An der Quelle des Tao 19


Tut ab die Heiligkeit, werft weg das Wissen,

 so wird das Volk hundertfach genesen. 

Tut ab die Sittlichkeit, werft weg die Pflicht, 

so wird das Volk zu Kindespflicht und Liebe zurückkehren. 

Tut ab die Geschicklichkeit, werft weg den Gewinn, 

so wird es Diebe und Räuber nicht mehr geben.

In diesen drei Stücken ist der schöne Schein nicht ausreichend. 

Darum sorgt dafür, dass die Menschen sich an etwas halten können. 

Zeigt Einfachheit, haltet die Lauterkeit fest. 

Mindert die Selbstsucht, verringert die Begierden. 

Gebt auf die Gelehrsamkeit, so werdet ihr frei von Sorgen. 


Laotses 19. Spruch könnte für das beginnende dritte Jahrtausend verfasst worden sein. Chuang tzu hat fünfhundert Jahre später mit Bezug auf den Text wütend gegen den Zustand der damaligen Zivilisation protestiert, gegen die Heuchelei, die Volksverdummung und die Kriminalität. Er zieht die Sicherheitssysteme gegen Diebe ins Lächerliche: 

Die Vorsichtsmaßnahmen, die man gegen Diebe trifft, die Truhen öffnen, Beutel durchsuchen und Kassen ausrauben, bestehen darin, dass man diese mit Stricken, Riegeln und Schlössern sichert. Das nennt die Welt dann Klugheit. Aber ein großer Dieb geht her und trägt den Kasten auf seinen Schultern fort, samt Kisten und Beuteln, und sucht mit ihnen das Weite. Seine einzige Sorge ist, dicke Stricke und Schlösser könnten nicht fest genug sein. Ist darum das, was die Welt Klugheit nennt, im Grunde nicht nur ein Aufbewahren für einen starken Dieb? Ich wage sogar zu behaupten, dass nichts von dem, was die Welt Klugheit heißt, etwas anderes ist, als ein Aufbewahren für große Diebe, und nichts von dem, was die Welt Gelehrten Wissen nennt, etwas anderes ist, als ein Aufstapeln für die Räuber. 


Es gibt im Tao te king kaum einen Text, der unmittelbarer auf den heutigen Zeitgeist zielt - und mitten ins Schwarze trifft! Tut ab die Heiligkeit ist richtig verstanden direkt an die Politiker und die Top Manager gerichtet, es fehlt nur eine Silbe vor dem Wort, nämlich Schein. Hört endlich mit eurer Scheinheiligkeit auf, dann wird es auch dem Volk besser gehen, passt doch ausgezeichnet als Satire



über den Geist der Oberschicht. Werft weg den Gewinn meint ebenfalls nicht, dass die Konzerne nichts mehr verdienen sollen, aber die Gnadenlosigkeit, mit der sie ihre Geschäfte betreiben und einem Sinn, für den menschliche Schicksale nichts weiter als Zahlen sind, rechtfertigt Laotses Kritik. Ohne die Manipulationen des Großkapitals gäbe es gewiss weniger Diebe und Räuber. Vielfach zwingt die absolute Not Menschen rein um des Überlebens willen zu kriminellen Taten. Chuang tzu lässt in seiner Protestschrift den Großen des Reiches die Hosen herunter. Klugheit und Gelehrten Wissen erleichtern sehr viel mehr den modernen Räubern ihr Handwerk, als dass sie dem Volk dienen. Das beginnt beim Warensortiment der Supermärkte. Ich war unlängst nach vielen Monaten wieder einmal in einem riesigen Hypermarkt, um dort ein paar spezielle Artikel zu suchen, die sonst nirgends angeboten werden, von denen ich mich aber erinnerte, dass dieser Laden sie einmal hatte. Aber nichts dergleichen. Die Marktleitung hatte gründlich analysiert und in den Regalen lagen nur noch jene Artikel, die man hier in Italien von Bozen bis Palermo in jedem Geschäft vorfindet, weil sie allgemein und viel gekauft werden. Selbst die kleinsten unrentablen oder wenig Gewinn bringenden Nischen werden ausgemerzt. Ähnlich verfährt man auch bei den Arbeitsplätzen. Eine Position, die dank eines Computerprogramms nur noch einen nicht ausgebildeten Bediener braucht, wird niemals mehr von einem Mann oder einer Frau besetzt werden, die in ihre Fachkenntnisse Jahre des Studiums investiert haben. 


