelle des Tao 55


Wer des Lebens Fülle festhält, 

der gleicht einem neugeborenen Kindlein: 

Giftige Schlangen stechen es nicht. 

Reißende Tiere packen es nicht. 

Raubvögel stoßen nicht nach ihm. 

Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich, 

und doch kann es fest zugreifen. 

Es weiß noch nichts von Mann und Weib, 

und doch regt sich sein Blut, 

weil es des Samens Fülle hat. 

Es kann den ganzen Tag schreien, 

und doch wird seine Stimme nicht heiser, 

weil es des Friedens Fülle hat. 

Den Frieden erkennen heißt ewig sein. 

Die Ewigkeit erkennen heißt klar sein. 

Das Leben mehren nennt man Glück.

Für sein Begehren seine Kraft einsetzen nennt man stark. 

Jedoch: Sind die Dinge stark geworden, altern sie. 

Denn das ist Wider-SINN. 

Und Wider-SINN ist nahe dem Ende.


In seinem Werk „Die Weisheit des Laotse“ bezeichnet Lin Yutang Laotse und Chuang tzu als Philosophen. Schließlich verarbeiten die beiden Themen, die wir auch bei den meisten anderen Mitgliedern der philosophischen Fakultät wiederfinden: Fragen nach den Wurzeln des Seins, dem Sinn des Stattfindens und die Suche nach dem Woher und Wohin des sterblichen Menschen. Die alten Chinesen unterscheiden sich allerdings in einem wichtigen Punkt von einem Nietzsche, Kant, Schopenhauer oder Derrida. Wo die späteren Philosophen Fragen und mögliche Lösungen einander gegenüber stel- len, bestehen die Werke Laotses und auch der anderen alten Taoisten überwiegend aus Antworten. Und zwar sind dies Antworten, die in keinerlei Widerspruch zu den modernsten Erkenntnissen der Wissenschaft stehen, die sie im Gegenteil bestätigen und dies viele Jahrhunderte, bevor Männer wie Galilei, Kopernikus und Kepler um die Beseitigung von Irrtümern über die Position unserer Erde im Universum kämpfen mussten. Laotse unterscheidet sich von anderen Philosophen durch ein weiteres Phänomen: Seine Lehre vom Grund des Seins enthält keinerlei Inhalte, die er sich von älteren Berufskollegen „ausgeliehen“ hat. Er ist die Dinge von einer Position des Nichtwissens aus angegangen und hat ihnen gestattet, sich ihm zu offenbaren, was dann auch geschehen ist. Chuang tzu dagegen ist fünfhundert Jahre später voll und ganz auf die geistige Linie Laotses eingestiegen, ihm darf gutgeschrieben werden, dass er die taoistischen Grundgedanken verstanden hat und in seinen Arbeiten höchstens dort Entgleisungen sichtbar werden, wo seine überschäumende Fabulierkunst gelegentlich übers Ziel hinausschießt.


Sowohl Laotse wie auch Chuang tzu verwenden gerne das neugeborene Kind – letzterer auch das neugeborene Kalb - als Sinnbild der unverdorbenen Unschuld des Charakters und als Quelle der Kraft. Chuang tzu verpackt sein Gleichnis wie er dies oft tut, in einem erfundenen Gespräch über die Kunst der Konzentration und das neugeborene Kalb: 


Yeh Tschüeh (ein alter Lehrer zur Zeit Kaiser Yaos) befragte Phi Yi über das Tao, und Phi Yi antwortete: „Be- wahrt Eure Form richtig, konzentriert Eure Sicht, und die himmlische Harmonie wird Euch überkommen. Beherrscht Euren Verstand, konzentriert Euer Denken, und der Geist wird sich in Euch niederlassen. Das Chi soll Eure Kleidung sein und das Tao Eure Wohnung. Ihr werdet vor Euch hinstarren wie ein neugeborenes Kalb und nicht einmal versuchen, den Grund dafür zu finden. Chuang tzus Kommentar zu den finalen Sätzen des Spruches lautet: Unter einem leidenschaftslosen Menschen verstehe ich einen, der Vorlieben und Abneigungen nicht gestattet, sein inneres Gleichgewicht zu stören, sondern sich der Natur anpasst und nicht versucht, den Stoff des Lebens zu verbessern. 


