An der Quelle des Tao 01


Das Tao, das sich aussprechen lässt,

 ist nicht das ewige Tao. 

Der Name, der sich nennen lässt, 

ist nicht der ewige Name. 

„Nichtsein“ nenne ich den Anfang von Himmel ,, und Erde. 

„Sein“ nenne ich die Mutter der Einzelwesen. Darum führt die Richtung auf das Nichtsein 

zum Schauen des wunderbaren Wesens, 

die Richtung auf das Sein 

zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten. Beides ist eins dem Ursprung nach 

und nur verschieden durch den Namen. 

In seiner Einheit heißt es das Geheimnis. 

Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis 

ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.



 Sie lesen hier Spruch Nummer eins, mit dem das Tao Te King beginnt. Eigentlich hätte Laotse es damit genug sein lassen können. Einer seiner damaligen Gegner machte einen Witz darüber und meinte, wenn Laotse vom Tao behaupte, es gäbe darüber nichts zu sagen, und jeder, der eine Aussage versuche, würde nur Falsches verkünden – wozu verfasste er dann einundachtzig Sprüche? Nun, wir haben einen großen Teil davon durchgenommen und verstehen inzwischen sehr wohl die Tiefe seiner Ausführungen. Für Chuang tzu war der Auftakt des Werkes ein wahres Sektfrühstück. Sein Kommentar ist zwar ebenfalls nichts anderes als eine sich empor windende Spirale verbaler Bekenntnisse des Nichtwissens, aber ich möchte sie Ihnen ihrer Originalität wegen nicht vorenthalten. Chuang tzu lässt erfundene Gestalten namens Äther, Unendlich, Tatenlos und Anfanglos über das Tao diskutieren: 


Äther fragte Unendlich: „Kennt Ihr das Tao?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Unendlich. Er fragte Tatenlos das gleiche, und Tatenlos erwiderte: „Ich kenne das Tao.“ „Also kennt Ihr das Tao. Könnt Ihr es näher bestimmen?“ „Gewiss. Ich weiß, dass das Tao hoch, niedrig, zusammengefasst oder zerstreut sein kann. Das sind einige Einzelheiten, die ich weiß.“ Äther berichtete Anfanglos von Tatenlos' Worten und fragte:" So sagt also Unendlich, dass er nichts wisse, und Tatenlos sagt, dass er wisse. Wer hat Recht? „Wer meint, er wisse nicht, ist tief. Wer meint, er wisse, ist seicht. Jener hat es mit der inneren Wirklichkeit zu tun, dieser mit der äußeren Erscheinung. Äther erhob das Haupt und seufzte: „Dann weiß einer, der nicht weiß, in Wirklichkeit doch, und einer der weiß, weiß in Wirklichkeit nicht. Wer kennt dieses Wissen ohne Wissen?" „Das Tao kann nicht gehört werden“, sagte Anfanglos, „was gehört werden kann, ist nicht das Tao. Das Tao kann nicht gesehen werden, was gesehen werden kann, ist nicht das Tao. Vom Tao kann nichts gesagt werden, was gesagt werden kann, ist nicht das Tao. Begreift Ihr das, was in allen sichtbaren Dingen unsichtbar ist? Das Tao sollte nicht genannt werden. Und Anfanglos sagte: „Wenn einer auf eine Frage über das Tao antwortet, kennt er das Tao nicht. Sogar wer über das Tao fragt, hat das Tao nicht gehört. Über das Tao kann nichts gefragt werden, und auf diese Frage gibt es keine Antwort. Über das zu fragen, über das nicht gefragt werden sollte, heißt zu weit gehen. Eine Frage beantworten, die nicht beantwortet werden sollte, heißt die innere Wirklichkeit nicht erkennen. Wenn also diejenigen, welche die innere Wirklichkeit nicht erkennen, versuchen, Fragen zu antworten, haben solche Leute weder das Wirken des Alls beobachtet, noch begreifen sie die letzte Quelle. Darum können sie das Kunlun-Gebirge nicht übersteigen und wandern im Reich der großen Leere.“


Laotse schließt seinen Spruch, indem er nochmals die Unerforschlichkeit des Tao, seine Einheit und das damit auf ewig verbundene Geheimnis aller Geheimnisse herausstellt. Nimmt man dem Text seine Poesie, dann sagt er nüchtern nichts anderes aus, als dass das Tao unerforschlich bleibt. Es scheint im Konzept der Schöpfung von vornherein nicht geplant zu sein, dass ein Sterblicher hinter das Geheimnis ihres Urhebers gelangt. Vielleicht, weil er sonst heraus- fände, dass die Geheimhaltung den Verursacher des Stattfindenden davor schützt, sich selbst als den Suchenden zu entlarven und damit einem nach unserem Empfinden unendlichen Rätsel den Reiz zu nehmen.

