Das Lied des Narren
Phönix! Phönix! Täglich wird es trüber,
Zukunft will nicht kommen, alles ist vorüber.
Hat die Welt Tao, der Heilige wirkt.
Fehlt der Welt Tao, der Heilige sich birgt.
Heutigen Tags ist alles verwirkt.
Glück ist so federleicht, nie wird’s gefangen.
Unglück so erdenschwer, nie wird’s umgangen.
Niemals, Niemals, teile dich mit.
Gefährlich, gefährlich ist jeder Schritt.
Dornen, Dornen, hemmt nicht den Lauf.
Irren, Wirren, haltet nicht auf.
Der Baum auf dem Berg beraubt sich selbst. Das Öl in der Lampe verzehrt sich selbst. Der Zimtbaum ist essbar, drum wird er gefällt. Der Lackbaum ist nützlich, drum wird er zerspellt. Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein, und niemand weiß, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein.
Das Gedicht und der Text darunter stammen von Chuang-tzu. Ich habe ihn seiner Überschrift wegen ausgewählt, weil neben dem Jahresbeginn auch der Karneval noch in den Zeitrahmen dieses Heftes fällt. Ich möchte mich heute ein wenig über Narren und Närrisch sein mit Ihnen unterhalten. Wie kommt es, dass ansonsten ernsthafte Menschen in einen vorgegebenen Zeitrahmen plötzlich anfangen, sich wie Narren zu benehmen? Wo selbst sparsame Leute wochenlang für Feste Beträge ausgeben, die sie sich gar nicht leisten können? Jene Zeit, in der in Büttenreden und bei Umzügen die Politiker gründlich karikiert und kritisiert werden, scheint selbst in unserem demokratischen Milieu die einzige Phase zu sein, in der die Leute richtig den Mund aufmachen, weil sie Narrenfreiheit genießen. Die Masse darf sich einige Wochen lang frei von allen schädlichen Hemmungen gehen lassen und obendrein wie der einstige Hofnarr benehmen, der als einziger Kritik an seinem Herzog oder König wagen durfte. Da gibt es ja diese berühmte Geschichte von dem Hofnarren, der seine Narrenfreiheit überzog und das Maul zu weit aufgerissen hatte. Er wurde zum Tode verurteilt, aber der König gebot dem Henker heimlich, das Urteil nur scheinbar zu vollstrecken und statt des Schwertes mit einer Salami zuzuschlagen. Der grobe Scherz endete trotzdem tragisch, denn der Delinquent hatte sich so intensiv und endgültig aufgegeben, dass er nach der Berührung mit der Hartwurst auf der Stelle tot war!
Die närrischen Tage öffnen für viele Menschen das Ventil, damit sie sich vom aufgestauten Druck ihrer Emotionen befreien können. Ein ähnliches Phänomen begegnet uns, wenn die Gefühle einer chancenlosen jungen Generation überkochen und sich in Gestalt von brennenden Autos, zerstörten Schaufenstern und verletzten Polizisten oder der Randale nach Fußballspielen entladen. Irgendwie weht die Menschen ein Hauch von falsch verstandener Freiheit an, eben jenem Gefühl des Narren, für eine kurze Zeit frei von allen Einschränkungen dem Druck von innen nachgeben zu dürfen. Bis zu einem gewissen Grad dulden die Gesetze unserer Gesellschaft närrisches Verhalten, selbst für kriminelle Taten gibt es Nachsicht bei nachgewiesener Unzurechnungsfähigkeit. Allerdings wird zum Beispiel der Beleidigungsparagraph heute auch dort noch angewandt, wo jemand über einen anderen die Wahrheit sagt. Obgleich der Menschenrechtskonvent der Europäischen Gemeinschaft festgelegt hat, dass keine Aussagen über andere Personen als üble Nachrede verfolgt werden dürfen, wenn es sich um Tatsachen handelt. Es ist schon eine seltsame Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit als Grundrecht zwar verkündet wird – aber wehe dem, der Gebrauch davon macht.
