An der Quelle des Tao 35
Wer das große Urbild festhält,
zu dem komnt die Welt.
Sie kommt und wird nicht verletzt,
in Ruhe, Gleichheit und Seligkeit.
—————
Du schaust nach ihm und siehst nichts
Besonderes.
Du horchst nach ihm und hörst nichts Besonders.
Du handelst nach ihm und findest kein Ende.
Chuang tzu kommentiert Laotses 35. Spruch in Gestalt eines erfundenen Dialoges zwischen Liehtse und einem Mann namens Kuanyin. In diesem Gespräch wird Liehtse, der in seinem Werk die Herrschaft des Geistes über den Stoff betont, von seinem fiktiven Gesprächspartner über die Hauptströmungen des Denkens belehrt. (Kuanyin war der Wächter des Passes, der Laotse überredete, das Buch vom Tao zu schreiben.)
„Der vollkommene Mensch geht unerkannt in der Welt umher und begegnet keinen Hindernissen“ sagte Liehtse zu Kuanyin. „,Er schreitet auf Feuer, ohne die Hitze zu fühlen, und wandert furchtlos auf großen Höhen. Wie vermag er das zu tun?“ „Das kommt von der vollkommenen Konzentration des Geistes“, erwiderte Kuanyin. „Er gehört einer völlig anderen Seinsordnung an als menschliche Klugheit und physischer Mut. Lasst mich das erklären: Alles, was Ton, Farbe und Aussehen besitzt, gehört zu den stofflichen Dingen. Ein stoffliches Ding kann von einem anderen stofflichen Ding nicht allzu weit entfernt sein und kann von ihm aus nicht in die Nicht-Sinnenwelt hinaufreichen. Aber die Dinge sind aus dem Gestaltlosen geschaffen und kehren zum Unvergänglichen zurück. Wer an dem Tao festhält und ihm immerfort nachstrebt, kann durch die stofflichen Dinge nicht behindert werden.
Lin Yutang fasst den Kommentar zusammen: Das Ergebnis einer solchen Vermengung von Tun und Nichttun, eines Lebens, das sich sowohl oberhalb der Welt, als auch notwendigerweise innerhalb derselben abspielt, ist eine Geisteshaltung, die man Milde oder Reife nennen könnte, und die die Haupttugend des Taoisten ist.
Dort, wo im Spruch oben eine Leerzeile markiert ist, habe ich drei Sätze herausgelassen, weil sie nicht zum übrigen Inhalt pun ich Laotse eine solche Banalität auch nicht zuschreiben möchte. Der passen fehlende Text lautet: ,,Musik und Köder: Sie machen wohl den Wanderer auf seinem Weg anhalten. Das Tao geht aus dem Mund hervor, milde und ohne Geschmack. " Auch Chuang tzu ist auf diese Zeilen nicht eingegangen. Vielleicht sind sie erst in einem späteren Jahrhundert dem Originaltext hinzugemischt worden. Mir sagen die Worte jedenfalls nichts ich müsste erst einen Sinn erfinden, und damit wäre niemandem gedient. Doch zur Kernaussage des Spruches. Im Dialog mit meinen Leserinnen und Lesern tritt beinahe regelmäßig die Frage auf, wie man denn das Wesen des Tao im Alltag umsetzen könne. Wer Kenntnis von der taoistischen Lebens- kunst erhält und sie in die Praxis zu realisieren versucht, stößt regelmäßig auf das Phänomen, dass er sich binnen leider recht kurzer Frist wieder in seinem gewohnten Alltagstrott wiederfindet. Da hat ein voller Begeisterung angetretener geistiger Höhenflug bald wieder seinen Antrieb verloren, und der Mensch stellt sich die Frage, warum es denn so schwierig ist, Laotses Lehren in der wirklichen Welt umzusetzen. Wer sich ernsthaft mit dem Problem beschäftigt, wie es möglich werden soll, inmitten der täglich auftretenden Herausforderungen, der Existenzprobleme und verborgenen Bedrohungen einer sich immer mehr verhärtenden Situation zum Nichthandeln zu finden und vor allem, dort zu verweilen, wird bald einsehen, dass es ohne die Leidenschaft, die in Kuanyins Antwort auf die Frage Liehtses so stark zu spüren ist, nicht gelingen kann. Lasen Sie die Worte noch einmal auf sich einwirken und spüren Sie die Kraft, die von ihnen ausgeht:
„Das kommt von der vollkommenen Kon- zentration des Geistes. Er gehört einer völlig anderen Seinsordnung an als menschliche Klugheit und physischer Mut... Aber die Dinge sind aus dem Gestaltlosen geschaffen und kehren zum Unvergänglichen zurück. Wer an dem Tạo festhält und ihm immerfort nach strebt, kann durch die stofflichen Dinge nicht behindert werden.
