An der Quelle des Tao 44


Der Name oder die Person: 

was steht näher?

Die Person oder der Besitz: 

was ist mehr? 

Gewinnen oder verlieren: 

was ist schlimmer? 

Nun aber: 

Wer sein Herz an anderes hängt, 

verbraucht notwendig Großes. 

Wer viel sammelt, 

verliert notwendig Wichtiges. 

Wer sich genügen lässt, 

kommt nicht in Schande. 

Wer Einhalt zu tun weiß, 

kommt nicht in Gefahr 

und kann ewig dauern. 


Mir will manchmal scheinen, dass Laotse ab und zu bereits vorhan- dene Texte nahm, sie ein wenig drehte und wendete – und siehe da: schon war wieder ein Spruch geboren. Auch macht mich diesmal die Sprache von Richard Wilhelm nicht besonders glücklich. Der gleiche Spruch in der Übersetzung von Lin Yutang liest sich geschmeidiger: 

Ruhm oder das eigene Leben was von beiden liebt man mehr? Das eigene Leben oder materielle Güter, was von beiden ist mehr wert? Verlust des Selbst oder der Besitz von Gütern – was davon ist das größere Übel? Wer am meisten liebt, gibt am meisten aus. Wer viel anhäuft, verliert viel. Dem Zufriedenen widerfährt keine Schande. Wer weiß, wann er aufhören soll gerät nicht in Gefahr und kann lange überdauern.


Aus diesen Zeilen lassen sich ohne weitere Auslegung Ansätze von Lebensregeln herauslesen. Chuang tzu kommentiert den Spruch mit ausladenden fiktiven Dialogen, die ich Ihnen ersparen werde. Eine abschließende Zusammenfassung, von der ich nicht sicher bin, ob sie aus seiner Feder - sprich seinem Pinsel stammt, nimmt nichtsdestoweniger relativ deutlich Stellung: 

Die das Leben verstehen, befassen sich nicht mit Dingen, die dem Leben nicht förderlich sind. Die, die das Schicksal verstehen, befassen sich nicht mit Dingen, gegen die es im Bereich der Erkenntnis keine Abhilfe gibt. Man hängt zwar von materiellen Mitteln ab, um den Leib zu kräftigen, doch gibt es sehr viele Menschen, die übergenug materielle Mittel besitzen, deren Leiber aber doch nicht kräftig sind. Man kann zwar nicht leben, ohne für seinen Leib zu sorgen, doch gibt es viele, die für ihren Leib sorgen und dennoch ihr Leben verlieren. 


Laotses Spruch samt der von eventuell unbekannter Hand verfassten Auslegung zeichnet eine Gesellschaft, deren Grund Mentalität sich in den letzten zweitausend Jahren kaum geändert, geschweige gebessert hat. Zuerst skizziert der Kommentator intelligentes, im taoistischen Sinne wünschenswertes Verhalten und weist auf die Gefahren unmäßiger Gier hin. Was nach der öffentlichen Meinung erstrebenswert ist, und wonach der Einzelne sich sehnt, worum er kämpft, ist nicht unbedingt das Mittel für ein glückliches Leben. Geld wird gebraucht und seine Bedeutung darf nicht unterschätzt werden, aber es ist auch das Suchtmittel, das Menschen derartig beherrscht, dass sie niemals genug davon bekommen können. Überlegungen, was gebraucht wird und was zuviel ist, werden nicht angestellt. Dafür sorgen bereits die Messlatten, an denen das Ansehen in dieser Gesellschaft gemessen wird. Je mehr einer vorzeigen kann, desto geachteter ist er. Doch was ist die öffentliche Anerkennung eigentlich wert? Was bedeutet es, dass mich mehr Menschen beachten, dass

alle Respekt vor mir haben? Die Anerkennung gilt doch gar nicht mir, dem Menschen der Kotau wird vor dem Geld gemacht, das ich zusammengerafft habe. Der Autor spricht von Leuten, die über- genug Mittel besitzen, dafür aber einen schwachen Leib was sagen will, dass sie kränkeln. Wie oft wird der hart erkämpfte Ruhm mit körperlichen Leiden bezahlt? Es klingt vermessen, aber ich schätze, zufriedene Menschen werden seltener krank als die ewig unzufriedenen, denen das stille Glück kleiner erfüllter Sehnsüchte nichts anderes als Rückschritt bedeutet, die fürchten, stehen zu bleiben, von den anderen überrollt zu werden, wenn sie in diesem Wettbewerb um eine Position auf der Skala des Ansehens nicht mitmischen. 

Zum Schluss dieser, durch die Natur der Grundaussagen bedingt, eher schwächlichen Auslegung soll Chuang tzu noch einmal mit einem authentischen Spruch zu Wort kommen: Eine Zikade vergnügt sich selbstvergessen im Schatten, doch eine Gottesanbeterin schleicht sich heran, um sie zu überfallen. Aber hinter der macht sich bereits ein großer Vogel bereit, sie zu verschlingen. Auf solche Weise verstricken sich die Dinge und Verlust folgt auf Gewinn. Dieses Szenarium kennen wir: die großen Tiere fressen die kleinen, der Stint wird vom Hering, der Hering vom Kabeljau und der Kabeljau wird vom Hai gefressen. Die Analogie zu den Vorgängen in der Wirtschaft drängt sich förmlich auf. Größere Unternehmen verlei- ben sich kleinere, meist von ihnen abhängige Geschäfte ein. Doch die größeren Firmen wiederum, sobald ihre Besitzanteile öffentlich gehandelt werden, sind ständig in Gefahr, von größeren Konzernen geschluckt zu werden. Selbstredend mit allen hässlichen Konsequenzen, die heute kein bisschen menschlicher als in der Pharaonenzeit sind: Arbeitsplätze verschwinden im Nichts, die gekaperten Unternehmen werden bis auf die Knochen ausgebeint und der übrig gebliebene Rest wird, verrückterweise mit Gewinn, weiterverkauft. Doch selbst die Großen können sich nicht mehr sicher fühlen. Es gibt immer noch größere und sobald einer der regionalen Marktführer seine Nase zu weit über seine Grenzen hinaus streckt, packt ihn der global operierende Feind und reißt ihn aus seinen scheinbar sicheren Gewässern. Als Mensch des Tao befinden Sie sich in unseren Tagen noch immer in der gleichen unsicheren Situation wie einst die Menschen im alten China. Die Feudalherren tragen heute Nadelstreifen statt mit Drachen bestickte Seidenkaftans, aber an ihrem Charakter hat sich nicht das Geringste geändert. Wer unter Ihnen eine Situation wie die beschriebene zu erwarten hat, darf Zuversicht aus Laotses Worten schöpfen: Wer Einhalt zu tun weiß, kommt nicht in Gefahr und kann ewig dauern. Der Mensch des Tao weiß, wann er sich bei diesem Tanz ums goldene Kalb zurückhalten muss. Er macht das wahnwitzige Rennen um immer mehr Geld und Einfluss nicht mit. Sein Wissen um seine Identität, selbst mit diesem ihn umgebenden Wahnsinn, macht ihn unverwundbar. Auch wenn rechts und links von ihm die Traumgebäude seiner gierigen Mit- menschen einstürzen, bleibt sein Dasein verschont. Inmitten einer nach zweieinhalb Jahrtausenden noch immer unverändert chaotischen Welt bleibt seine Position fest und unverrückbar wie der Fels in der Brandung. Die Harmonie des Lebens eines Menschen, der im Geist des Nichthandelns der kollektiven Gier abschwört, wird niemals in Gefahr geraten.


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