Zusatzmöglichkeit: TBG (Temporäre Begleitgebärden)
In Bezug auf die VVT-Praxis ist auch noch festzuhalten, dass sich die Unterstützung der Lautsprachentwicklung durch VVT gut auch mit dem Einsatz von Temporären Begleitgebärden (TBG) kombinieren lässt. Die simultane Präsentation von Begleitgebärden und Lautsprache kann die Lautsprache mitanregen, wobei dann die Begleitgebärden allmählich weggelassen werden können und nur noch die Lautsprache verwendet werden kann.[1] Die Unterstützung durch TBG kann eigentlich auch als eine Form des Visuell-Verbalen Transfers angesehen werden. Im Gegensatz zu VVT – wo die visuelle Unterstützung während des Spielens zum Einsatz kommt – kann TBG nicht nur während der Spiele, sondern auch während des ganzen Tages (aber nur solange wie nötig) eingesetzt werden. In diesem Abschnitt wird diese zusätzliche Fördermöglichkeit, die sich, wie gesagt, sehr gut mit dem Einsatz von VVT kombinieren lässt, kurz beschrieben. Ansonsten wird auf dieser Website aber nur noch spezifisch auf VVT eingegangen.
Der Aufbau der Begleitgebärden und der Lautsprache und der darauf folgende Abbau der Begleitgebärden, wie er für den Einsatz von TBG typisch ist, ist ein Prozess, der in sieben Stufen beschrieben werden kann.[2] Diese Schritte werden im Folgenden erläutert. Zudem sind die sieben Stufen in einer Tabelle schematisch zusammengefasst:
L bedeutet Lautsprache; G bedeutet Gebärden; G = L bedeutet gleich viel Gebärden wie lautsprachliche Wörter; G < L bedeutet weniger Gebärden als lautsprachliche Wörter etc.
Stufe 1. Ausser in spezifischen rein auditiven Situationen und Interaktionen versuchen die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut am Anfang die Lautsprache so viel als möglich mit Gebärden zu begleiten. Sollte das Kind am Anfang schneller auf Gebärden als auf Lautsprache reagieren, wird das Kind dann zuerst passiv Gebärden verstehen, aber noch nicht in der Lage sein, diese aktiv zu verwenden.
Stufe 2. Die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut begleiten weiterhin möglichst viele Wörter mit Gebärden. Das Kind beginnt nun auch, erste Wörter in der Lautsprache passiv zu verstehen (rein auditiv oder auditiv-visuell). Gesamthaft versteht es aber passiv immer noch mehr Gebärden als lautsprachliche Wörter. Im aktiven Sprachgebrauch des Kindes treten die ersten spontan verwendeten Gebärden auf.
Stufe 3. Die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut begleiten immer noch möglichst viele Wörter mit Gebärden. Das Kind versteht auch weiterhin passiv mehr Gebärden als lautsprachliche Wörter. Doch nun beginnt das Kind auch die ersten Wörter zu artikulieren. Dieser aktive Gebrauch von ersten lautsprachlichen Wörtern ist in diesem Stadium noch kleiner als der aktive Gebrauch von Gebärden.
Stufe 4. Die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut beginnen allmählich damit, nicht mehr alle lautsprachlichen Wörter mit Gebärden zu begleiten, und zwar wird man diejenigen Wörter nicht mehr länger mit Gebärden begleiten, von denen man sicher weiss, dass diese das Kind gut rein auditiv verstehen und/oder ablesen kann (oder diese Wörter auch schon spricht). Da nun nicht mehr alle lautsprachlichen Wörter mit Gebärden begleitet werden, lernt das Kind ganz allmählich passiv mehr lautsprachliche Wörter als Gebärden zu verstehen. Obwohl auch der aktive Gebrauch von lautsprachlichen Wörtern ansteigt, bleibt der aktive Gebrauch von Gebärden vorderhand stärker.
Stufe 5. Die wachsende Lautsprachkompetenz des Kindes macht es den Eltern und der Therapeutin/dem Therapeuten möglich, allmählich immer weniger lautsprachliche Wörter mit Gebärden zu begleiten. So wird das Kind auch passiv immer mehr lautsprachliche Wörter verstehen. Im aktiven Gebrauch erreicht das Kind schliesslich den Punkt, wo der lautsprachliche und der manuelle Wortschatz gleich gross werden. Mit anderen Worten: das Kind erreicht den Punkt, wo es alle Gebärden auch mit lautsprachlichen Wörtern begleiten kann.
Stufe 6. Die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut sind an dem Punkt angelangt, wo sie keine Begleitgebärden mehr verwenden. Das Kind kann dementsprechend auch die lautsprachlichen Wörter (rein auditiv und/oder auditiv-visuell) ohne Gebärden verstehen, bei denen es vorher noch die Hilfe von Gebärden benötigte. Überprüft man in dieser Phase das passive Gebärdenverständnis, ist dieses zwar noch vorhanden, wird aber immer kleiner. Der aktive Gebrauch der Gebärden ist in dieser Phase erstmals kleiner als derjenige der Lautsprache. Das heisst, die Begleitgebärden beginnen langsam geringer zu werden.