Zugegeben, es ist leichter, die ethischen Grundsätze einer westlichen Religion umzusetzen, als sich in die bei aller metaphysischen Kraft trotzdem ziemlich allgemein gehaltenen Parolen Kuanyins hineinzuleben. Die meisten Menschen, die ich kenne, sind nicht besonders religiös. Sie respektieren die Gebote der Glaubenslehre, in der sie meist aufgewachsen sind, ohne dass jemand ein schlechtes Gewissen hätte, wenn er sich nicht buchstabengetreu an die Regeln seiner Kirche hält. Im Herzen bewahren die Menschen unseres Kulturkreises sich im Allgemeinen das Bild eines gütigen Vaters im Himmel, an den sich auch der nicht unbedingt Gehorsame in Notlagen wenden darf. Mit einem solchen emotionalen Rückhalt wäre auch die Nähe zum Taoismus leichter realisierbar. Der Mensch braucht ohne Zweifel gewisse Richtlinien, an denen er sein Leben orientieren kann, daran hat sich seit der Vorzeit nichts geändert. Im Gegenteil: je komplizierter das Zusammenleben in einer Gesellschaft wird, desto mehr wächst auch der Bedarf nach Handlungsanweisungen. Wie unselbständig die Leute ohne klare Richtlinien sind, mag Ihnen ein heiteres Beispiel zeigen: In unserer kleinen Bezirks- stadt stellt die Gemeindeverwaltung den alten Sportplatz als Parkfläche zur Verfügung. Ich amüsiere mich immer wieder, wie hilflos sich die Benutzer bei der Suche nach dem Platz verhalten, an dem sie ihr Auto lassen wollen. Auf dem sandigen Stück Land fehlen nämlich die weiß eingezeichneten Stellflächen! An Markttagen mit großem Andrang an Fahrzeugen bricht ein wahres Chaos aus, weil die Leute sich nicht dazu durchringen können, von sich aus eine gewisse Ordnung herzustellen. Die Autos stehen chaotisch durcheinander, sie behindern sich gegenseitig, sie versperren Durchfahrtswege und blockieren damit oft den Zugang zu dahinter liegenden freien Plätzen. Man könnte den Taoismus mit einem solchen unmarkierten Parkplatz vergleichen, weil ihm zum großen Teil die in anderen Religionsphilosophien so vertrauten und auch er- wünschten Gebote und Vorschriften fehlen. Die Lehren Laotses zeichnen sich durch eine bestürzende Fülle von Freiheit aus. Doch eben diese Freiheit ist es, die es Menschen so schwer macht, den WEG zu gehen. Hier fehlen die symbolischen Kreidelinien des Sportplatzes.
Wo den Christen Tag für Tag die Türen ihrer Kirchen und Heiligtümer offen stehen und sie zu jeder beliebigen Zeit Kräfte zur Stärkung ihres Glaubens schöpfen können, wo sie auf vertraute, seit Jahrhunderten bestehende Rituale zurückgreifen können, bleibt der Mensch des WEGES anscheinend allein auf sich gestellt. Die Er- kenntnis, dass der unbekannte Urgrund der Dinge und das eigene Selbst ein und dasselbe sind, muss den Zündfunken liefern, welcher die Flamme der Leidenschaft für ein gelungenes Leben am Lodern erhält. Doch einen Moment: Ich sagte anscheinend, denn Laotses weise Ratschläge im Tao te king und etliche von Chuang tzus versponnenen Metaphern ließen sich durchaus in ein Gerüst von Lebensregeln umwandeln. Vielleicht wäre das sogar ein sinnvoller Schritt, einer größeren Zahl Menschen den Zugang zum Tao zu öffnen. Zumal sich der Taoismus dank seiner liberalen Strukturen mit anderen Religionen eigentlich ganz gut verträgt - es gibt kein eifersüchtiges Gebot, das dem Gläubigen ,,Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" befiehlt. Ich habe mich im TAGundTAO über Jahre hinweg in der obigen Rubrik mit Laotses Lebenskunst beschäftigt und sie kommentiert. Jeder Leserin, jedem Leser standen diese Texte zur Verfügung. Sie bräuchten daraus - oder aus dem Original in der Übersetzung von Richard Wilhelm, die ich für die werkgetreuste halte - nur die für Ihre Sinnsuche relevanten Sätze herauszugreifen und sie Ihren vorhandenen Lebensmaximen hinzuzufügen. Nehmen Sie zum Beispiel den ersten Satz aus dem Spruch oben. Wer das große Urbild festhält, zu dem kommt die Welt. Als Gebot formuliert, würde der Text kategorischer, aber für viele Menschen möglicherweise leichter verständlich lauten: ,,Du sollst am großen Urbild festhalten!" (Wenn du nicht an ihm festhältst, kommt die Welt nicht zu dir. Und das wird dir Leid tun, denn dann bleibst du in deinem täglichen Fegefeuer des Sichsorgenmüssens samt der Qual deiner Ungewissheiten gefangen). Laotse fügt liebevoll die Verheißung des Segens hinzu: Sie kommt und wird nicht verletzt, in Ruhe, Gleichheit und Seligkeit.