Es erhebt sich bei diesen Gedanken die Frage, was dieses Versteckspiel zwischen Schöpfer und Geschöpf für einen Sinn macht. Könnte es sein, dass es sich tatsächlich um den Entwurf eines kosmischen Spiels handelt, in dem der nicht personale Ursprung aller Dinge sich in Anonymität hüllt und sich, die eigenen Identität vergessend, als Mensch, als Geschöpf zur Wahrheit hindurch rätselt? Und sich bei diesem über gewaltige Zeiträume hinweg angelegten Spiel in unzähligen Theorien, Philosophien und ergo Nebenpfaden verliert, so dass Laotses tiefstes Geheimnis unentschlüsselt bleibt, ungreifbar, sobald jemand es zu fassen sucht? Dass der fundamentale Fehler in unserem Denken darin besteht, das Tao außerhalb unseres Bewusstseins zu suchen, eines Bewusstseins, dessen Fähigkeiten weit über die Funktionen hinausreichen, auf die wir es reduziert haben? Die unerforschte, unerforschbare Seite unseres Seins scheint genau jene Wesensmerkmale, die wir unmöglich entschlüsseln können, zu besitzen und zugleich zu vermissen. Chuang tzu kommentiert Laotses Zeilen auf seine an die Quantentheorie erinnernde, skurrile Art: Die Pforte zum Geheimnis allen Lebens. Wenn das Tao erscheint, kann man seine Wurzel nicht sehen; wenn es verschwindet, kann man seine konkreten Formen nicht sehen. Es besitzt Substanz, ist aber nicht räumlich begrenzt; es besitzt Länge, aber sein Ursprung kann nicht festgestellt werden. Da es sich kundgeben und dennoch ohne bestimmte Form verschwinden kann, muss es Substanz besitzen. Substanz besitzen und dennoch nicht begrenzt sein das ist Raum. Länge besitzen und dennoch ohne Quelle sein – das ist Zeit. So gibt es Leben und Tod, Werden und Vergehen. Werden und Ver- gehen, ohne seine Gestalt zu zeigen das ist die Pforte des Himmels. Die Pforte des Himmels bedeutet Nichtsein. Alle Dinge kommen aus dem Nichtsein

Sind wir nun Spielverderber, wenn wir uns zu intensiv mit der Ergründung des Tao befassen? Ich denke, das sind wir tatsächlich. Wer sich mit den Lehren des Taoismus beschäftigt, sollte als erstes zwei seiner wenigen Grundregeln zur Kenntnis nehmen und sie beherzigen: Wissen verhindert Erkenntnis. Mit den Dingen gehen, ohne Widerstand zu leisten, verwirklicht das Tao. Es gilt einzusehen, dass die wichtigsten Aspekte unserer Existenz trotz des heute erreichten Maximums an technischem Wissen und trotz mehrerer Jahrtausende philosophischen Forschens nach wie vor in Dunkel gehüllt sind. Die Wahrheit über unser Sein und Nichtsein hat noch immer keinen Namen, der mehr als ein Synonym für etwas ist, das menschlicher Verstand sich ausgedacht und über zahllose Generationen hinweg kultiviert hat. In Wirklichkeit sind die Schöpfergestalten der diversen Weltreligionen Phantasieprodukte, sie sind Resultate von Denken und Worten. Wir neigen dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, weil sie groß sind und durch Regeln auf unser Leben einwirken. Es fällt dem Menschen schwer zu erkennen, dass er Botschaften folgt, die zwar von mächtigen Organisationen repräsentiert werden, deren realer Gehalt sich aber bei kritischer Betrachtung auf Worte und die aus ihnen gebildeten Parolen reduziert. Der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach drückt es in diesem Sinne aus: 


Der Ursprung, ja das eigentliche Wesen der Religion ist der Wunsch. Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er auch keine Götter. Was der Mensch sein möchte, aber nicht ist, dazu macht er seinen Gott 