Stufe 7. Durch die ständige Kommunikation in Lautsprache hört das Kind allmählich auf, überhaupt noch irgendwelche lautsprachlichen Wörter mit Gebärden zu begleiten. Dies geschieht durch das Kommunikationsverhalten der Eltern und der Therapeutin/des Therapeuten "von selbst", das heisst vom Kind aus und ohne jeglichen Druck. Auch das passive Gebärdenverständnis geht dann allmählich verloren.
Bei hörbeeinträchtigten – vor allem bei resthörigen, gehörlosen, Cochlea-Implantat-versorgten und (zumindest) auch bei hochgradig schwerhörigen – Kindern wirft der vollständige Abbau von Gebärden ethische Fragen auf. Denn wenn die Gebärden dann einmal verschwunden sind, muss mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass das hörbeeinträchtigte Kind durch den Verlust der Gebärden nie einen Freiraum (bestimmte Zeiten im Alltag) hat, in dem es sich sprachlich im gleichen Umfang entfalten kann, wie das hörende Kinder unter sich tun können. Zum Beispiel ist es unwahrscheinlich, dass das hörbeeinträchtigte Kind sich in ein grösseres unstrukturiertes Gruppengespräch, in dem viele Stimmen durcheinander sprechen und Sprecherwechsel schnell erfolgen, wird integrieren können. Und es ist höchst wahrscheinlich, dass ein ständiges Ausgeschlossensein von solchen Gruppengesprächs-Entfaltungsmöglichkeiten ein schmerzliches Erlebnis ist. Mögliche Probleme, die dabei auftauchen, sind: Verlieren des Gesprächszusammenhangs, Ausgeschlossensein, Erschöpfungszustände und zu grosse emotionale Belastungen. Wenn das gebärdenkundige Kind hingegen zusätzlich zur Lautsprache einen Entfaltungsraum in der Gebärdensprache hat (z.B. eine Gebärdensprach-Spielgruppe), dann werden diese Probleme in diesem Freiraum nicht vorhanden sein. [3]
Will man nun aus solchen Gründen für das Kind trotz eines TBG-Einsatzes die Möglichkeit der Gebärdenkommunikation erhalten, kann man die Stufen 6 und 7 von TBG folgendermassen erweitern:
Spätestens wenn die Eltern und die Therapeutin/der Therapeut keine Begleitgebärden mehr verwenden, wird dem Kind eine Gebärdensprachnische (mindestens zwei Stunden pro Woche) gegeben (Stufe 6): das heisst, ein Ort, wo keine Begleitgebärden verwendet werden, sondern ausschliesslich die Gebärdensprache der Gehörlosengemeinschaft. Im lautsprachlichen Entfaltungsraum, der mit der Zeit auch immer mehr ausserfamiliäre Kontaktmöglichkeiten beinhaltet, wird durch das nicht weitere Verwenden der Begleitgebärden durch die Eltern auch die Lautsprache des Kindes immer weniger von Gebärden begleitet, so dass das Kind sich in dieser Umgebung schliesslich nur noch lautsprachlich unterhalten wird (lautsprachliche Stufe 7). Im neuen Entfaltungsraum mit ausschliesslich Gebärdensprache wird hingegen das Begleitsprechen allmählich abnehmen und der Gebärdenausdruck sich allmählich dem der Gebärdensprache anpassen (gebärdensprachliche Stufe 7). [4]
[1] Die Aussage, dass die simultane Präsentation von Gebärden und Lautsprache die Lautsprache mit anregt, ist nicht unumstritten. Ich habe aber anderswo viele klinisch festgehaltene Spracherwerbsbeobachtungen aufgeführt, die diese Aussage unterstützen. Siehe Stocker, Kurt (2002). Spracherwerb beim hörgeschädigten Kind: Cochlea-Implantat, Gebärden und Frühstschriftsprache. Luzern: Edition SZH (Reihe „ISP-Universität Zürich“, Bd. 7). Siehe vor allem Teil III der Arbeit.
[2] Der vorübergehende Einsatz von Gebärden ist eine alte methodische Idee, die z.B. bereits im 18. Jahrhundert vertreten wurde. Dass ein solcher Einsatz aber in sieben systematischen Schritten vorgenommen wird, beruht auf neueren Erfahrungen einer japanischen ORL-Klinik (Notoya, Masako; Tedoriya, Hiromi; Suzuki, Shigetada; Furukawa, Mitsuru 1992. Development of communication strategy in children with severe hearing impairment. The Japan Journal of Logopedics and Phoniatrics 33 (3), 265–271 [japanischer Artikel mit englischem Abstract]).
[3] Genauer auf die ethische Problematik eines Gebärdenverzichts hier einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Interessierte verweise ich auf meine unter Fussnote 1 schon erwähnte Arbeit, in der diese Thematik in Teil III ausführlich diskutiert wird.
[4] Für Näheres siehe auch meine bereits in Fussnote 1 erwähnte Arbeit (vor allem Abschnitte 8.7 und 8.8).