Unabhängig von der Jahreszeit hat Närrischsein viele Gesichter. Der Volksmund hat bündelweise Sprichwörter darüber geprägt und bei unseren privaten Narrenstreichen hängt das Urteil von der Person ab, die es fällt, und welche Parameter angelegt werden. Ich habe mir in meinem Leben etliche Narrenstreiche geleistet, aber ich gebe meine Fehler zu – und vor allem: ich gebe keiner anderen Person als mir die Schuld daran. Einen Spruch muss ich in dem Zusammenhang nun doch loswerden: Die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen, die beim Irrtum beharren, das sind die Narren. Eigentlich ist so ein Satz auch nur blabla…., wenn keine echte Einsicht dahinter steht, keine Bereitschaft, zu eigenen Fehlern Stellung zu nehmen, ein selbstkritisches Urteil zu fällen. Dann ist ein so weise abgefasster Text auch wieder nur ein Alibi für selbstgefällige Leute. Ich kenne in der Tat etliche Zeitgenossen, die steif und fest behaupten, sie würden zwar ständig irgendwelche Fehler machen, aber die bräuchten sie, um zur Wahrheit vorzudringen. Wenn mir jemand so etwas ins Gesicht sagt, mache ich von meinem Recht der freien Meinungsäußerung trotz fraglicher Rechtslage Gebraucht und empfehle der betreffenden Person, es an Stelle der endlosen Rechtfertigungen einfach einmal mit Erwachsenwerden zu versuchen.
Ich werde mich hüten, Sie danach zu fragen, wie närrisch es in Ihrem Leben schon zugegangen ist – oder gar noch zugeht. Die alten Taoisten waren auf ihre Art ja auch so etwas wie Spinner. Der Dichter Han Shan soll sich oft betrunken haben. Er traf mit einer Bambusröhre unterm Arm im Kloster ein und ließ sie mit Essen füllen, das er dann zurück auf seinen Berg schleppte. Angeblich soll er seine wilde Haartracht in Tusche getaucht haben, den Kopf über einem Bogen Papier oder was es damals als Unterlage gab geschüttelt haben – und aus den schwarzen Flecken dann das Bild einer wunderschönen Landschaft gezeichnet haben. Aber der Taoismus ist in der Alltagspraxis nüchterner geworden als in jener Hippie-ähnlichen Phase nach der Fusion mit dem Zen. Im Fasching fällt ein bisschen närrisch nicht auf, ein bisschen närrisch bei einer Verhandlung um einen Baukredit dagegen sehr.
Das Lied des Narren werde ich nicht auszulegen versuchen. Es gleicht einem Rorschach-Klecks, und in dieser Funktion möchte ich es Ihnen überlassen, was die Strophen Ihnen sagen. Lassen Sie die Worte auf sich einwirken, fühlen Sie ihnen nach und warten Sie ab, ob und was an Einsicht sich in Ihrem Gemüt einstellt. In Chuang-tzus kurzem Kommentar verbirgt sich ein zweites Gedicht. Wenn man es in Verse gliedert, entsteht ein anderes Bild als im Fließtext:
Der Baum auf dem Berg beraubt sich selbst.
Das Öl in der Lampe verzehrt sich selbst.
Der Zimtbaum ist essbar, drum wird er gefällt.
Der Lackbaum ist nützlich, drum wird er zerspellt.
Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein,
und niemand weiß,
wie nützlich es ist,
nutzlos zu sein.
Zum Abschluss von unseren närrischen Betrachtungen möchte ich Ihnen die hervorgehobenen letzten drei Zeilen von Chuang tzus Kommentar ans Herz legen. Die Metaphern vom Sinn und Wert der Nutzlosigkeit treten in seinen Schriften überaus häufig auf. Er selbst hat einst, soweit die Geschichte uns dies überliefert, nachdrücklich dafür gesorgt, dass er allem Ansehen zum Trotz am Schluss von höheren Stellen als nicht für ihre Zwecke verwendungsfähig angesehen wurde und er damit seine Ruhe hatte. Könnten wir ihn heute fragen, ob er sich für einen Weisen oder für einen Narren hielte – was glauben Sie, würde er antworten? Für Ihren Weg durch das neue Jahr, ja das ganze Jahrzehnt möchte ich Ihnen die tiefe Weisheit einer bedingten Nutzlosigkeit mitgeben: Ein Mensch des Tao muss kein Narr und auch kein Weiser sein. Es genügt, wenn er sein altes Selbst als nutzlos für den WEG einstuft. Damit schafft er Raum für dieses andere, umfassende Selbst – und das schlicht nützlich zu nennen, käme wirklich einer Beleidigung des Tao gleich.