Das taoistische Denken trennt die Identität des Menschen nicht von seinem Leben. Objekt und Subjekt gehören zusammen. Und das Tao vereinigt beides. In der Begegnung mit unseren Mitmenschen reagieren wir im Allgemeinen so, als ob wir getrennt voneinander wären – und das ist richtig, denn es gehört gewiss zum Spiel des Lebens, dass wir die Subjektivität anderer Lebewesen als vorhanden respektieren. Zwischen unserem normalen Kommunikationsverhalten und dem tiefen Bedürfnis, unsere Abgetrenntheit zu überwinden, scheint eine Menge Konfliktstoff zu schlummern. Wir begegnen unseren Mitmenschen und jeglichem Ereignis im Alltag Verlauf auf einer Ebene des Getrenntseins, vielfach der Fremdheit, aber wer den Prinzipien des Tao folgt, weiß tief im Herzen, dass er zugleich dies alles selbst ist. Der Zwiespalt zwischen getrennt und vereint scheint zu unserem Leben zu gehören. Alan Watts unterstreicht in seinem Buch „Der Lauf des Wassers" ebenfalls den Umstand, dass das Gefühl, von den Dingen getrennt zu zum Konzept des Lebens gehört: 


Es soll betont werden, dass du grundsätzlich nicht den Dingen folgen kannst, ohne vorauszusetzen, dass es tatsächlich keine Alternative gibt, da du und die Dinge der gleiche Vorgang seid, das jetzt strömende Tao. Das Gefühl, dass es einen Unterschied gibt, ist ebenfalls Teil dieses Vorgangs. 


Unser Alltagsgefühl ist das Gefühl der Identität mit dem Grund, und es ist zugleich - das Gefühl unserer Getrenntheit von ihm. Wenn Sie den Ausführungen bis hierher gefolgt sind, haben Sie die Wurzel dieses speziellen Konfliktes bereits entdeckt: Er bildet sich zwangsläufig aus der Kombination des Geheimnisses, mit dem der Urgrund sich wie eine Nebelwand verhüllt, und der Einsicht, dennoch mit ihm identisch zu sein. Was zur Folge hat, dass wir um unsere Einheit mit dem Universum wissen und trotzdem tagtäglich der Notwendigkeit ausgesetzt sind, uns im regulären Leben so zu verhalten, als ob wir getrennt von unseren Mitmenschen wären. Wir sehen uns mit dem Paradox konfrontiert, uns eins mit den Dingen zu fühlen und zugleich im Umgang mit ihnen ihre Individualität zu respektieren. 


Hier setzen die Schwierigkeiten mit unserer Überzeugung ein, man müsse sich für Entweder oder für Oder entscheiden. Die Vorstellung einer Lebenslinie, in der sich scheinbar unvereinbare Gegensätze in Harmonie miteinander befinden, liegt außerhalb der Fähigkeit unseres Denkens. Chuang tzu hätte sicher auch in unseren Zeiten keine Probleme damit. Für ihn wäre die Polarität von Ge- trennt und Eins nichts weiter als die Würze, das Spannungselement des Schöpfungsprozesses. Beim Lesen von Chuang tzus Sprüchen fällt uns auf, wie skurril sie zum Teil erscheinen. Doch einmal Hand aufs Herz: Ist nicht unser orthodoxes, unflexibles Verhalten, unser Unvermögen, Yin und Yang in Harmonie zueinander zu bringen, ein Stückchen skurriler als die gewundenen Gedankengänge eines Chuang tzu? Was wir für absonderlich halten, ist die Versöhnung der Gegensätze, es ist ein Wesensmerkmal der Weisheit des Tao. Erst im Zustand liberaler Unentschiedenheit kann es gelingen, das Leben, das aus dem Urgrund strömt, in vollen Zügen zur Auswirkung kommen zu lassen. Und wie, liebe Leserin, lieber Leser soll dies geschehen? Kurzum, indem Sie beides sind vereint und getrennt. Sobald Sie nichts mehr in Sachen Nichtunterscheiden unternehmen und die Existenz so kontroverser Gefühle einfach als unserer Natur und dem geheimnisvollen Urgrund zugehörig akzeptieren, tritt Frieden ein. Mit dem freiwilligen Verzicht auf Ihre zwanghaft betriebene Subjektivität lösen sich die Konflikte auf.


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