Der schöne Schein reicht nicht aus, angesichts solcher Zustände, schreibt Laotse. Und in unseren Landen reicht er ebenfalls nicht mehr aus. Ja, man versucht heute noch nicht einmal mehr, so etwas wie einen Anschein von Menschlichkeit zu erwecken. Die beschwichtigen den Reden der Politiker sind so etwas von fadenscheinig, dass es weh tut. Die Nachrichten verkünden eine Erholung der Wirtschaft, fügen aber auf der Stelle hinzu, dass dabei nicht mit einer gleichzeitigen Sicherung der Arbeitsplätze zu rechnen ist. Ich muss Chuang tzu beipflichten: die Topmanager verhalten sich unbeschreiblich töricht. Nicht nur, dass sie in ihrer Überheblichkeit gewaltige Pleiten hinlegen und dann auf der Stelle nach staatlicher Hilfe schreien sie rationalisieren bei jeder Gelegenheit Arbeitsplätze weg, um sich dann hinterher lauthals zu beklagen, dass kaum noch jemand ihre Produkte kauft. Wie sollen die Menschen denn zum Beispiel Autos kaufen, wenn die Hersteller nur noch via Kurzarbeit 60 % des Lohnes herausrücken oder Existenzen zu hundert Prozent auf der Kippe stehen? Mindert die Selbstsucht, verringert die Begierden schlägt Laotse vor. Aber tut das einer von ihnen? Mitnichten. Je härter die Zeiten werden, desto unbarmherziger wird ihr Denken. Alan Watts vermerkt in den fünfziger Jahren bereits zum Thema: 


Der Komplex von Gesellschaften, die über riesige materielle Reichtümer verfügen und darauf erpicht sind, sich gegenseitig zu zerstören, ist alles andere als eine Vorbedingung für eine soziale Gesundheit. 


Unsere Gesellschaft, nicht nur vertreten durch ihre Medien, sondern auch durch unsere Philosophen und Neurowissenschaftler, versuchen uns eine Definition von geistiger Gesundheit zu servieren, die selber verrückt ist. Dem Menschen des Tao kann angesichts derartiger Zustände nur noch der Rat Laotses ans Herz gelegt werden: Gebt auf die Gelehrsamkeit, so werdet ihr frei von Sorgen. Damit ist nicht gemeint, wir sollen auf Wissen oder auf die Errungenschaften der Wissenschaften verzichten. Die Warnung richtet sich gegen die Pseudo-Gelehrten, die uns weismachen wollen, dass wir nur ihren Thesen folgen müssen, und alles wird gut werden. Diese Thesen sind aus einem Geist purer Selbstsucht geboren. Wer das erkennt und sich nicht täuschen lässt, gerät trotz der kritischen Zeiten auf die Gewinnerseite. Es gibt inmitten des wirtschaftlichen Chaos zahllose Nischen, in denen es sich ausgezeichnet und weitgehend frei von Sorgen leben lässt. Doch um eine solche Nische zu finden, müssen wir uns weigern, mit dem Strom zu schwimmen. Verweigern wir uns allen Versuchen der Manipulation. Dem Menschen des Tao steht auf dem Weg der in meinen Schriften viel erwähnten Beobachtung das Werkzeug für ein materiell und geistig abgesichertes Dasein zur Verfügung. Die Manipulatoren haben sich seit Laotses Zeiten kein bisschen geändert, aber auch die Chancen für einen wesenhaften Menschen sind seitdem nicht schlechter geworden.


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