Schön philosophiert, nicht wahr? Aber was geben uns Texte wie die vorausgegangenen für unseren eigenen Lebensweg mit? Die Unschuld des Säuglings ist eine beliebte Metapher, selbst in den Evangelien sagt Jesus „wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder, kommt Ihr nicht ins Himmelreich." Auch Freud hatte den Bruch erkannt, der sich in der Psyche des Säuglings vollzieht, sobald seine Gehirnzellen unter dem elterlichen Einfluss zu mutieren beginnen. Laotse plädiert dafür, aus freiem Willen in sich einen Zustand herzustellen, wie er vor den zahllosen Prozessen fremder Beeinflussung einmal in jedem von uns bestanden hat. Da stellt sich keine Frage, was man denn an Wissen über sich und seine Position zur Welt behalten und was besser aufgegeben werden solle. Es müssen sämtliche Kenntnisse über sich für unbrauchbar, für wertlos und als Hindernisse für die Entfaltung des wahren Selbst verstanden werden. Als ob das so einfach wäre. Gehen wir die Sache einmal mit dem gesunden Menschenverstand an wozu hat die Natur uns den denn sonst gegeben? Ich kenne etliche Personen, denen man ein kindliches Gemüt bescheinigen könnte. Aber deren ausgeprägteste Charaktereigenschaft ist ein hoher Grad von verantwortungsloser Unbekümmertheit. Das mag ihren Charme ausmachen, aber die Interessen solcher Leute, einschließlich ihrer Beziehungen zu anderen, besitzen nirgendwo auch nur den geringsten Grad von Tiefe. Es sind Menschen, die niemals bereit waren, erwachsen zu werden. So kann das Wesen von Laotses Säugling und Chuang tzus Kälbchen nicht beschaffen sein. Doch nun zu Ihnen: Sie können Ihre Psyche, die sich Ihr Leben lang aus den Einflüssen Ihrer Erfahrungen organisiert hat, nicht einfach auflösen oder für null und nichtig erklären. Derartige Ideen kultivieren nur realitätsferne Träumer. Was Sie tatsächlich tun, richtiger, unterlassen können, wäre folgendes: Sie stehen nach wie vor zu Ihrem Selbst, wie es gewachsen ist. Aber Ihr Verstand realisiert, dass Ihre Persönlichkeit als Ganzes wie ein riesiger Felsblock auf der Öffnung liegt, aus der das Chi, die Lebenskraft des Tao fließen will. Sie unternehmen dennoch nichts, um das Hindernis auf die Seite zu rollen, Sie spüren, dass das nicht geht, gleich, wie viele östliche Gurus behaupten, dass Sie es mit deren Hilfe und gegen entsprechendes Entgelt schaffen könnten. Sie erkennen die Blockade, aber Sie tun nichts dagegen. Sie blicken nur im Geist frustriert auf das Hindernis zu einem gelungenen Leben das Hindernis, das Sie selber sind. Aber diese entsagende Haltung ist der Hebel, der den Felsblock zur Seite rollt. Ein aus unbekannter Ferne kommender Impuls hat während der Enttäuschung über das eigene Unvermögen, etwas an sich zu ändern, ein Empfinden großer Leichtigkeit erzeugt. Ihr Gemüt hat im Verzicht darauf, das Ringen gegen sich selbst zu gewinnen, Wesenszüge angenommen, wie Sie diese einst als kleines Kind besaßen. Alle Ihre Probleme und ungelösten Fragen, all Ihr Streben, Ihre Träume, Visionen und Sehnsüchte haben in diesen Momenten ihr Gewicht verloren. Sie stehen mit beiden Füßen noch immer in der Welt, aber im resignierten Aufgeben haben Sie die Freiheit eines Menschen entdeckt, der intuitiv fühlt, dass er nichts zu tun braucht, um den Zugang zur Quelle des Chi zu öffnen. 


Laotse beendet seinen Spruch mit den Sätzen: Für sein Begehren seine Kraft einsetzen nennt man stark. Jedoch: Sind die Dinge stark geworden, altern sie. Denn das ist Wider-SINN. Und Wider-SINN ist nahe dem Ende. In Wilhelms Übersetzungen steht für das Tao meist das Wort SINN, ich habe es in meinen Arbeiten durch Tao ersetzt, nur wäre es diesmal etwas seltsam ausgefallen, wenn ich Wider-SINN gegen Wider-TAO ausgetauscht hätte. Seine Kraft für das eigene Begehren einsetzen, belehrt Laotse uns, beseitigt nicht die Blockaden des Chi, jede Aktion dieser Art zerstört die Wirksamkeit des Tao und lässt die Psyche im alten verkrampften Zustand zurück.


Zur Seite An der Quelle des Tao